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Titel: Zehn Jahre “Marienhof”-Skandal: Neoliberalismus in deutschen Fernsehserien
Datum: 17. September 2015 um 9:07 Uhr
Rubrik: INSM, Medien und Medienanalyse, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Jens Berger
Vor genau zehn Jahren, am 17. September 2005, wurde bekannt, dass die “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft” (INSM) so genannte “Themenplacements” in der ARD-Serie “Marienhof” gekauft hatte. Gegen Geld wurden in mehreren Fällen Dialoge entsprechend der neoliberalen Vorstellungen und Forderungen der INSM gestaltet. Ein Rückblick von Patrick Schreiner[*].
Das Jahrfünft der absoluten neoliberalen Dominanz
Die frühen 2000er Jahre erscheinen heute in gewisser Hinsicht wie eine andere Zeit. Nach mittlerweile acht Jahren Finanz- und Wirtschaftskrise erscheint manches, was damals normal war, heute nur noch lächerlich. Es war die Zeit der Agenda 2010, die Zeit des Leipziger Programms der CDU, die Zeit der Finanzmarkt-Expansion und die Zeit der Patriotismus-trunkenen Vorfreude auf die Fußball-WM 2006 im eigenen Land. Es war die Zeit, in der Arbeitslose einerseits in “Kunden” umbenannt, andererseits noch schärferen Repressionen ausgesetzt wurden. Es war die Zeit von Sabine Christiansen, Wolfgang Clement, Gerhard Schröder, Friedrich Merz und Oswald Metzger. Und es war die Zeit, in der neoliberale “Reforminitiativen” wie “Du bist Deutschland” oder offensichtliche neoliberale Lobbyorganisationen wie die “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft” in Medien, Politik und Öffentlichkeit als akzeptabel und seriös galten.
Die INSM wurde im Jahr 2000 vom Metall-Arbeitgeberverband gegründet, bis heute wird sie finanziell von Arbeitgeberverbänden getragen. Sie versteht sich nach eigener Aussage als Organisation, die sich “für fairen Wettbewerb, unternehmerische Freiheit, sozialen Ausgleich, Chancengerechtigkeit und eine verantwortungsvolle, generationengerechte Politik” einsetzt. Faktisch vertritt sie die Interessen ihrer Geldgeber: Sie fordert niedrigere Sozialleistungen und Lohnzurückhaltung, Privatisierungen und Deregulierungen, Steuersenkungen und eine an den Wünschen der Unternehmen orientierte Bildungspolitik ein. Zu ihrer Strategie gehört es, öffentlich bekannte Persönlichkeiten für sich sprechen zu lassen – als so genannte INSM-“Botschafter”. Dies sind etwa Mainstream-Wissenschaftler, Unternehmer, vor allem in den ersten Jahren aber durchaus auch prominente Schauspieler, Sportstars und Politiker aller Parteien (mit Ausnahme der Linkspartei bzw. PDS). Auch durch vermeintlich wissenschaftliche Studien, die die INSM bei ihr nahestehenden Einrichtungen oder ihren Botschaftern in Auftrag gibt, setzt sie erfolgreich ihre Themen.
Im Jahrfünft der absoluten neoliberalen Dominanz zwischen 2000 und 2005 spielte die INSM in Öffentlichkeit, Medien und Politik eine enorme Rolle: Ihre “Botschafter” traten reihenweise in TV-Talkshows auf, wurden von Zeitungen als vermeintlich seriöse Experten interviewt, von Politikern als vermeintlich neutrale Ratgeber herangezogen (wenn sie nicht gar selbst Politiker waren). Ihre tendenziösen Studien galten als zitierfähig. Diese absolut dominante Position im öffentlichen und politischen Diskurs hat die INSM mittlerweile zumindest teilweise eingebüßt, wozu auch die Geschehnisse rund um die Seifenoper “Marienhof” beigetragen haben mögen.
“Marienhof”-Skandal
Am 17. September 2005 berichtete “epd medien” über acht Fälle von so genannten “Themenplacements” in der ARD-Serie “Marienhof”, die von der INSM gekauft wurden. (Andere Quellen sprechen von sieben Fällen.) Vermittelt wurde der Deal über die Münchner H.+S. Unternehmensberatung. Insgesamt hat die INSM 58.670,14 Euro an die Produktionsfirma Bavaria Sonor gezahlt, die diese “Seifenoper” für die ARD produzierte. Für das Geld wurden Seriendialoge im INSM-eigenen – neoliberalen – Sinne gestaltet und damit entsprechende politische Inhalte vermittelt.
Obwohl die INSM nach Bekanntwerden der Themenplacements zunächst versuchte, ein eigennütziges politisches Anliegen hinter ihren Schleichwerbungs-Aktivitäten zu leugnen (s.u.), war ein solches doch deutlich erkennbar. Die “Marienhof”-Dialoge vermittelten unmissverständlich und unmittelbar neoliberale Arbeitgeber-Positionen. Die lobbykritische Organisation LobbyControl hat schon wenige Tage nach Veröffentlichung des epd-Artikels die betreffenden Stellen analysiert [PDF – 73,4 KB]. Ihre Schlussfolgerung:
Die Analyse weiterer Aktivitäten der Initiative 2002 und danach zeigt, dass die in Marienhof platzierten Themen politische Botschaften transportieren und Themen fortführen, die die INSM auch mit anderen Kommunikationsinstrumenten beworben hat. Die Analyse macht deutlich, dass die Schleichwerbung im Marienhof keine neutrale Information war, sondern klar in die Arbeitgeber-PR der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft eingebunden war.
Es waren im Wesentlichen drei Zielstellungen, die sich in den “Marienhof”-Dialogen erkennen lassen: Leiharbeit als normales und positives Arbeitsverhältnis darzustellen, Unternehmen und unternehmerischem Denken in der Schule breiteren Raum zu verschaffen und Steuern und Abgaben als zu hoch zu verunglimpfen.
Die “Marienhof”-Schleichwerbung war sicherlich der öffentlichkeitswirksamste, aber keineswegs der einzige Verstoß der INSM gegen Regeln und Anstand im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. So unterstützte sie 2002 drei dokumentarische Filme des Journalisten Günter Ederer, die 2003 in der ARD ausgestrahlt wurden. Die Titel der Filme bedürfen wohl keiner weiteren Erläuterung: “Das Märchen von der gerechten Steuer”, “Das Märchen von der sicheren Rente” und “Das Märchen vom blühenden Arbeitsmarkt”.
Es war dem Journalisten Volker Lilienthal zu verdanken, dass beide Skandale – “Marienhof” und “Ederer” – aufgedeckt werden konnten. Zumindest im Fall “Marienhof” sah er sich dabei schon kurz nach Beginn seiner Recherche massiver Repression der Gegenseite ausgesetzt:
Im Mai 2003 erwirkte die Münchner Schleichwerbe-Agentur H. + S. eine einstweilige Verfügung gegen mich und klagte später auch auf Unterlassung der Recherche. Erst Anfang 2005 wies das Oberlandesgericht München alle Ansprüche gegen mich zurück. In der Zwischenzeit durfte ich nicht frei recherchieren.
Lilienthal recherchierte weiter, er veröffentlichte seinen Artikel – und einer der größten Skandale der deutschen Mediengeschichte zog seine Kreise. Medien und Öffentlichkeit wurden aufmerksam und berichteten. Der “Deutsche Rat für Public Relations” sprach eine “Ratsrüge” gegen die INSM aus. Die ARD sah sich gezwungen, ihre internen Prozesse und Regularien anzupassen.
Die INSM selbst versuchte zunächst noch, ihr Agieren zu rechtfertigen. Gegenüber LobbyControl äußerte sie, es sei lediglich um die Vermittlung von Grundkenntnissen gegangen. Die Themenwahl sei ideologiefrei gewesen. Nicht zu Unrecht konnte die INSM dabei darauf verweisen, dass die in “Marienhof” vermittelten Informationen sowohl von der damaligen (rot-grünen) Bundesregierung als auch der damaligen (schwarz-gelben) Opposition vertreten worden seien.
Wenngleich die INSM sich in späteren Stellungnahmen defensiver zeigte, ist doch festzuhalten: Ihre Hoffnung, die neoliberalen “Marienhof”-Inhalte würden gemeinhin als objektiv und neutral angesehen, war damals nicht unbegründet. Im Jahrfünft der absoluten neoliberalen Dominanz waren Dinge denkbar und sagbar, die es heute in dieser Form und in dieser Radikalität sicherlich nicht mehr sind. Letzteres mag – neben dem offensichtlichen Scheitern des Neoliberalismus in und mit der aktuellen Krise – ein Stück weit auch dem “Marienhof”-Skandal zu verdanken sein.
Neoliberalismus in TV-Serien – weitere Beispiele
Womit allerdings keineswegs behauptet werden soll, dass der Neoliberalismus verschwunden wäre. Es ist noch heute die dominierende politische Ideologie, wie sich etwa an “Schuldenbremse” und Fiskalpakt, an der Austeritätspolitik in Griechenland oder an der deutschen und europäischen Bildungspolitik zeigt. Nach wie vor sitzen Neoliberale an den entscheidenden Schaltstellen in Parteien und Behörden, Medien und Hochschulen. Und auch in erzählerischen Fernseh-Formaten hat er nach wie vor seinen Platz: Serienfiguren werden dort nach wie vor regelmäßig als Menschen beschrieben, die sich den Anforderungen einer neoliberalen Gesellschaft stellen müssen und wollen; diese Anforderungen erscheinen damit als normal und richtig. Dies soll abschließend an drei Beispielen kurz aufgezeigt werden soll:
Diese Beispiele zeigen: Vom Ende des Neoliberalismus in TV-Serien kann auch zehn Jahre nach dem “Marienhof”-Skandal und acht Jahre nach Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht die Rede sein.
[«*] Patrick Schreiner lebt und arbeitet als hauptamtlicher Gewerkschafter in Hannover. Er schreibt regelmäßig für die NachDenkSeiten zu wirtschafts-, sozial- und verteilungspolitischen Themen.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=27588