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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Stoibers amtliche Panikmache
Datum: 27. Januar 2004 um 14:38 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Manipulation des Monats, Wettbewerbsfähigkeit
Verantwortlich: Albrecht Müller
50.000 Arbeitsplätze wandern monatlich aus Deutschland ab, so der bayerische Ministerpräsident auf seinem Neujahrsempfang am 1.1.04 wie zuvor auch schon in der Fernsehsendung „Berlin Mitte“. Belegen kann Stoiber diese Zahl nicht. Sie ist offenbar frei erfunden und Teil einer Kampagne gegen die rot-grüne Regierung, wobei die Betreiber dieser Kampagne wohl ohne Zögern mit einkalkulieren, den Ruf des Standorts Deutschland weiter zu beschädigen.
Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber hat in der Fernsehsendung „Berlin Mitte“ vom 18. Dezember 2003 und dann noch einmal bei seinem Neujahrsempfang dramatisch darauf hingewiesen, aus Deutschland würden im Monat 50.000 Arbeitsplätze ins Ausland verlagert, aufs Jahr gerechnet 600.000. Weil dies ein ernstes Problem ist und in der Tat Betriebe und Betriebsteile immer wieder in verschiedene Teile der Welt verlagert werden, wollte ich genaues wissen. Von der bayerische Staatskanzlei wollte ich wissen, auf welche Quellen sich Ministerpräsident Stoiber stützt und ob die genannte Zahl brutto oder netto gemeint ist, ob also monatlich 50.000 Arbeitsplätze abwandern und eine von Stoiber nicht genannte Zahl von Arbeitsplätzen hierher nach Deutschland verlagert wird. Oder ob diese Zuwanderung bei der genannten Zahl von 50.000 schon gegengerechnet ist. Dann wäre die Zahl von 50.000 in der Tat dramatisch.
Ich habe bisher weder von der bayerischen Staatskanzlei noch vom bayerischen Wirtschaftsministerium, an das ich weiter verwiesen worden war, irgend eine Auskunft bekommen.
Nach dieser Null-Auskunft habe ich versucht, beim Berliner Bundeswirtschaftsministerium Daten zu erfahren. Dort hieß es, man „habe leider keine Daten über Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland und zurück.“ Dieser Auskunft glaube ich, aber ich wundere mich darüber, mit welcher Leichtfertigkeit ein Ministerpräsident mit diesem ernsten Thema und mit den Sorgen vieler Menschen spielt, und mit welcher Dreistigkeit er konkrete Zahlen nennt, ohne Belege dafür zu haben.
Bei weiteren Recherchen bin ich dann auf Einschätzungen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) vom Mai vergangenen Jahres gestoßen. Nach diesen Einschätzungen gehen jährlich (nicht monatlich) 50.000 Arbeitsplätze durch Produktionsverlagerungen verloren. Nach dieser Einschätzung also 50.000 statt der von Stoiber genannten 600.000 im Jahr. Danach hätte Stoiber glatt die Unwahrheit gesagt – um Panik verbreiten zu können oder auch nur aus Wichtigtuerei.
Die Panikmache von Herrn Stoiber ist unverantwortlich, weil es einerseits keinen Grund für diese Art von Dramatisierung gibt und andererseits diese Panikmache unser Problem verschärft, statt es zu entschärfen. Denn auch Unternehmer und Unternehmensleitungen sind bei ihren Investitionsentscheidungen von Stimmungen abhängig. Wenn als unmodern oder als unfähig zur richtigen Kostenrechnung und zur Wahrnehmung von Steuervorteilen erscheint, wer Arbeitsplätze nicht verlagert, dann wird mit wiederkehrenden Äußerungen vom Typ Stoiber die Neigung zur Verlagerung erhöht. Diese Vermutung wird durch Erfahrungen und durch Untersuchungen bestätigt. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gab es einen richtigen Abwanderungsboom, der offenbar auch von Stimmungen gespeist war. “Wir beobachten … einen deutlichen Strom von Rückenkehrern nach Deutschland. Während vor sechs Jahren lediglich eine Rückkehr auf 6,5 auswandernde Unternehmen kam, beläuft sich das Verhältnis nunmehr auf eins zu drei “, stellt der mit dem Thema Verlagerung befasste Wissenschaftler des Fraunhofer Institut (ISI) in Karlsruhe nach einer Befragung von Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes, die im letzten Jahr veröffentlicht wurde, fest. Erstmals seit 1995 sei ein Rückgang der Produktionsverlagerung zu verzeichnen. Bei Großbetrieben komme auf jeden zweiten Verlagerer heute schon ein Rückverlagerer.
Die Karlsruher Wissenschaftler warnen die Unternehmen davor, die so genannten Overhead-Kosten – also z.B. die Kosten der Sprachunterschiede, der Organisation der Verlagerung und der Arbeitsteilung mit einem Betriebsteil im Ausland – zu unterschätzen. Und sie raten dringend dazu, auch eine Prognose über die Kostenentwicklung im Land zu machen, wohin man verlagern will. Oftmals, so der Karlsruher Wissenschaftler Kinkel, würden nur Ist-Zustände verglichen. Häufig lasse sich die erwünschte Leistung auch ohne Standortverlagerung erreichen.
Die Forscher in Karlsruhe haben auch erhoben, welches die Motive für den Aufbau von Produktionsstätten in Ausland sind. Mit 65 Prozent rangierten an erster Stelle die „Kosten der Produktionsfaktoren“; dann folgten aber schon mit 60 Prozent die „Markterschließung”; und dann mit 34 Prozent die „Nähe zu Großkunden in“. Es gibt also Gründe zur Verlagerung, die man nicht wegwischen kann und die auch nicht negativ beurteilt werden müssen. Wenn Investitionen im Ausland zur Markterschließung stattfinden, dann hilft das auch der zu Hause gebliebenen Produktion, Entwicklung und Forschung.
Das Fazit der Karlsruher Wissenschaftler: Aus der Verbindung von inländischen und ausländischen Produktionsstätten ergeben sich offensichtlich Marktchancen und Steuerungsmöglichkeiten, die nicht nur für diese Unternehmen insgesamt Wachstumsimpulse setzen, sondern auch für die Unternehmensteile, die in Deutschland angesiedelt sind, Beschäftigungschancen mit sich bringen.
Die Studie aus dem Jahre 2002 wie auch neuere Äußerungen der mit dieser Untersuchung betrauten Wissenschaftler des Fraunhofer Instituts zeigen deutlich, dass wir alle wie auch die deutsche Wirtschaft ein Interesse daran haben müssen, dass Investitions-, Verlagerungs- und Rückverlagerungsentscheidungen mit klaren Kopf gefällt werden. Die falschen, übertreibenden und immer wiederholten Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten verstärken den Trend zur Verlagerung und stören die rationale Entscheidungsfindung. Wer auf Stoiber hört, ist jedenfalls schlecht beraten. Das zeigt die Studie des Fraunhofer-Instituts recht klar.
Es gab einmal, im April 1975, eine berühmte Rede des damaligen Vorsitzenden der CSU, Franz Josef Strauß, die so genannte Sonthofener Rede. Damals hat Strauss, um der Regierung Schmidt das Leben schwer zu machen, seinen Parteifreunden die Strategie empfohlen, „es müsse immer tiefer sinken“, es müsse wirtschaftlich immer schlechter gehen, damit die Union bessere Chancen hat, zur Macht im Bund zurückzukehren. Ein bisschen erinnern die heutigen Reden Stoibers zur Verlagerung an den damaligen Strauß, seinen Vorgänger und ehemaligen Chef.
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