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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Abgehoben im siebten Stock
Datum: 5. November 2007 um 9:00 Uhr
Rubrik: Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Sozialstaat, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Wer einmal Gelegenheit hatte in den siebten Stock im Kanzleramt vorzudringen, der dürfte ein beklemmendes Gefühl bekommen haben, wie abgeschottet und abgehoben von der Wirklichkeit man dort arbeiten muss. Dorthin gelangen nur noch abgestimmte Vermerke und Sprachregelungen auf Sprechzetteln. Zu welcher abgekapselten und von der Wirklichkeit losgelösten Gedankenwelt das führen muss, kann man beispielhaft nachlesen, wenn man in der Welt am Sonntag ein Gespräch mit Angela Merkel, der Bewohnerin dieser Etage, nachliest. Wolfgang Lieb.
Wir unterstellen einmal, dass der Autor dieses redaktionell gefassten Gesprächs mit der Kanzlerin, Peter Müller, deren Aussagen richtig wiedergegeben hat.
„Wir dürfen das Erreichte nicht aufs Spiel setzen“ meint die Kanzlerin und fügt hinzu „Nicht alles, was auf den ersten Blick gut aussieht, ist auch gut für Deutschland – nämlich für Arbeitsplätze, für Wachstum, für solide Finanzen. Wir müssen alles daran setzen, die Zahl der Arbeitslosen weiter zu senken.“
Was meint sie eigentlich mit dem „Erreichten“, fragt man sich drunten auf der Straße? Was hat Sie und vor ihr Schröder erreicht?
Ja, die Wirtschaft ist in den letzten beiden Jahren wieder ein bisschen gewachsen. Aber wurde das durch die Regierungspolitik erreicht? Sprechen nicht alle Daten dafür und sind sich nicht fast alle Fachleute einig, dass dieses Wachstum von außen, also von der Weltkonjunktur angestoßen wurde?
Hat es außer dem Nachholbedarf an Investitionen in der Wirtschaft, nach Jahren der Zurückhaltung in der Stagnationsphase seit dem abgebrochenen kleinen Boom nach der Jahrtausendwende, irgendeinen Wachstumsanstoß aus dem Innern gegeben? Die Binnennachfrage stagniert weiterhin oder ist gar rückläufig.
War nicht gerade die von der Großen Koalition „erreichte“ Mehrwertsteuererhöhung ursächlich dafür, dass sich die Leute nicht mehr leisten können?
Hat nicht die Verunsicherung durch die „Reformpolitik“ dazu beigetragen, dass die Menschen sich beim Konsum zurückhalten (müssen) und die Sparquote Höchststände „erreicht“?
Die staatlichen Investitionen wurden jahrelang zurückgefahren und lagen zeitweise sogar unterhalb der von der Verfassung gezogenen Grenzen. Wie sollte das hoch gelobte sog. „Investitionsprogramm“ über 25 Milliarden verteilt auf vier Jahre – dazu noch ein Bauchladen aus Fördermitteln, Steuererleichterungen und Steuersenkungen – angesichts der 24 Milliarden, die allein die Mehrwertsteuererhöhung jährlich an Kaufkraft abschöpft, einen Boom „erreichen“?
Wenn die bisherige Wirtschaftspolitik etwas „erreicht“ haben soll, warum gehen dann die konjunkturellen Erwartungen für das kommende Jahr schon wieder zurück? (Aber daran ist ja dann – wie die Konjunkturforschungsinstitute schon vorbeugend argumentieren – nicht die Politik, sondern die Weltkonjunktur verantwortlich.)
Ja, die registrierte Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen. Aber wurde das durch die „Arbeitsmarktreformen“ „erreicht“? Wenn ja, allenfalls über die Zerstörung des Vertrauens der Arbeitnehmer in die Arbeitslosenversicherung und durch Druck auf die Arbeitslosen, jede Arbeit zu jedem Lohn und zu jeder Bedingung anzunehmen.
Ist eine Verbesserung der Altersvorsorge „erreicht“ worden, außer dass die gesetzliche Rentenversicherung für viele bis an oder sogar unter die Armutsgrenze gesenkt wurde und diejenigen, die sich das überhaupt noch leisten können, auf die private Riester-Rente verwiesen werden, die jeden einzelnen mehr kostet, als wenn die Beiträge für die gesetzliche Rente angehoben worden wären?
Hat die Gesundheitsreform eine verbesserte Gesundheitsversorgung „erreicht“ oder hat sie nicht schlicht zu einer höheren finanziellen Belastung der Patienten (Praxisgebühr, Zuzahlungen bei Medikamenten) und darüber hinaus sogar noch zu einer Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge geführt? Hatte Ulla Schmidt nicht einmal eine Senkung der Beiträge auf 14 Prozent versprochen?
„Erreicht“ worden ist, dass 62 Prozent der Bevölkerung damit rechnen, dass sich der Umfang der Leistungen, die von den gesetzlichen Kassen bezahlt werden, in den nächsten fünf Jahren verringert. Im gleichen Zeitraum befürchten 71 Prozent eine schlechtere Qualität der medizinischen Leistungen und 89 Prozent erwarten steigende Krankenversicherungsbeiträge.
Man könnte diese Bilanz des „Erreichten“ beliebig fortsetzen und man würde nur wenig finden, was da durch eine Änderung dieser „Reform“-Politik „aufs Spiel“ gesetzt werden könnte.
Was war gut „für Deutschland“? Wer oder Was ist Deutschland? Ach so, „Du bist Deutschland“. Wo aber ist der Aufschwung angekommen? Bei Dir Deutschland? Bestimmt nicht bei der großen Masse der Bevölkerung, bei den Arbeitnehmern, bei den Rentnern, bei den Studierenden, bei den Kindern.
„Wir müssen alles daran setzen, die Zahl der Arbeitslosen weiter zu senken.“ Mit dieser Sprechblase wird verdeckt, wodurch die – wohlgemerkt – registrierte Zahl der Arbeitslosen gesenkt worden ist. Nämlich zu einem ganz großen Teil durch Altersabgänge, durch prekäre Arbeitsverhältnisse, wie Niedriglöhne, Teilzeitarbeit oder Leiharbeit. Hat man im siebten Stock im Kanzleramt überhaupt noch ein Gefühl dafür, wie diese schon tausendmal wiederholte, inhaltsleere Formel bei den über 6 Millionen erwerbsfähige Menschen ankommt, die auf Lohnersatzleistungen nach dem SGB III oder Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II angewiesen sind?
„Die Bevölkerung schätzt an dieser Bundesregierung, dass sie sich als verlässlich erwiesen hat. Wir haben keine falschen Versprechungen gemacht. Mit mir ist nur eine Politik zu machen, die dieses Vertrauen nicht infragestellt. Das heißt solide Finanzen, einen ausgeglichenen Bundeshaushalt bis 2011 und eine weitere Senkung der Lohnzusatzkosten.“
Wer hat der Kanzlerin denn das wieder aufgeschrieben: Vertrauen in die Bundesregierung?
Hat sie denn noch nie etwas von den jüngsten Umfrageergebnissen gehört, wonach weit über die Hälfte (56 %) mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden sind und nur noch jeder siebte (14 %) der Bundesregierung vertraut?
Merkel sagt: „Die Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge von 3,9 auf 3,5 Prozent ist von der Union immer gefordert worden, diesen Weg werden wir konsequent weitergehen.“ Deshalb zieht die Kanzlerin beim Streit um die längere Auszahlung des Arbeitslosengeldes eine klare Grenze: „Die Kostenneutralität einer veränderten Auszahlung ist für mich ein Kernpunkt…Das heißt: Der Bundesagentur dürfen insgesamt keine Mehrkosten entstehen. Das steht beispielhaft für das Thema Verlässlichkeit. Die Senkung der Lohnzusatzkosten hat absolute Priorität.“
Hat denn keiner der Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen im Erdgeschoss des Kanzleramtes der Kanzlerin mal einen Zettel hochgereicht, auf dem ihr mitgeteilt worden wäre, dass die Mehrheit der Deutschen sogar bereit wäre, höhere „Lohnnebenkosten“ zu tragen, wenn dadurch die Absicherung ihrer Lebensrisiken durch die gesetzlichen Vorsorgesysteme verbessert würde?
Hat die Kanzlerin sich nicht einmal vorrechnen lassen, von welch geringem betriebswirtschaftlichem Gewicht etwa die gegenwärtig diskutierte Verlängerung des ALG I ist: Das Volumen der Mehrkosten von 1,5 bis 2 Mrd. Euro liegt unter dem 0,0027-fachen der gesamten Bruttolohnsumme des Jahres 2006.
Ist es Merkel als Naturwissenschaftlerin eigentlich während ihrer langen Flüge ins Ausland nicht möglich gewesen, einmal selbst nachzurechnen, was eine Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 0,4 Prozent bei einem Bruttogehalt von 2000 Euro monatlich mehr in den Geldbeutel brächte? Glaubt sie wirklich, dass diese 8 Euro mehr im Monat den Arbeitnehmern die weitere Zerstörung ihrer Arbeitslosenversicherung wert ist?
Hat die Kanzlerin noch nie etwas von den erwarteten 6 Milliarden Überschüssen der Bundesagentur für Arbeit allein in diesem Jahr (im letzten Jahr waren es über 11 Milliarden) gehört? Wie sollten da eigentlich bei zusätzlichen Ausgaben von 2 Milliarden Mehrkosten entstehen?
Fragen über Fragen drunten auf der Straße, aber die kommen im siebten Stock des Kanzleramts nicht an. Da lebt es sich wie im Raumschiff, und die Journalisten, die noch Funkkontakt haben, übernehmen die Funksprüche von dort staunend wie Botschaften vom siebten Himmel.
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