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Titel: Christoph Butterwegge: Migrationsberichterstattung – Massenmedien als Motoren der Ethnisierung

Datum: 21. März 2006 um 14:23 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
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Über die Ausländer/innen in der Bundesrepublik berichten Massenmedien ganz ähnlich wie über das Ausland, nämlich praktisch nur im Ausnahmefall, der möglichst spektakulär sein und katastrophische Züge tragen sollte, wodurch Zuwanderer mit Unordnung, Chaos und Gewalt in Verbindung gebracht werden. Der medial konstruierte und auf diese Weise deformierte „Fremde“ ist überflüssig oder gefährlich, zu bedauern oder zu fürchten – meistens allerdings beides zugleich. Das gilt vor allem im Hinblick auf Musliminnen und Muslime aus der Türkei, die mit Abstand größte Zuwanderergruppe Deutschlands. Die aktuelle Migrationsberichterstattung reproduziert, forciert und zementiert jenen Trend zur sozialen Polarisierung, den die Globalisierung bzw. neoliberale Modernisierung erzeugt.

Christoph Butterwegge
Gekürzter Beitrag des Verfassers aus dem Buch: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hg.), Massenmedien, Migration und Integration, Wiesbaden (VS – Verlag für Sozialwissenschaft) 2006, 260 Seiten, ISBN-Nr. 3-531-15047-2, Ladenverkaufspreis: 19,90 EUR

Massenmedien filtern für die Meinungsbildung wichtige Informationen und beeinflussen auf diese Weise das Bewusstsein der Menschen, für die sich die gesellschaftliche Realität zunehmend über die Rezeption von Medien erschließt. Während beispielsweise die Berichterstattung über Fluchtmotive und deren strukturelle Ursachen bzw. Hintergründe (von der ungerechten Weltwirtschaftsordnung und den Ausbeutungspraktiken industrieller Großkonzerne über den Ökokolonialismus bis zu den Waffenexporten „unserer“ Rüstungsindustrie) mehr als defizitär zu nennen ist, behandeln Reportagen aus der sog. Dritten Welt überwiegend Kriege und Bürgerkriege, Natur- und Technokatastrophen, Militärputsche und Palastrevolutionen. Je mehr schwer beherrschbare Ereignisse nach Art des Tsunami in Südostasien (Dezember 2004) oder des Erdbebens in Pakistan (Oktober 2005) es gibt, umso eher festigt sich der Eindruck, „die Afrikaner“, „die Asiaten“, „die Südamerikaner“ oder auch die „Osteuropäer“ seien zwar Nutznießer der westlichen Zivilisation und moderner Technologien, zu eigener und rationaler Daseinsgestaltung bzw. demokratischer Selbstverwaltung aber im Grunde unfähig.

Wenn ethnische Differenzierung als Voraussetzung der Diskriminierung und dominanter Mechanismus einer sozialen Schließung gegenüber Migrant(inn)en charakterisiert werden kann, treiben die Medien den Ausgrenzungsprozess voran, indem sie als Motoren und Multiplikatoren der Ethnisierung wirken. „Ethnisierung“ ist ein sozialer Exklusionsmechanismus, der Minderheiten schafft, diese (fast immer negativ) etikettiert und Privilegien einer dominanten Mehrheit perpetuiert. Je mehr die Konkurrenz im Zuge der Globalisierung, genauer: der neoliberalen Modernisierung bzw. der Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach dem Vorbild des Marktes, etwa durch die von den Massenmedien stimulierte „Standortdebatte“ ins Zentrum zwischenstaatlicher wie -menschlicher Beziehungen rückt, desto leichter lässt sich die ethnische bzw. Kulturdifferenz politisch aufladen.

Medien fungieren dabei als Bindeglieder zwischen institutionellem (strukturellem, staatlichem), intellektuellem (pseudowissenschaftlichem) und individuellem bzw. Alltagsrassismus. Sondergesetze für und behördliche Willkürmaßnahmen gegen Migrant(inn)en, die man „institutionellen Rassismus“ nennen kann, kennen deutsche „Normalbürger/innen“ hauptsächlich aus den Massenmedien. Sie bestätigen meist ihre eigenen Klischeevorstellungen über Ausländer/innen. Umgekehrt benutzt der Staat durch Medien millionenfach verbreitete Ressentiments gegenüber „den Ausländern“, um diese strukturell benachteiligen zu können. Im Rahmen der 1991/92 kampagnenartig zugespitzten Asyldebatte rechtfertigten Politiker die Änderung des Artikels 16 Grundgesetz mit der „Volksmeinung“. Schließlich erhalten Rechtsextremismus und Rassismus durch die Medien teilweise ein öffentliches Forum, was ihre hohe Massenwirksamkeit mit erklärt.

Wie Migrant(inn)en und Angehörige ethnischer Minderheiten zu „Fremden“ gemacht werden: Asylbetrug und Ausländerkriminalität

Über die Ausländer/innen in der Bundesrepublik berichten Massenmedien ganz ähnlich wie über das Ausland, nämlich praktisch nur im Ausnahmefall, der möglichst spektakulär sein und katastrophische Züge tragen sollte, wodurch Zuwanderer mit Unordnung, Chaos und Gewalt in Verbindung gebracht werden. Der medial konstruierte und auf diese Weise deformierte „Fremde“ ist überflüssig oder gefährlich, zu bedauern oder zu fürchten – meistens allerdings beides zugleich. Das gilt vor allem im Hinblick auf Musliminnen und Muslime aus der Türkei, die mit Abstand größte Zuwanderergruppe Deutschlands.

Im deutschen Migrationsdiskurs dominieren semantische Exklusionsmechanismen. Dabei überwiegen konventionelle Metaphern aus den Bereichen „Krieg“, „Warenhandel“ und „Wasser“. Beispielhaft genannt seien: „Einmarsch“, „Invasion“ und „Ansturm“; „Import“, „Export“ und „Schmuggel“; „(Zu-)Strom“, „Welle“ und „Flut“. In dem Begriff „einschleusen“ überlappen sich die zuletzt genannten Bereiche. Migrant(inn)en und Allochthone werden in deutschen Medien vorwiegend als „Ausländer/innen“ bezeichnet. Schon in diesem Sprachgebrauch manifestiert sich der Trend zur Aus- bzw. Abgrenzung von Menschen, die den Einheimischen „fremd“ erscheinen. Dadurch, wie Journalist(inn)en über Ausländer/innen, Flüchtlinge und Zuwanderer berichten, zementieren sie eine im Bewusstsein der Bundesbürger/innen ausgebildete Hierarchie, wonach bestimmte Gruppen von Ausländer(inne)n als „Fremde“ betrachtet werden, andere – etwa prominente Sportler/innen und Künstler/innen – hingegen hochwillkommene Gäste sind. Besonders stark ausgeprägt ist dieser Dualismus in der Lokal- und der Boulevardpresse: Beide bringen das „Ausländerproblem“ oft mit einer angeblich drohenden „Überfremdung“ sowie einer Gefährdung der Inneren Sicherheit in Verbindung.

Aus den Zeitungen und anderen Medien ist selten Positives über Ausländer/innen zu erfahren. Mord und Totschlag, Diebstahl, (Banden-)Raub und (Asyl-)Betrug sind Delikte, über die im Zusammenhang mit ethnischen Minderheiten häufig berichtet wird. Ein angelsächsisches Bonmot („Only bad news are good news“) abwandelnd, kann man konstatieren: Nur böse Ausländer sind für deutsche Medien gute Ausländer! Dadurch wird einerseits die Ausbreitung des Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft, andererseits die Zunahme desintegrativer Tendenzen bei ethnischen Minderheiten gefördert.

Seit der emotional aufgeladenen Asyldiskussion zu Beginn der 1990er-Jahre wird die Kriminalitätsfurcht der Mehrheitsgesellschaft auf die ethnischen Minderheiten projiziert. Deutsche werden überwiegend als „Einzeltäter“ dargestellt, wohingegen Migrant(inn)en eher im Kollektiv auftauchen, auch wenn nicht immer explizit von „ausländischen Banden“ die Rede ist. Ein gutes Beispiel für dieses Darstellungsmuster lieferte die rheinische Boulevardzeitung Express am 21. Oktober 1999: Ihr Aufmacher auf Seite 1 lautete: „Balkan-Bande hops genommen. Danke, Polizei! – Hunderte Einbrüche in und um Köln aufgeklärt“, während ein „Burgenkönig vor Gericht: Wie oft hat er betrogen?“ überschriebener Artikel vergleichsweise klein war und erst auf Seite 28 stand, obwohl es dabei um einen Schaden in Millionenhöhe ging. Über mehrere Jahre hinweg waren junge Taschendiebe aus Südosteuropa ein Top-Thema der Boulevardpresse, die das Ausländerbild der Deutschen maßgeblich prägt. Am 9. November 1999 machte der Kölner Express beispielsweise mit der Schlagzeile „Passen Sie auf! Klau-Kinder in der Stadt“ auf, am 22. August 2002 veröffentlichte er unter der Überschrift „Die Klau-Kids von Köln. Sie haben Hunderte von Menschen überfallen und beklaut. Und sie laufen frei herum“ nach Art eines Fahndungsaufrufs die Bilder von 53 überwiegend dunkelhäutig aussehenden Jugendlichen.

Problematisch ist schon die Nennung der nichtdeutschen Herkunft von Tatverdächtigen und Straftätern in Berichten über Verbrechen, weil dadurch der Eindruck vermittelt bzw. bestärkt wird, die Amoralität eines Gesetzesbrechers hänge mit dessen Abstammung oder ethnischer Herkunft zusammen. Neuerdings findet man häufiger den mehr als mysteriös wirkenden Hinweis, ein (Gewalt-)Täter habe Deutsch gesprochen oder sei Deutscher, ganz so, als sei dies ein besonderes Erkennungsmerkmal, weil im Bereich der Kriminalität hierzulande eher selten. Am 5. Dezember 2005 erwähnte der Kölner Stadt-Anzeiger unter der Überschrift „Neugeborenes im Müll. Mutter lässt kleinen Jungen auf der Café-Toilette zurück“ die erfolgreiche Suche nach einer jungen Frau, deren Baby dort kurz nach seiner Entdeckung starb, mit dem Satz: „Die Polizei nimmt eine 21-jährige Deutsche (!?) in ihrer Wohnung fest.“

Identifizierende Hinweise auf Nationalität, Sprache und/oder Hautfarbe sind höchstens dann zu rechtfertigen, wenn die aktuelle Fahndung sie erfordert. Selbst eine Qualitätszeitung wie die Süddeutsche verzichtet jedoch im Bericht über einen Münchner, der seine zweijährige Tochter nach der von seiner Ehefrau betriebenen Trennung auf brutale Weise umbringen wollte, nicht auf die Erwähnung der für den Fall irrelevanten Tatsache, dass er aus Nigeria stammt und immerhin vor knapp zehn Jahren nach Deutschland gekommen ist (vgl. Kind „wie einen Ball“ aus Fenster geschleudert, in: SZ v. 13.12.2005). Sie verwendet auch noch immer den Begriff „Rasse“ für Menschen, ohne ihn in Anführungszeichen zu setzen oder kritisch zu hinterfragen (vgl. Rassismus aus Tradition. Die Unruhen in Sydney haben den Mythos eines multikulturellen Australiens zerstört, in: SZ v. 15.12.2005).

Allerdings bedarf es keiner Schlagzeile wie „Tod im Gemüseladen: Türke erschoß Libanesen“ (Weser-Kurier v. 22.5.1999, S. 1), um rassistische Klischees in den Köpfen zu produzieren oder entsprechende Einstellungsmuster zu stimulieren. Schon eine nüchterne und scheinbar „objektive“ Polizeistatistik zur Ausländerkriminalität, enthält – sofern sie weder kommentiert noch richtig interpretiert wird – die heimliche Botschaft, Menschen anderer Nationalität bzw. Herkunft seien aufgrund ihrer biologischen und/oder kulturellen Disposition für Straftaten anfälliger. In Wahrheit sind Ausländer/innen jedoch nicht krimineller als Deutsche, und es gibt kaum ein rechtes „Argument“, das durch kritische Reflexion und fundierte Analysen überzeugender zu widerlegen wäre.

Nach dem 11. September 2001: Terrorismushysterie und Stimmungsmache gegen Muslime

Im Gefolge der Attentate auf das Word Trade Center und das Pentagon feierte die Deutung der Weltpolitik als „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington) bzw. „Krieg der Zivilisationen“ (Bassam Tibi) fröhliche Urständ. Der damalige Zeit-Mitherausgeber und -Chefredakteur Josef Joffe schrieb für die am 13. September 2001 erscheinende Ausgabe, welche für das Blatt ungewohnt reißerisch und mit roten Lettern „Krieg gegen die USA“ verkündete, einen Leitartikel unter dem Titel „Die Zielscheibe: unsere Zivilisation. Terror total und global“. Dort hieß es: „In dieser Woche scheint der Harvard-Politologe Samuel Huntington mit seinem viel gescholtenen Kampf der Kulturen (1995) auf schrecklichste Weise Recht zu bekommen.“ Obwohl Huntington die kulturellen bzw. religiösen Gegensätze zwischen Abend- und Morgenland im Vergleich zu ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren überbewertet, die Unterschiede im Vergleich zu den ideologischen Schnittmengen bzw. Gemeinsamkeiten jedoch signifikant überzeichnet hatte, veröffentlichte die Zeit im Vorfeld des ersten Jahrestages der Terroranschläge am 5. September 2002 ein Interview mit Huntington unter dem Titel „Die blutigen Grenzen des Islam“ und bescheinigte dem prominenten Wissenschaftler: „Nine-eleven war (…) die perfekte Illustration Ihrer These. Es war nicht ein Krieg zwischen Staaten wie im 19. Jahrhundert oder Ideologien wie im 20., sondern der Angriff einer privat operierenden islamistischen Gruppe gegen ein Sinnbild der westlichen Zivilisation, Amerika.“ Auf die Frage, ob ihn der 11. September bestätigt habe, antwortete Huntington („In gewisser Hinsicht schon“) allerdings sehr verhalten.

Osama bin Laden und Al Qaida wurden zu Chiffren, welche die Feindschaft gegenüber der westlichen Zivilisation symbolisieren. Terrorismus, Fundamentalismus und Islamismus avancierten in vielen Medien zu einer gleichermaßen omnipräsenten wie -potenten Gefahr, der man gemeinsam mit US-Präsident George W. Bush in kriegerischer Manier entgegentrat, wobei sich der Einwanderungs- und der Kriminalitätsdiskurs wieder verschränkten. Teilweise gab es sogar einen Rückfall in Zerrbilder, die während der Asyldiskussion in den frühen 90er-Jahren dominiert hatten. Die alten Klischees beherrschten Titelseiten großer deutscher Nachrichtenmagazine wie auch Dokumentationen vieler Fernsehsender. Hier seien nur das stern-Titelbild vom 27. September 2001, wo ein dunkelhäutiger Mann mit Vollbart und Sonnenbrille zu sehen ist, in deren Gläsern sich unter der Überschrift „Terror-Gefahr in Deutschland. Geheimdienste warnen vor Anschlägen radikaler Muslime“ die brennenden Türme des World Trade Center spiegeln, sowie das Titelbild eines Spiegel special (2/2003) zum Thema „Allahs blutiges Land. Der Islam und der Nahe Osten“ genannt, wo von verschleierten Musliminnen über einen bärtigen Fanatiker mit bluttriefendem Krummdolch bis zum flammenden Inferno über Juden alle Stereotype bedient werden.

Dass sich diese Form der Stimmungsmache auf die Migrationspolitik und Integrationsbemühungen negativ auswirkte, ist offensichtlich. Nunmehr werden Migrant(inn)en eher noch stärker als vorher mit (Gewalt-)Kriminalität, Emotionalität und Irrationalität, wenn nicht gar religiösem Fundamentalismus und politisch-ideologischem Fanatismus in Verbindung gebracht. Noch lange nach den Attentaten dominierten in deutschen Massenmedien die Bilder der brennenden Zwillingstürme, militärische Metaphern und eine martialische Sprache. So schrieb der konservative Historiker Michael Stürmer in der Welt (v. 27.10.2003) unter dem Titel „Krieg der Welten“ über globale Angriffsplanungen der Terroristen: „Was in New York und Washington geschah, ist nicht das Ende des großen Terrors, sondern nur der Anfang.“ Da wundert es nicht, wenn selbst die Wochenzeitung des Bundestages Das Parlament (v. 8./15.8.2005) einen Artikel des Berliner Islamwissenschaftlers Peter Heine mit der reißerischen Überschrift „Terror – eine moderne Seuche“ versah, wodurch das Phänomen entpolitisiert, biologisiert bzw. pathologisiert wird, und im Untertitel generalisierend behauptete: „Islamisten wollen eine globale Scharia durchsetzen – mit allen Mitteln“, umrahmt von einem Foto, das die Familie eines Selbstmordattentäters beim Ansehen seines Abschiedsvideos zeigt.

Schleier und Kopftuch avancierten zu Symbolen für den Islamismus und seine Unterdrückung der Frau. Im sog. Kopftuch-Streit kulminierten die weitgehend ungeklärten Fragen nach der Haltung zum Islam wie zur Religion allgemein und nach der Einstellung zur Migration wie zum weiblichen Geschlecht. Um nicht in den Verdacht religiöser Intoleranz oder migrationspolitischer Ignoranz zu geraten, bedienten sich Medienmacher im Kampf gegen das Kopftuch teilweise der Zwischenrufe von Muslimen. So veröffentlichte die Zeit am 1. Oktober 2003 unter dem Titel „Weg mit dem Tuch!“ eine beißende Kritik von Namo Aziz am kurz zuvor ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Land Baden-Württemberg die klagende Lehrerin Fereshda Ludin nicht ohne gesetzliche Grundlage aus dem Schuldienst entlassen durfte. In seinem polemischen Kommentar warf der in Bonn lebende Publizist den Karlsruher Richtern vor, mit ihrer Kopftuchentscheidung erneut Ahnungslosigkeit oder gar Gleichgültigkeit gegenüber unterdrückten Frauen in islamischen Ländern bewiesen zu haben: „Wer das Kopftuch in deutschen Schulen und Universitäten toleriert, der sollte auch die Einführung der von der Scharia vorgesehenen Strafen wie Auspeitschung, Amputation und Steinigungen in Betracht ziehen.“

In der kampagnenartigen Berichterstattung über „Zwangsverheiratungen“ von Mädchen und Frauen sowie „Ehrenmorde“ blieben (kultur)rassistische Untertöne gleichfalls nicht aus. Nachdem drei ihrer fünf Brüder die Kurdin Hatun Sürücü am 7. Februar 2005 in Berlin erschossen hatten, beschäftigte das Thema nicht nur die lokalen Medien wochenlang. So berichtete die Süddeutsche Zeitung am 26. Februar 2005 unter dem Titel „In den Fängen einer türkischen Familie. Muslimische Dorfmoral in der Berliner Moderne: Schon wieder haben türkische Männer eine Frau mit dem Tod bestraft. Die Geschichte eines brutalen Zusammenpralls der Kulturen“ darüber. Gleichfalls in der Bundeshauptstadt wurde am 4. Dezember 2005 ein schwangeres Mädchen von seinem „15-jährigen libanesisch-stämmigen Exfreund“ und dessen 14-jährigem türkischem Kumpel durch Fußtritte und Schläge schwer verletzt, wie Jörg Lau in der Zeit (v. 15.12.2005) schrieb. Er wertete solche Straftaten unter der Überschrift „Brutale Prinzen. Junge Ausländer attackierten eine Schwangere, um ihr ungeborenes Kind zu Tode zu treten – eine Folge männlicher Gewaltkultur“ als Beweis dafür, dass sich in manchen Stadtvierteln „abgeschottete Parallelgesellschaften“ (Wolfgang Schäuble) herausgebildet hätten und eine schonungslose Debatte über die Situation von Frauen und Mädchen, aber auch von Jungen und Männern „in islamisch geprägten Migrantenmilieus“ nötig sei.

Als der mit den Namen von Osama bin Laden und Al Qaida verbundene Bombenterror mit den Anschlägen auf Vorortzüge in Madrid am 11. März 2004 sowie auf die U-Bahn und einen Bus in London am 7. Juli 2005 auch Europa traf, wurde das politische und mediale Klima hierzulande rauer, was sich z.B. in der Berichterstattung über die „Visa-Affäre“ niederschlug, womit man den damaligen Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) massiv unter Druck setzte. So scheute sich Peter Carstens in einem FAZ-Kommentar vom 21. Februar 2005 nicht, die seiner Meinung nach zu generöse Erteilung von Touristenvisa durch die deutsche Botschaft in Kiew unter der Überschrift „Politik für Menschenhändler“ auf eine Weise zu verurteilen, die Osteuropäer unter den Generalverdacht krimineller Handlungen stellte: „Durch mehrere Erlasse, von denen zumindest der sogenannte ‚Volmer/Fischer-Erlaß‘ auf direkte Weisung des Ministers zurückgeht, wurde Menschenhändlern das Geschäft erleichtert, insbesondere auch die Versklavung von Frauen, die sich im Besitz offizieller Reisedokumente wähnten.“ Selbst liberale Medien waren nicht frei von Panik, wie die „Visa-Affäre“ durchgängig „uralte antiöstliche Stereotype und Feindbilder“ (Wolfgang Burgdorf) mobilisierte, die Hunnen, Mongolen, Tataren und Russen galten.

Die multikulturelle Gesellschaft im Zerrspiegel der Massenmedien

Medien liefern nicht nur (Zerr-)Bilder von Zuwanderern und ethnischen Minderheiten, die das Denken und Handeln der Einheimischen beeinflussen, sondern prägen auch deren Haltung im Hinblick auf die Modelle eines friedlichen Zusammenlebens zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität, Herkunft, Kultur und Religion, indem sie Möglichkeiten und Grenzen der Integration ausloten und öffentliche Debatten darüber führen. Besonders das in der Bundesrepublik seit den 80er-Jahren diskutierte Konzept einer „multikulturellen Gesellschaft“ wurde auch von Journalist(inn)en kommentiert, (fehl)interpretiert und wiederholt überzogen, aber nie überzeugend kritisiert.

In seiner Titelgeschichte „Deutsche und Ausländer: Gefährlich fremd“ vom 14. April 1997 erklärte der Spiegel die multikulturelle Gesellschaft für gescheitert. Auf dem Titelbild des Hamburger Nachrichtenmagazins schwenkte eine Frau mit dunklem Teint und geschwollener Halsschlagader eine rote (türkische) Fahne. Daneben saßen Mädchen mit Kopftüchern auf endlos lang wirkenden Bankreihen einer Koranschule. Unter der Fahne trieb eine dunkelhäutig-maskuline, mit Messern und Tschakos bewaffnete Jugendgang ihr Unwesen.

Wenngleich manche Zeitungen und Zeitschriften, die das Thema sofort danach aufgriffen, sehr viel differenzierter als der Spiegel urteilten, bestimmte dieser als Leitmedium das politische Klima der Bundesrepublik. Man rückte von einem liberalen Konzept der Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik ab, dem das konservative Dogma der Nachkriegszeit gegenüberstand, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland und dürfe es auch nicht werden. Seriöse bürgerliche Presseorgane polemisierten nunmehr häufiger gegen das Konzept der „multikulturellen Gesellschaft“, mit dem man (Ausländer-)Kriminalität, Bandenkriege und Chaos in Verbindung brachte.

Hierzu passte die im Sommer 1998 vom damaligen Berliner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) als Gegenmodell zum Multikulturalismus erhobene, gut zwei Jahre später von seinem Parteifreund und damaligen Chef der Unionsfraktion im Bundestag Friedrich Merz aufgegriffene Forderung, Zuwanderer müssten sich der „deutschen Leitkultur“ unterwerfen. Darüber entbrannte in den Medien eine längere Kontroverse, bei der es um die „nationale Identität“ und die Salonfähigkeit einer neokonservativen Spielart des Kulturrassismus ging. In diesem Zusammenhang fungierten Vertreter demokratischer Parteien wiederholt als Stichwortgeber rechtsextremer Publikationsorgane, die sich gern auf Stellungnahmen und Positionen bürgerlicher Kreise berufen, um ihre Reputation zu erhöhen.

Die multikulturelle Realität der Einwanderungsgesellschaft erfährt in den Massenmedien eine oft gezielt betriebene Umdeutung zur Bedrohung oder unzumutbaren Belastung für die autochthone Bevölkerung, was in der Diskussion über die „deutsche Leitkultur“ besonders deutlich zum Ausdruck kam. Mit der Schlagzeile „Lebenslüge Multikultur“ überschrieb beispielsweise die Rheinische Post am 30. Oktober 2000 einen Kommentar ihres Chefredakteurs Ulrich Reitz, in dem dieser Umdeutungsmechanismus griff. „Multikultur ist eine Illusion“, hieß es da ganz apodiktisch, „sogar eine nicht einmal wünschenswerte, weil Parallelgesellschaf­ten sich herausbilden würden und ein womöglich gar blutiger Kampf um Vorherrschaft in der Gesellschaft anfinge.“ Folglich wurde die Leitkultur als Schutzschild gegenüber kultureller Überfremdung, schleichender Islamisierung und Bürgerkrieg betrachtet.

In der Diskussion über das angebliche „Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“ und die Forderung nach einem Treueid für Zuwanderer, die nach der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh am 2. November 2004 wieder aufflammte, feierte die „deutsche“, häufiger auch die „christlich-abendländische“ oder „freiheitliche demokratische“ Leitkultur fröhliche Urständ. Die liberale Zeit überschrieb den von Leon de Winter verfassten Leitartikel eines Dossiers, das am 18. November 2004 erschien, zum Thema „Vor den Trümmern des großen Traums. Warum selbst in den Niederlanden, dem Mutterland der Toleranz, die islamischen Vorstellungen von Respekt und Ehre mit westlichen Werten nicht harmonieren können“, womit aus Sicht der Blattmacher klar war, dass „Multikultur“ keine Zukunft mehr hatte.

Eine ganz ähnliche Stoßrichtung verfolgte die in Berlin erscheinende neurechte Wochenzeitung Junge Freiheit in ihrer Berichterstattung über das niederländische Medienereignis. JF-Chefredakteur Dieter Stein schrieb am 12. November 2004 unter dem Titel „Mord in den Niederlanden: Abschied von einer Illusion“ einen Leitartikel, in dem es hieß: „Verantwortungslose Politiker haben den europäischen Gesellschaften das illusionäre multikulturelle Projekt übergestülpt, in der blauäugigen Annahme, die Liberalität und Toleranz unserer Nationen gründeten auf unerschütterlichen Fundamenten.“ Stein zitierte den Zeit-Herausgeber und Altbundeskanzler Helmut Schmidt mit den Worten „Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Illusion von Intellektuellen“ (vgl. Die Zeit v. 22.4.2004), ohne dass die „unkontrollierte Migration in eine überalternde, schrumpfende Bevölkerung“ gestoppt worden sei, und schloss mit dem Appell: „Es ist allerhöchste Eisenbahn, daß die Regierungen Europas die Notbremse ziehen. Schluß mit der multikulturellen Gefühlsduselei! Die Zeichen des Bürgerkrieges stehen an der Wand!“ Eine Woche später machte die Junge Freiheit unter der Überschrift „Holland ist überall. Das böse Erwachen aus dem multikulturellen Traum“ mit dem Foto einer brennenden Koranschule in den Niederlanden auf. In derselben JF-Ausgabe behauptete der Amsterdamer Historiker George Harinck, die „Masseneinwanderung“ bedrohe nunmehr die „permissive Gesellschaft“, deren „Nebenprodukt“ sie sei, und verlangte eine Rückbesinnung auf die „nationale Identität“ mit der Begründung, „daß wir uns wieder unserer eigenen Identität versichern müssen, wenn wir gegenüber dem Islam bestehen wollen.“ Wieder eine Woche später wurde der ehemalige FAZ-Redakteur Udo Ulfkotte interviewt, welcher mit seinem Buch „Der Krieg in unseren Städten. Wie radikale Islamisten Deutschland unterwandern“ eine Flut von Klagen und Gerichtsprozessen ausgelöst hatte. Ulfkotte erklärte Terroranschläge in der Bundesrepublik zwar für jederzeit möglich, verneinte aber sowohl die Frage, ob die „multikulturelle“ Gesellschaft an sich das Problem sei, unter Hinweis auf „viele geglückte Beispiele“, wie auch die Frage, ob die Wurzel des Problems „in der Einwanderung selbst“ liege: „Nein, darin, daß man die Einwanderung nicht entsprechend gesteuert hat.“

Im Feuilleton der FAZ (v. 23.11.2004) sprach Lorenz Jäger vom „Bankrott des Multikulturalismus“ und mutmaßte, die Ermordung Theo van Goghs werde womöglich eines Tages mit dem Fall der Berliner Mauer verglichen, denn nunmehr sei „eine weitere Lebenslüge der deutschen Linken geplatzt und der Katzenjammer entsprechend groß“, was zwei Wege eröffne: „Der eine ist der Übergang zur Wirklichkeit. Wird er nicht eingeschlagen, dann bleibt nur eine weitere Drehung der multikulturellen Schraube: Dann wird der Staat seinen therapeutischen Charakter noch einmal steigern und für die Unwilligen unter der Mehrheitsbevölkerung neue Erziehungs- und Toleranzprogramme auflegen. Er wird dann ein jakobinischer Tugendstaat, und die Freiheit bleibt auf der Strecke.“ Dagegen relativierte Mark Siemons an selbiger Stelle, gescheitert sei nur die „Milchmädchenrechnung der Monokultur“, und wies auf Kanada hin, wo die meisten Einwanderer nicht nur in den Arbeitsmarkt integriert, sondern auch von der dortigen Gesellschaft „als Gewinn für ihr eigenes Wohlergehen gewollt und gewünscht“ seien: „Wie selbstverständlich gehört zur kanadischen Leitkultur die kulturelle Verschiedenheit.“

„Parallelgesellschaft“ fungierte nach dem Mord an van Gogh als Mode- und Konträrbegriff zur „multikulturellen Gesellschaft“, der eine umfassende Drohkulisse aufbaut und düstere Entwicklungsperspektiven ahnen lässt. Damit werden kulturelle Entfremdung, Integrationsverweigerung und Selbstabschottung assoziiert. Mit der Diskussion über „Parallelgesellschaften“, die in einem „Die Schlacht um Europa“ überschriebenen Artikel von Gilles Kepel in der Welt am Sonntag vom 21. November 2004 und im Titelblatt der am Tag darauf erschienenen Ausgabe des Münchener Nachrichtenmagazins Focus „Unheimliche Gäste. Die Gegenwelt der Muslime in Deutschland“ gipfelte, kehrte der Kalte Krieg als medialer Kulturkampf zwischen Abend- und Morgenland zurück.

Nach der vorgezogenen Bundestagswahl am 18. September 2005 flammte die „Leitkultur“-Debatte erneut auf. Norbert Lammert (CDU) erklärte unmittelbar nach seiner Wahl zum Nachfolger Wolfgang Thierses als neuer Parlamentspräsident gegenüber der Zeit (v. 20.10.2005), dieser Begriff sei „reflexartig“ abgelehnt worden, verdiene es aber, wieder aufgegriffen zu werden: „Dass es in jeder Gesellschaft Überzeugungen geben muss, die möglichst breit verankert sind, ist eine Binsenweisheit. Kein politisches System kann seine innere Legitimation ohne solche gemeinsam getragenen Überzeugungen aufrechterhalten – schon gar nicht in schwierigen Zeiten wie heute, in denen nicht Wohlstandszuwächse verteilt, sondern Ansprüche eingesammelt werden müssen.“ Kurz darauf meldete sich Wolfgang Schäuble, damals noch designierter alt-neuer Bundesinnenminister und Nachfolger Otto Schilys, in der Bild-Zeitung (v. 27.10.2005) zu Wort: „Für mich bedeutet Leitkultur, daß wir uns immer wieder fragen müssen: Was hält unsere freiheitliche Gesellschaft im Innersten zusammen? Welche Werte verbinden uns? Wo wollen wir als Volk hin?“ In der Zeit (v. 10.11.2005) erklärte Schäuble, kein Anhänger des Streites um Begriffe zu sein. Recht habe im Kern aber sowohl, wer von „Leitkultur“, wie auch, wer von der Bundesrepublik als „Einwanderungsland“ spreche: „Zum einen müssen wir uns unserer Identität immer wieder sicher sein, denn wer mit sich selbst nicht im Reinen ist, ist für andere schwer erträglich. Zum anderen wird es auch in Zukunft weitere Einwanderung nach Deutschland geben – auch wenn wir im klassischen Sinne kein Einwanderungsland sind, das sich seine Zuwanderer selbst aussucht.“

Norbert Lammert äußerte sich ähnlich, schlug aber weniger völkisch-nationalistische Töne an und argumentierte differenzierter als Schäuble. So kritisierte Lammert ausdrücklich die Wortkombination „deutsche Leitkultur“, verband Letztere vielmehr mit einer „Revitalisierung des Glaubens“ im Sinne christlicher Religionsgemeinschaften und hob hervor, dass jede Gesellschaft nicht nur eine Rechtsordnung brauche, sondern sich auch „über ihre Grundlagen, ihre Herkunft, ihre Orientierungen“ verständigen müsse: „Wir machen bei uns die Erfahrung, dass sich neben der Rechtsordnung, deren Geltung kein Mensch bestreitet, Verhaltensmuster halten, die ihrerseits kulturell begründet sind. Wenn sich die Gesellschaft nicht regelmäßig ihrer Grundlagen vergewissert, läuft sie Gefahr, dass sich auch die Rechtsordnung auflöst.“ (Rheinischer Merkur v. 24.11.2005) Der neue Bundestagspräsident betonte in mehreren Interviews die Notwendigkeit, „ein Mindestmaß an Verbindlichkeit über gemeinsame Grundlagen und Orientierungen“ zu schaffen: „Unterschiedliche Kulturen sind eine Bereicherung und eine Herausforderung zugleich, sie stiften nicht nur Konsens, sondern auch Konflikt. Keine Gesellschaft kann das einfach auf sich beruhen lassen und abwarten, was sich daraus entwickelt.“ (Frankfurter Rundschau v. 25.11.2005) Ausdrücklich bezog sich Lammert auf „die prägenden historischen Erfahrungen, die von der christlich-jüdischen Tradition nicht zu trennen sind. Nicht wenige Ausländer aus anderen Kulturkreisen, die nun in Deutschland leben, wünschen sich solche Verbindlichkeit.“ Indem Lammert die Religion (statt der Nation) zum zentralen Ab- bzw. Ausgrenzungskriterium macht, löst er das Problem einer Dominanzkultur, die sich über den Wertehorizont der Zuwanderer erhaben dünkt, nicht. Lammert, der die „Leitkultur“-Debatte ohne erkennbaren Grund wiederbelebte, konnte dem „L-Wort“, das eine „wilhelminisch-dünkelhafte Färbung“ (Gustav Seibt) hat, keine neue Bedeutung geben. Mit dem von Lammert benutzten „Kulturkreis“-Begriff wird Fremdheit konstruiert bzw. assoziiert und vor allem die nichteuropäische Migration negativ etikettiert bzw. abqualifiziert.

Politik und Publizistik schaukeln sich in der „Berliner Republik“ wechselseitig hoch, weht doch ein neokonservativer Zeitgeist durch Ministerien, Gerichtssäle und Redaktionsstuben. Da die rot-grüne Bundesregierung dem Trend geistig-moralisch wenig entgegenzusetzen hatte, sondern sich zuletzt stärker als zu Beginn ihrer Amtszeit in „Neoliberalismus light“ und prinzipienlosem Pragmatismus erging, gewannen christlich-abendländische Werte und Traditionen wieder an Bedeutung. Durch die Bildung der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD im November 2005 wurde die konservative Kehrtwende des Zeitgeistes nicht verhindert, sondern erleichtert. Sie bedroht den ohnehin mäßigen Fortschritt in der Migrations- bzw. Integrationspolitik, wie ihn das Zuwanderungs(begrenzungs)gesetz repräsentiert, und beeinflusst auch die Art und Weise, wie über dieses Politikfeld künftig in den Medien berichtet wird.

Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung: Migranten als „nützliche“ Arbeitskräfte bzw. „unnütze“ Ausländer

Migration ist so alt wie die Menschheit selbst, nimmt heute jedoch neue Züge an. Globalisierung, soziale Polarisierung und Pauperisierung großer Teile der Weltbevölkerung fördern die Migration, welcher aufgrund einer multimedial erweiterten Informations- und Kommunikationsstruktur künftig noch mehr Bedeutung zukommen dürfte. Bedingt durch Spaltungstendenzen zwischen wie innerhalb der einzelnen Nationalstaaten, differenziert sich die Migration aus: Während die transnationale Eliten- bzw. Expertenmigration positiv, nämlich als „Standortvorteil“ gegenüber auf den Weltmärkten mit dem „eigenen“ Wirtschaftsstandort konkurrierenden Volkswirtschaften, bewertet wird, gilt Elendsmigration bzw. Flucht den Bewohnern reicher Länder als „Standortnachteil“, der zu vermeiden oder zu verringern ist.

Im Frühjahr 2000 erfuhr die deutsche Zuwanderungsdebatte eine ganz neue Wendung, als Bundeskanzler Gerhard Schröder auf der Computermesse CeBIT in Hannover anregte, gezielt IT-Fachleute aus Nicht-EU-Ländern anzuwerben, und das Arbeitsministerium eine „Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie“ nach US-amerikanischem Muster, aber mit gegenüber der dortigen Green Card weniger großzügigen Aufenthaltsregelungen vorbereitete. Die seither auch in den Medien verstärkt erörterte Frage „Nutzen uns die Zuwanderer oder nutzen sie uns aus?“ beruht auf nationalistischen und rassistischen Prämissen, welche der proklamierten Weltoffenheit eigentlich Hohn sprechen. Sie grenzt ein nationales Kollektiv, die deutsche „Wir“-Gruppe, „den Anderen“ bzw. „den Fremden“ gegenüber ab. In der sehr breit angelegten Diskussion über Green und/oder Blue Card dominierte erstmals wieder nach 1945 offen das „deutsche Interesse“, wobei weniger völkische als standortnationalistische Argumentationsmuster hervortraten. Nach mehreren Jahrzehnten massiven Widerstandes in der politischen Öffentlichkeit schien sich aufgrund der „Green Card“-Initiative von Bundeskanzler Schröder ein gesellschaftlicher Grundkonsens darüber herauszubilden, dass es keine Alternative zur Einwanderungsrealität gibt und man sich damit arrangieren muss. Es wurde im Unterschied zur „Gastarbeiter“-Diskussion 1970 bis 1973 einerseits und zu den Asyldebatten 1980 bis 1983 bzw. 1991 bis 1993 andererseits mehrheitlich für eine Öffnung der Bundesrepublik und für die (begrenzte) Einwanderung plädiert. Seit dem Anwerbestopp im November 1973 bestanden nie so große Chancen für eine breite Akzeptanz von Immigration, obwohl kritisch einzuschränken bleibt, dass die Interessen der Wirtschaft am Import von Arbeitskräften den Anstoß dazu gaben und der Nützlichkeitsaspekt die Bereitschaft zur Erteilung befristeter Arbeitsgenehmigungen und Aufenthaltserlaubnisse für ausländische Fachkräfte förderte.

Typisch für das Medienbild, das man sich vom „Green-Card-Inhaber“ machte, war der asiatische IT-Experte, den die Bild-Zeitung ihren Leser(inne)n am 2. März 2000 unter der Schlagzeile „Computer-Inder Surjit Singh Suri: Ich freue mich auf das saubere Deutschland … und einen BMW“ vorstellte. Wie man sich selbst sah, sollten möglichst auch die Zuwanderer sein: angepasst, ordentlich und strebsam. Mit dem Zitat „Hier ist alles so gut organisiert“ überschrieben die Bremer Lokalzeitungen denn auch ihren Bericht über das Praktikum, welches indische Krankenschwestern in einer Klinik der Hansestadt absolviert hatten (vgl. Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 30.4.2000).

Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 wurde der lange erhoffte und seinerzeit wahrscheinlich mögliche Paradigmenwechsel in der (arbeitsmarktbezogenen) Migrationspolitik durch einen autoritären Sicherheitsdiskurs konterkariert. Der zumindest vorübergehend liberale Zeitgeist wandelte sich wieder, weil fortan auch der „Schläfer“ das Zerrbild des muslimischen Migranten bestimmte und sich die Zuwanderungsdebatte dadurch beinahe ins Gegenteil verkehrte.

Vor allem in der Boulevardpresse erschien Zuwanderung einmal mehr als Bedrohung und Belastung für „die Deutschen“. Man brachte sie häufig mit Arbeitsplatzverlust, „Überfremdung“, Wohnungsknappheit, Sozialleistungsmissbrauch und (Gewalt-)Kriminalität in Verbindung. Bedeutsam war dabei die Komposition von Artikeln, Kommentaren und Berichten. Bild platzierte zum Beispiel am 9. Juli 2002 die Meldung, dass die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen im Monat davor wieder auf knapp 4 Millionen gestiegen war, und einen Bericht über den drohenden Bankrott des Maschinenbaukonzerns Babcock-Borsig („Jetzt stehen rund 13500 deutsche Jobs auf dem Spiel“) direkt unter der Ankündigung eines Streitgesprächs zwischen den beiden Kanzlerkandidaten zu mehreren Themen mit der suggestiven Überschrift „Schröder und Stoiber im Duell bei BILD: Wie viele Ausländer sind genug?“ Neben einer schwarzhäutigen Bikini-Schönheit ging da die Kurzmeldung „Weniger Asylbewerber“ über einen Rückgang von 11,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahreshalbjahr praktisch unter.

Berichte über den Zustrom von Armutsflüchtlingen können die Furcht deutscher Arbeitnehmer/innen, ihre Stelle einzubüßen und im Gefolge einer als ökonomisches Naturgesetz begriffenen Globalisierung erwerbslos zu werden, genauso verstärken wie Meldungen über Massenentlassungen, Firmenzusammenbrüche und Kapitalflucht. Wenn die Bild-Zeitung (v. 6.10.1999) mit der Schlagzeile „Hochsteuerland Deutschland: Haut Daimler ab in die USA?“ oder das Münchner Boulevardblatt tz (v. 23.4.2004) mit der Frage „74000 Jobs in Gefahr: Will Siemens aus Deutschland weg?“ aufmacht, greift möglicherweise die Vorstellung um sich, dass zuwandernde Ausländer „unsere“ Arbeitsplätze besetzen und deutsche Unternehmer (mitsamt den Arbeitsplätzen) ins Ausland abwandern.

Einen neueren Fokus der Medienberichterstattung bildet das Thema „illegale Migration“, meist verbunden mit Horrorszenarien im Hinblick auf eine Invasion der hungernden Massen Afrikas und die Grenzöffnung nach der EU-Osterweiterung. Da der Landweg für Armutsflüchtlinge durch die sog. Drittstaatenregelung weitgehend versperrt ist, spielt das Meer seither eine besondere Rolle. So erschien der Spiegel am 17. Juni 2002 mit einem Titelbild, das unter der Überschrift „Ansturm der Migranten: Europa macht dicht“ ein mit verlumpt aussehenden Menschen vollgepfropftes Flüchtlingsschiff zeigt. Anlass dafür bot der EU-Gipfel in Sevilla, auf dem vier Tage später die Verschärfung der Grenzkontrollen und eine völlige Entrechtung der sog. Illegalen beschlossen wurden.

Zwar gibt es in den Massenmedien auch einfühlsame Berichte über jene Flüchtlingstragödien, die sich tagtäglich an den (See-)Grenzen der Wohlstandsinsel (West-)Europa abspielen, wenn etwa Afrikaner versuchen, über das Mittelmeer oder Ceuta und Melilla, spanische Exklaven auf ihrem Kontinent, das gelobte EU-Land zu erreichen, und dabei nicht selten den Tod finden. Wie manche Journalist(inn)en das Spezialproblem der irregulären bzw. illegalisierten Zuwanderung behandeln, grenzt jedoch an Heuchelei: Man empört sich wortreich über die Rücksichtslosigkeit der Schlepper- bzw. Schleuserbanden, die zwecks eines hohen Gewinns selbst den Tod von Migrant(inn)en aus der sog. Dritten Welt in Kauf nehmen, fragt aber nicht, ob sich Menschen wie jene 58 Chinesen, deren tragischer Erstickungs- bzw. Kältetod in einem Kühllastwagen gegen Ende Juni 2000 als „Drama von Dover“ zahllose Presseschlagzeilen machte, vielleicht nur deshalb zweifelhaften Organisationen anvertrauen, weil sich Westeuropa – aus ähnlich egoistischen Gründen, wie sie diesen vorgeworfen wurden – immer mehr abschottet und gegenüber dem Flüchtlingselend verschließt.

Die aktuelle Migrationsberichterstattung reproduziert, forciert und zementiert jenen Trend zur sozialen Polarisierung, den die Globalisierung bzw. neoliberale Modernisierung erzeugt: Positiv werden vor allem Zuwanderer dargestellt, die einen sozialen Aufstieg erleben oder erhoffen können und „freiberuflich“ oder unternehmerisch tätig sind. Gestützt auf eine Studie des Zentrums für Türkeistudien berichtete die Rheinische Post am 2. Mai 2005 unter dem Titel „Nicht so enden wie die Mütter“ über „türkischstämmige Frauen der dritten Generation“, die sich mit eigenen Unternehmen selbstständig gemacht oder „verantwortungsvolle Firmenpositionen“ übernommen hätten. Seit geraumer Zeit konzentrieren sich die Massenmedien stärker auf eine „junge Zuwandererelite“ (Roland Kaehlbrandt, Geschäftsführer der Hertie-Stiftung, zit. nach: Eine Chance für Fleißige, in: Rheinische Post v. 13.9.2005), während „normale“ oder sozial benachteiligte Migrant(inn)en höchstens im Rahmen einer medialen Problemdiskussion über Schulen, in denen kaum noch Deutsch gesprochen wird, eine Hauptrolle spielen (vgl. z.B. „Null Deutsch“ auf dem Schulhof, in: Rheinische Post v. 13.9.2005; „Deutze Spracke isse swäre Spracke“. Die Lage der Einwanderer-Kinder in Köln – Das tägliche Elend in Kindergärten und Schulen, in: Kölner Stadt-Anzeiger v. 14.11.2005). Negativ und manchmal mit einem kaum verhohlenen Hang zum Paternalismus wird über Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund berichtet, die Bildungslücken aufweisen und soziale Transferleistungen beziehen. Auch wohlmeinende Journalist(inn)en machen oft den Fehler, die Migrationssituation als Kumulation von Sprach- und Bildungsdefiziten zu beschreiben, was ihrer Komplexität keineswegs gerecht wird und den betroffenen Familien, ausländischen Müttern und Vätern einen Großteil der Schuld am Versagen ihrer Kinder zuschiebt (vgl. z.B. „Lumpensammler“ Hauptschule. Schüler mit Sprachschwächen und aus schwierigsten Familien brauchen Krisenmanager als Lehrer, in: Kölner Stadt-Anzeiger v. 19./20.11.2005).

Gleichzeitig erscheinen Ausländer in folgenden Kontexten als brutale Gewalttäter: bei Familienstreitigkeiten bzw. „Stammesfehden“ und Fußballspielen. Für den zuletzt genannten Themenkreis war die Berichterstattung über Ausschreitungen nach einem wertlosen 4:2-Sieg der Türkei gegen die Schweiz im WM-Qualifikationsspiel am 17. November 2005 kennzeichnend. Auf dem Titelblatt verkündete die Kölner Ausgabe der Bild-Zeitung tags darauf „Prügel-Türken: FC-Star Alpay der Schlimmste“, im Sportteil berichtete sie unter der Überschrift „Die Nacht der Schande von Istanbul“ und druckte ein Interview mit Fifa-Präsident Joseph Blatter unter der Frage „Sperren für alle türkischen Mannschaften?“ ab.


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