Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Die Bundesagentur für Arbeit ergreift Partei gegen die Verlängerung des Arbeitslosengeldes und die Agenda-Verfechter missbrauchen ihre parteiischen Daten
Datum: 16. Oktober 2007 um 9:26 Uhr
Rubrik: Bundesagentur für Arbeit, Fachkräftemangel, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Manipulation des Monats
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Eine „Sonderbroschüre“ der Bundesagentur für Arbeit (BA) unter dem Titel die „Situation von Älteren am Arbeitsmarkt“ [PDF – 180 KB], die im Oktober zeitlich passend zur Kontroverse um die Vorschläge von Kurt Beck zur moderaten Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I erschienen ist, gehört derzeit zu den in der öffentlichen Debatte am meisten zitierten Publikationen. Die Anhänger von Hartz IV verbuchen die dort aufgelisteten positiven Zahlen über die Beschäftigung Älterer als „Erfolg der politischen Arbeit“. Hartz IV habe gewirkt.
Kann man einen solchen Zusammenhang aus diesen Daten der BA wirklich herstellen? Wolfgang Lieb
Aus den in der „Sonderbroschüre“ zusammengestellten Zahlen zieht die BA u.a. folgendes Resümee:
Dies sei auf die „Veränderung von Anreizen“ und „insbesondere auf die Verkürzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld“ zurückzuführen.
Es ist üblich geworden aus statistischen Korrelationen (Wechselbeziehungen) Handlungsanweisungen für die Politik abzuleiten. Das zeigt sich z.B. an den immer häufiger verbreiteten Benchmarks oder Rankings und daraus gefolgerten politischen Empfehlungen.
Das Aufzeigen solcher Wechselbeziehungen gilt in der Ökonomie und in der Wissenschaft generell als extrem simple Methode (selbst wenn das mit hohem Rechenaufwand verbunden ist): Man hat ein begrenztes Problem vor Augen – hier etwa die Arbeitslosigkeit Älterer – und stellt entsprechende Daten in eine Wechselbeziehung mit selbigem Problem und leitet aus einer statistischen Beziehung eine Begründung für eine Lösung – eine „Reform“ – ab. Statistische Korrelationen werden so unvermittelt zu Kausalitäten erklärt.
Solche Korrelationen können als Vorsichtsmaßnahme etwa bei Verträglichkeitsprüfungen von Medikamenten durchaus sinnvoll sein. Daraus mag man auch Hypothesen für Ursachenerklärungen ableiten. Wirkliche Erklärungskraft können solche statistischen Zusammenhänge aber nur erlangen, wenn der Vergleich zwischen statistisch erfasstem Verlauf und der tatsächlichen Entwicklung im Lichte einer Theorie auf kausale und funktionale Begründungen überprüft würde.
Werden jedoch solche ursächliche Wirkungszusammenhänge nicht nachgewiesen, haben Korrelationen etwa den sinnlosen oder beliebigen Erklärungswert von Aussagen der Art, dass, wo es viele Störche gibt, auch viele Kinder geboren werden, oder dass, wenn man jeden Tag Rotwein trinkt, das Herzinfarktrisiko sinkt. Warum solche Zusammenhänge bestehen, wenn sie überhaupt bestehen, bleibt völlig offen.
Man könnte beliebig viele andere Korrelationen des Beschäftigungsanstiegs Älterer mit anderen Sachverhalten herstellen als den Zusammenhang mit der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes:
„2006 hat die Bevölkerungsstärke der Altersgruppe der 50- bis unter 60-Jährigen zugenommen“ und von dem Rückgang von knapp zwei Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse seit Oktober 2000 waren Ältere und hier vor allem die Gruppe der 50- bis 55-Jährigen schwächer betroffen, schreibt die Bundesagentur in der Sonderbroschüre dazu selbst.
Mindestvoraussetzung für Rückschlüsse aus einer statistischen Korrelation wäre, dass die genannten Zahlen über den „sprunghaften Anstieg“ wenigstens vergleichbar wären. Doch selbst daran bestehen Zweifel. Die Bundesagentur merkt in ihrer Sonderbroschüre selbst an, dass die deutliche Zunahme der Erwerbsquoten Älterer seit 2005 durch „Umstellungen im Erhebungsverfahren des Mikrozensus (bessere Erfassung geringfügiger Beschäftigung) etwas überzeichnet sein dürfte.“ Um wie viel überzeichnet, würde man gerne wissen, bevor mit solchen Erfolgsmeldungen öffentlich hantiert wird?
Schaut man nicht nur auf die absolute Zahl der Erwerbstätigen, so fällt die Zunahme des Anteils der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an der Bevölkerung (Beschäftigungsquoten im engeren Sinne) bei den über 50-Jährigen von 2005 auf 2006 mit 1,9 und bei den über 55-Jährigen mit 2,4 Prozentpunkten deutlich niedriger liegen, als die von den Agenda-Verfechtern überschwänglich gelobten beachtlich höheren Zahlen über die Zunahme älterer Erwerbstätiger insgesamt.
In der Sonderbroschüre der BA wird nicht bestritten, dass Ältere über 50 ihre Arbeitslosigkeit mit nur 29,1 % seltener als alle Arbeitslosen (35,6%) durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit beenden. Wo die überwiegende Zahl der über 50-Jährigen Arbeitslosen landet, darauf gibt die Broschüre keine Antwort, sondern verweist nur darauf, dass „ihnen – anders als jüngeren Arbeitslosen – die Alternative der Altersrente offen“ stünde.
Ausschließlich von Seiten der Befürworter einer (Wieder-)Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere wir der Einwand vorgetragen, dass die Arbeitslosenquote (bezogen auf die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung) für Ältere mit 12,8% (für 50- bis unter 65-Jährige) und 12,4% (für 55- bis unter 65-Jährige), im Vergleich zu 11,6% für die 15- bis unter 65-Jährigen immer noch höher liegt.
Und unbestritten können die Verteidiger der Vorschläge Becks darauf hinweisen, dass Ältere Arbeitslose im Vergleich zu allen Arbeitslosen deutlich länger arbeitslos sind:
„Ältere Arbeitslose beenden durchschnittlich nach 66,9 Wochen ihre Arbeitslosigkeit, alle Arbeitslosen nach 41,9 Wochen. 54,3% der älteren Arbeitslosen sind seit über einem Jahr arbeitslos, bei allen Arbeitslosen liegt der Anteil bei 39,1%“, heißt es immerhin dazu in der Broschüre.
Nach all dem hier Ausgeführten ist es schon ziemlich gewagt, wenn die Bundesagentur weiter schreibt: In diesen Daten (über die längere Arbeitslosigkeit Älterer WL) „spiegeln sich nicht nur Hindernisse bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wider. Die Daten reflektieren (!) auch Ansprüche auf einen (immer noch) längeren Bezug von Arbeitslosengeld.“ Dieser „Reflex“ der Daten mag für die Verfasser der Broschüre plausibel sein, eine harte Begründung können sie jedoch nicht bieten.
Man könnte noch eine Menge andere Korrelationen für die (leicht) verbesserte Beschäftigungssituation Älterer bilden. Alle diese Wechselbeziehungen könnten bestenfalls einmal mehr belegen, dass in einer Volkswirtschaft eben alles mit allem zusammen hängt und es praktisch nie einen ausschließlichen Grund für signifikante Entwicklungen gibt. Darin sind sich seriöse Wissenschaftler einig.
Der Versuch, das Beschäftigungswachstum dem einen oder anderen Sachverhalt oder einer einzelnen Gesetzesbestimmung zuzurechnen, muss scheitern. “Genauso gut könnte man sein Gegenüber spontan auffordern, eine Zahl zwischen 0 und 100 zu nennen”, spottet Hartmut Seifert, der Leiter des WSI, des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, über alle Versuche, hier eine Prozentzahl für den jeweiligen Einfluss einzelner Faktoren zu ermitteln.
Über die viel höhere und eindeutigere Signifikanz des Zusammenhangs zwischen dem Anstieg der Konjunktur und der Beschäftigung Älterer wird im Zusammenhang mit den Vorschlägen Kurt Becks zur Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere allenfalls am Rande gesprochen.
Während in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit die Schuld von den Vorständen der Bundesagentur und von der Politik zuerst auf die negativen Einflüsse einer schwachen oder stagnierenden Konjunktur geschoben wurde, gilt der Rückgang der Arbeitslosigkeit als ein Erfolg der Politik.
Dieses Eigenlob der Politiker (das von vielen Medien einfach nachgeplappert wird) stinkt:
Als die Arbeitslosigkeit stieg und stieg, lag das an der schlechten Konjunktur, für die ja angeblich die Politik nichts konnte, als die Arbeitslosigkeit (ein wenig) abnahm, lag das natürlich an der guten Politik.
Dass vor allem die wirtschaftliche Situation die Beschäftigungslage von Alt und Jung bestimmt, zeigt sich etwa darin, dass bei einer Gegenüberstellung der Erwerbstätigenquoten von 55- bis 64-Jährigen und der Arbeitslosenquoten von 15- bis 24-Jährigen in Ländern mit hoher Alterserwerbstätigkeit auch die Jugendarbeitslosigkeit eher gering ist und umgekehrt.
Auch die Broschüre der BA kommt nicht um die Feststellung herum, dass Ältere „offensichtlich den aktuellen Wirtschaftsaufschwung stärker nutzen als Jüngere, um wieder am Erwerbsleben teilzuhaben“.
In der Tat kenne ich keine Statistik, in der nicht ein enger, wenn auch nachlaufender positiver Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und Beschäftigung (bzw. Rückgang der Arbeitslosigkeit) ausgewiesen wäre. Es gibt in sämtlichen Statistiken, nahezu sämtlicher Länder kaum einen eindeutigeren Zusammenhang. (Siehe als nur ein Beispiel bei Eurostat den Vergleich von Beschäftigungswachstum der Wachstumsrate des realen BIP.
Kaum ein Ökonom bestreitet den Zusammenhang des aktuellen Rückgangs der Arbeitslosigkeit und der relativ geringen Zunahme an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung mit dem derzeitigen leichten konjunkturellen Aufschwung.
Der leichte Anstieg des Wirtschaftswachstums in den letzten beiden Jahre wurde nach übereinstimmender Meinung vor allem durch die Weltkonjunktur induziert und kaum durch die Binnennachfrage und – entgegen aller Behauptungen der Bundesregierung – schon gar nicht durch eine wirtschaftspolitische Ankurbelung der Wirtschaft im Innern.
Angesichts der eindeutigen Korrelation zwischen Wachstum und Beschäftigung wäre es in jedem Fall näher liegend, statt sich über eine zweifelhafte Wechselbeziehungen eines winzigen Teilelements des Hartz IV-Gesetzes zu streiten, sich darüber Gedanken zu machen, wie der konjunkturelle Aufschwung stabilisiert werden könnte.
Als Begründung für eine Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes bei der Arbeitsmarktreform muss das sozialpsychologische Motiv des „Forderns und Förderns“ herhalten. Dieses Motiv lässt sich unschwer so übersetzen, nämlich „Druck“ auf die Arbeitslosen zu machen, jede angebotene Stelle zu jedem angebotenen Preis anzunehmen. Je früher das ALG I gestrichen wird, desto früher müsste diese Schmerzgrenze erreicht sein.
Das „Fördern“ würde aber doch nur gelingen, wenn der Arbeitsmarkt Stellen in ausreichender Zahl anbieten würde. Der logische Bruch in der Argumentation des „Forderns“ besteht doch darin, dass der Druck – sofern der Bedarf an Arbeit nicht zunimmt – allenfalls einen Verdrängungseffekt auf andere (vielleicht geringer qualifizierte) Arbeitnehmer ausübt.
Hinter der Parole vom „Fördern und Fordern“ verbirgt sich das neoklassische ökonomische Dogma, dass Arbeitslosigkeit ihre Hauptursache darin hat, dass die Löhne zu hoch seien. Wären sie nur niedrig genug und hätten sie nur einen „markträumenden“ Preis, dann wäre das Problem beseitigt. Selbst wenn dieses Gleichgewichtsmodell der Wirklichkeit entspräche, so könnte das bestenfalls zur weiteren Senkung der Lohnstückkosten beitragen und zu weiterem exportinduziertem Wachstum führen. Die Binnennachfrage würde durch den geringeren Lohnanstieg noch mehr begrenzt und die deutsche Volkswirtschaft würde sich noch exportabhängiger machen, also sie ohnehin schon ist.
Der Streit um ein paar Monate Arbeitslosengeld länger oder nicht ist letztlich ein Streit darüber, ob der Druck auf die arbeitslosen Älteren hochgehalten oder ob dieser Druck ein wenig gemildert werden sollte. Es handelt sich also um eine Auseinandersetzung auf der Basis des neoklassischen Dogmas.
Der wirklich wichtige Streit müsste sein:
Hat Hartz IV oder haben die Hartz-Reformen überhaupt Arbeitsplätze geschaffen?
Der Ende 2006 vorgelegte Endbericht der wissenschaftlichen Evaluierung der Hartz-Reformen belegte, dass sie allenfalls im geringen Umfang zur Überwindung der Arbeitslosigkeit beigetragen und den Arbeitsmarkt allenfalls flexibilisiert haben, denn zugenommen haben Mini-Jobs, Leiharbeitsverhältnisse und andere prekäre Arbeitsverhältnisse.
Resümee:
So politisch richtig ich eine Verlängerung der Bezugsdauer auch halte, so lenkt dieser Streit von der Kernfrage, nämlich eines Paradigmenwechsels in der Wirtschaftspolitik ab: einer Abkehr vom herrschenden neoklassischen Dogma.
Wenn dieser Streit nicht zum Anlass genommen wird, eine vernünftigere Wirtschaftspolitik für mehr Arbeitsplätze für Jung und Alt einzuleiten, bringt er – selbst wenn er zugunsten von Beck ausginge – allenfalls eine kosmetische Korrektur einer falsch angelegten Politik. Ob nun mehr oder weniger Druck auf die Arbeitslosen ausgeübt wird, mag für jeden Betroffenen wichtig sein, damit wird jedoch kein zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen. Es bleibt nämlich dabei: Hartz kuriert an den Symptomen der Arbeitslosigkeit durch den Kampf gegen Arbeitlose, setzt aber nicht an den Ursachen an.
Das Motiv der BA für diese Botschaft liegt auf der Hand:
Die Bundesagentur hat ein massives Interesse an einer möglichst kurzen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Die Auszahlung dieser Versicherungsleistungen erfolgt aus ihrem Haushalt. Nach der Bezugsdauer des Alg I muss die Bundesagentur zwar einen sog. Aussteuerungsbetrag für jeden oder jede bezahlen, die ins Alg II abrutscht. Das Alg II geht jedoch überwiegend eben nicht auf Kosten der BA, sondern zu Lasten des Bundes bzw. etwa für das Wohngeld auf Kosten der Kommunen. Die Bundesagentur würde sich also einen Tort antun, wenn sie für eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes I plädierte.
Dass die BA zu Lasten der langzeitarbeitslosen Alg II-Empfänger spart und ungestraft sparen kann, beweisen die Überschüsse, die sie in den letzten beiden Jahren „erwirtschaftet“ hat.
Fazit: Die Bundesagentur für Arbeit ergreift in der Debatte um die Verlängerung des Arbeitslosengeldes für Ältere Partei für die Hartz-Gesetze und die Sonderbroschüre ist nicht mehr und nicht weniger als parteiisch. Sie hat damit nur eine Vorlage für die Verfechter der Agenda-Politik geliefert.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=2694