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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Von Grillen und Ameisen – Sozialpsychologische Aspekte des Griechenland-Bashings und der Sparpolitik
Datum: 15. Juli 2015 um 10:07 Uhr
Rubrik: Ideologiekritik, Schulden - Sparen, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Wer hart arbeiten und sich ständig am Riemen reißen muss, droht zu einem Menschen des Ressentiments zu werden. Die Gewalt, die nötig war, um Menschen in Arbeitswesen zu verwandeln, wird in der Wut spürbar, mit welcher der arbeitende Mensch auf diejenigen reagiert, die es real oder vermeintlich besser haben. Es geht im Folgenden um die sozialpsychologischen Aspekte der Auseinandersetzung zumal der Deutschen in der Europäischen Union mit ihrem Außenseiter Griechenland und der dortigen Regierung. Was spielt sich unterhalb der Ebene der offiziellen Texte ab? Von welchen unbewussten psychischen Energien und emotionalen Kräften werden die Debatten angetrieben? Von Götz Eisenberg.
„Ganz Europa lässt sich seit einem Jahrhundert von den Leitzordnern unterdrücken und die Unterdrückung der Leitzordner verschärft sich, dachte ich. Bald wird ganz Europa von den Leitzordnern nicht nur beherrscht, sondern vernichtet sein.“
(Thomas Bernhard)
„Zu faul zum Hungern, diese Griechen!“
Wo man geht und steht, sind Sätze wie diese zu hören: „Die sollen endlich mal anfangen, zu arbeiten, diese Griechen“, „Wir müssen auch hart arbeiten für unser Geld“, „Das sehe ich überhaupt nicht ein, denen immer wieder Geld in den Arsch zu blasen“, „Bei diesen Südländern ist immer nur Siesta!“
Die taz präsentiert von Böhmermann und Heufer-Umlauf gesammelte Schlagzeilen deutscher Medien zu Griechenland – von Stern, Welt, Spiegel, über die Frankfurter Allgemeine Zeitung bis hin zu Bild: „In Wirklichkeit sind die Griechen doppelt so reich wie wir.“ „Nein, keine weiteren Milliarden für die gierigen Griechen.“ „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen.“ „Russen oder Griechen, wer ist eigentlich gefährlicher?“ „Chaotische Verwaltung.“ „Der Euro ist kein Geschenk der Götter.“
In der Auseinandersetzung mit und um die Syriza-Regierung, vor allem aber mit dem inzwischen zurückgetretenen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis spielt ein pädagogisches Vokabular eine große Rolle. Syriza und Varoufakis seien ungezogen und unverschämt, verhielten sich unzivilisiert, hätten ein rüpelhaftes Benehmen, Varoufakis sei ein Halbstarker, ein Halb-Verrückter. Man behandelt die griechische Regierung wie eine Horde von Rotzlöffeln, die zunächst zivilisiertes Verhalten einzuüben hätte, bevor man sie ernst nehmen und mit ihr vernünftig verhandeln könne. Man muss diese Rotzlümmel unter Kuratel stellen, am besten man entmündigt sie und bestellt einen Vormund aus den Reihen der Troika. Varoufakis ist für die Euro-Repräsentanten der Inbegriff alles Schrecklichen, und Tsipras hat ihn auf dem Weg zum Kompromiss geopfert.
In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 4./5. Juli 2015 wird den Leserinnen und Lesern Klaus Regling vorgestellt, der Chef des Europäischen Rettungsfonds. Niemand habe den Griechen so viel Geld geliehen wie er, lesen wir da.
“Als kleiner Junge hat Klaus Regling in den 1950er Jahren erlebt, was es heißt, wenn das Geld knapp wird. Wenn alle sparen müssen – und es vielleicht trotzdem nicht reicht. Das prägt fürs Leben. Reglings Vater betrieb damals eine Tischlerei in Lübeck. Liefen die Geschäfte einmal nicht so gut, musste er das letzte Geld zusammenkratzen, um am Freitag die Lohntüten für seine Gesellen vollzumachen. ‘Wenn die Lage nicht so gut war, mussten wir eben sparen’. (…)”
Es ist unglaublich, wie hier die privaten Erfahrungen eines Tischlermeisters im Nachkriegsdeutschland auf die Lage eines ganzen Landes inmitten der Wirtschafts- und Finanzkrise der Gegenwart übertragen wird. Die Tischlerfamilie konnte damals mal nicht in Urlaub fahren, während die Griechenland verordnete Sparerei dazu führt, dass sich Menschen umbringen, Säuglinge sterben, die Arzneimittel knapp und die Hoffnungen der jungen Leute auf ein anständiges Leben zuschanden werden. Seit Beginn der von der Troika verantworteten sogenannten Reformmaßnahmen hat sich die Lage in Griechenland dramatisch verschlechtert. Der Schuldenberg wuchs von 240 Milliarden im Jahr 2008 auf rund 320 Milliarden. Die aufgezwungene Austeritätspolitik ist an die Wand gefahren und hat das Land vollends ruiniert. Griechenland ist ein Probierstand, auf dem die Untauglichkeit dieser Form von politischer Ökonomie nachgewiesen wird. Dabei hatten bereits die Bürger von Schilda entsprechende Erfahrungen mit dem Sparen. Die Schildbürger hatten ein Pferd, dem im Zuge von Sparmaßnahmen das Futter gekürzt wurde. Da das Pferd zunächst mit weniger Hafer die gleiche Leistung wie zuvor erbrachte, beschloss man, die Haferrationen nach und nach weiter zu kürzen. Am Tag, als die Schildbürger glaubten am Ziel zu sein, das Pferd also ganz ohne Futter arbeiten würde, fanden sie es tot im Stall.
130 Milliarden Euro schulden die Griechen dem Europäischen Rettungsfonds, den er aufgebaut hat und seit fünf Jahren leitet. Und Regling gab das Geld nur unter der Bedingung her, dass die Griechen sparen. Sparen wie einst seine Eltern in Lübeck. Wenn es jemanden gibt, der das griechische Drama erklären kann und all die Wirkungen rund um den Euro kennt, dann ist er es”, und so weiter und so weiter.
Zur Psychodynamik des Ressentiments
So wie der Chef des Rettungsschirms Regling denken die meisten:
“Wir haben auch den Gürtel enger schnallen müssen, warum tun das die Griechen nicht auch?”
Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaité wandte sich dieser Tage mit folgenden Botschaft an die Athener Adresse:
„Die Zeit des Feierns auf Kosten anderer ist vorbei für Griechenland.“
In der Sendung Anne Will vom 8. Juli unter dem bezeichnenden Titel Nach der Kampfansage aus Athen – Ist Merkels Europa noch zu retten? machte eine Rentnerin aus Litauen ihrer Empörung mit den Worten Luft: „Ich habe kein Mitleid mit den Griechen. Ich bin dafür, dass die Renten und Gehälter gekürzt werden, damit sie endlich mit Arbeiten beginnen und ihr Geld selbst verdienen.“ Die ganze Sendung war durchzogen von dem Tenor: Unsere Geduld mit Griechenland ist zu Ende!
Das Griechenland-Bashing läuft nach dem Vorbild einer Fabel von Jean de La Fontaine aus dem 17. Jahrhundert ab, die die Die Grille und die Ameise heißt:
Die Grille, die den Sommer lang
zirpt’ und sang,
litt, da nun der Winter droht’,
harte Zeit und bittre Not:
Nicht das kleinste Würmchen nur,
und von Fliegen eine Spur!
Und vor Hunger weinend leise,
schlich sie zur Nachbarin Ameise,
und fleht’ sie an in ihrer Not,
ihr zu leihn ein Stückchen Brot,
bis der Sommer wiederkehre.
»Hör’«, sagt sie, »auf Grillenehre,
vor der Ernte noch bezahl’
Zins ich dir und Kapital.«
Die Ameise, die wie manche lieben
Leut’ ihr Geld nicht gern verleiht,
fragt’ die Borgerin: »Zur Sommerzeit,
sag doch, was hast du da getrieben?«
»Tag und Nacht hab’ ich ergötzt
durch mein Singen alle Leut’.«
»Durch dein Singen? Sehr erfreut!
Weißt du was? Dann tanze jetzt!«
Wie mühelos diese Fabel zu unseren Vorurteilen passt! Wir denken, dass sie die Griechenland-Krise erzählt und verhalten uns den Griechen gegenüber wie die Ameisen. Wir rufen aus: „Es ist doch so: Während wir hier schuften, den ganzen Tag lang und bis ins hohe Alter hinein, tänzeln die Südländer bloß ein bisschen herum und hauen unsere Ersparnisse auf den Kopf.“
Heinrich Böll hat im Jahr 1963 zum Tag der Arbeit für den Norddeutschen Rundfunk eine Geschichte verfasst, die von einem Touristen erzählt, der im Urlaub in einem südlichen Hafen einem Fischer begegnet, der am späten Vormittag dösend im Schatten seines Bootes liegt. Nachdem er ihm eine Zigarette angeboten hat, befragt er ihn zu seinen heutigen Fängen und erfährt, dass dieser bereits fertig gefischt hat und mit seinem Fang zufrieden ist. Der Tourist begreift nicht, wieso der Fischer nicht öfter ausfährt. Er versucht ihm klarzumachen, dass er sich dann ein größeres Boot kaufen und mehr Fische fangen könne. Sogar eine Konservenfabrik könne er bei größerem Arbeitseifer eröffnen. Der Fischer sieht nicht recht ein, was ihm das bringen solle. Der Tourist versichert ihm, am Gipfel seiner Karriere und zu Reichtum gekommen, könne er sich zur Ruhe setzen und tagsüber im Hafen herumdösen. Der Fischer ist erstaunt und erwidert, dass er das auch jetzt schon könne und praktiziere.
Die mediterrane Ökonomie, die noch die Kategorie des „Genug“ kennt, prallt in dieser Geschichte auf die protestantische Ethik des Nordens mit ihren von Max Weber beschriebenen Berufs-, Arbeits- und Leistungsvorstellungen. Im Zuge der verordneten Wege aus der Eurokrise sollen Griechen und andere Südländer die asketische Arbeitsmoral und kapitalistische Wachstums-Ideologie verinnerlichen. Es geht bei den sogenannten Reformvorschlägen auch um die Rache des asketisch-protestantischen Nordens am laxeren Lebensstil und vor allem Lebensgefühl des Südens, wo man schon mal fünfe gerade sein ließ und das Leben genoss.
Der Süden ist ein Sehnsuchtsort der Nordeuropäer. Aufgrund bestimmter sozioökonomischer und psychohistorischer Bedingungen hat sich im Süden Europas eine andere Mentalität durchgehalten, ein anderes Verhältnis zur Arbeit und zum Körper. Die dort lebenden Menschen mussten nicht auf die gleiche Weise „erwachsen“ werden wie die Nordeuropäer und haben sich etwas Spielerisch-Tänzerisches-Grillenartiges bewahren können. Der abendländische Erwachsenenhabitus ist durch Langsicht, Arbeitszentrierung, zweckrationales Denken, eine Vorliebe für rechte Winkel, Triebverzicht, Aufschub von Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet. Aus der Perspektive des Nordens wirken die Südländer wie Kinder, denen man die Hammelbeine langziehen und die man zur Vernunft erziehen muss.
Friedrich Nietzsche hat in seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft den abendländischen Erwachsenen und die eigene Reizbarkeit unter dem Stichwort Selbstbeherrschung wie folgt beschrieben:
„Jene Morallehrer, welche zuerst und zuoberst dem Menschen anbefehlen, sich in seine Gewalt zu bekommen, bringen damit eine eigentümliche Krankheit über ihn. Nämlich eine beständige Reizbarkeit bei allen natürlichen Regungen und Neigungen und gleichsam eine Art Juckens. Was auch fürderhin ihn stoßen, ziehen, anlocken, antreiben mag, von innen oder von außen her – immer scheint es diesem Reizbaren, als ob jetzt seine Selbstbeherrschung in Gefahr gerate: er darf sich keinem Instinkte, keinem freien Flügelschlag mehr anvertrauen, sondern steht beständig mit abwehrender Gebärde da, bewaffnet gegen sich selber, scharfen und misstrauischen Auges, der ewige Wächter seiner Burg, zu der er sich gemacht hat. Ja, er kann groß damit sein! Aber wie unausstehlich ist er nun für andere geworden, wie schwer für sich selber, wie verarmt und abgeschnitten von den schönsten Zufälligkeiten der Seele! Ja auch von aller weiteren Belehrung! Denn man muss sich auf Zeiten verlieren können, wenn man den Dingen, die wir nicht selber sind, etwas ablernen will.“
Die Außen- und die Innenseite des Sparens
Die Spardiktate und das Sparen haben eine Innenseite: Gespart wird nicht nur am Geld, sondern auch an Emotionen und Trieben. Es gibt nicht nur einen Haushalt im ökonomischen Sinn, sondern auch einen Triebhaushalt, den man sparsam bewirtschaften muss. Wenn man die Gesichtszüge des Chefsparers Schäuble auf den letzten Pressekonferenzen zu Griechenland beobachtet hat, so erinnerten sie an den zusammengezurrten Geldbeutel eines Geizigen.
Beim Bild des „faulen Griechen“ handelt es sich natürlich nicht um die Realität, sondern um Projektionen und Phantasien. Die Griechen haben längere Jahresarbeitszeiten als die Deutschen und wer einmal griechische Landwirte oder Bauarbeiter auf Großbaustellen beobachten konnte und gesehen hat, was die unter heißer Sonne leisten, der wird seine Vorurteile schnell aufgeben und eines Besseren belehrt. Es ist aber trotz aller Mühe alles nicht so verbissen und verkrampft. Vielleicht trägt das warme Klima etwas bei zur Leichtigkeit des Seins. Und tatsächlich können Griechen – und keineswegs nur Alexis Sorbas – tanzen und haben allein dadurch etwas von den La Fontain‘schen Grillen.
Uns Ameisen geht angesichts dieser Grillen-Mentalität das Messer in der Tasche auf. Warum tut es das? Das Messer geht einem in der Tasche auf, wenn Äußeres innen auf Verschüttetes trifft. Die Begegnung mit der Grille erinnert einen daran, dass man auch einmal weniger eingespannt, weniger fremdbestimmt leben wollte und diesen Wunsch unter Schmerzen begraben musste. Nach Art des ressentimentgeladenen kleinen Mannes sagt man nun: „Die da reißen sich nicht so am Riemen wie wir“, und fordert gleiches Unrecht für alle. Die Krise in Griechenland gilt als Strafe für die Sünden der Griechen, und gemäß den heiligen Grundsätzen der „Schwarzen Pädagogik“ darf man ihnen auf keinen Fall beispringen, weil Mitleid und Hilfe ihre laxe Haltung und notorische Faulheit begünstigen. Die Griechen müssen erst einmal ärmer als die Balten oder die Slowaken werden, dann kann man ihnen karitative Hilfe zukommen lassen.
Lob der Grille
Vielleicht sind wir alle einmal Grillen gewesen. Uns Nordeuropäer erfolgreich in Ameisen verwandelt zu haben, kann als größtes verhaltensmodifikatorisches Experiment der jüngeren Geschichte gelten. Immense frühkapitalistische Gewalt war vonnöten, um aus menschlichen Lebewesen Arbeitswesen zu machen und die Körper zu Arbeitsinstrumenten herzurichten. Am Ende des Experiments stehen Menschen, die unter entfremdeten Bedingungen arbeiten wollen und sich das Produkt ihrer Arbeit widerstandslos wegnehmen lassen. Und nimmt man ihnen diese Arbeit, drohen sie psychisch auseinanderzubrechen.
„Der Mensch“, hat Herbert Achterbusch einmal gesagt, „möchte etwas anderes als tüchtig sein, nämlich nichts als seinen Kopf in die Luft zu halten“. Richard Sennet berichtet, dass ihm eine Frau, die ehrenamtlich in einem Sterbehospiz arbeitet, erzählte, dass sie es nie erlebt hat, dass ein Sterbender sagte: „Ach, wäre ich doch früher öfter mal länger im Büro geblieben.“
Paul Lafargue, der ungeliebte Schwiegersohn von Karl Marx, schrieb eingangs seines Buches Lob der Faulheit:
“Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht. Diese Sucht, die Einzel- und Massenelend zur Folge hat, quält die traurige Menschheit seit zwei Jahrhunderten. Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen.”
“Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits Bedürfnis der Erholung und fängt an, sich vor sich selber zu schämen”
, stellte Friedrich Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft fest und erinnerte daran, dass diese nahezu einhellige Wertschätzung der Arbeit neueren Datums und anderen Kulturen durchaus fremd ist. Noch im späten Mittelalter dachte man ganz anders: Gerade die Mußelosigkeit, die Unfähigkeit zur Muße, hänge mit der Trägheit zusammen; die Rastlosigkeit des Arbeitens um der Arbeit willen entspringe gerade aus der Trägheit. Wer nicht denken will, flüchtet in die Arbeit. Schon Platon behauptete, dass man nicht denken könne, wenn man es eilig habe und geschäftig sei. Das ist eine aristokratische Einstellung, aber auch wenn wir in Rechnung stellen, dass diese privilegierte Haltung auf Kosten von Sklaven und anderen Unfreien ging, bleibt es doch richtig, dass es eine Verbindung zwischen Denken und Zeit gibt. Im alten Griechenland nannte man die Geschäftigkeit des Werktages, die Arbeit, folgerichtig Un-Muße, und auch bei den Römern war otium die Muße und Negotium bedeutete Geschäft, Tätigkeit, Arbeit. Da hat sich im Laufe der Geschichte der Entwicklung der modernen Arbeitsgesellschaften eine folgenschwere und kennzeichnende Umkehrung vollzogen.
Aus aufgezwungener Tüchtigkeit entstehen Ressentiments
Das Schlimme ist: Aus der aufgezwungenen Tüchtigkeit entstehen Ressentiments gegen den, der real oder vermeintlich sein Brot nicht im Schweiße seines Angesichts isst. Der eigene verfemte Teil, das in sich selbst fremd und bedrohlich Gewordene, wird nach außen gestülpt und auf „Faulenzer und Schmarotzer“ projiziert. Am Ende des Experiments haben wir die Religion der Arbeit verinnerlicht und hassen denjenigen, der (real oder vermeintlich) nicht so hart arbeitet wie wir – statt endlich selbst ein Stück locker zu lassen und uns den wesentlichen Dingen zu widmen. Weil man selbst glaubt, hart arbeiten zu müssen oder es wirklich muss, denunziert man die, von denen zu Recht oder Unrecht behauptet wird, sie hätten es leichter.
Ameisen könnten zu Grillen werden
Eine wahre Entgegnung auf den Faulheitsvorwurf wäre, dass Arbeit alten Stils heute weitgehend überflüssig, dass sie durch die Technik überholt ist und dass es etwas tief Verlogenes hat, einer bestimmten Gruppe Vorwürfe zu machen, dass sie nicht hart genug physisch arbeitet. Es ist Menschenrecht, sich nicht physisch quälen zu müssen, sondern sich (jedenfalls auch) geistig, künstlerisch und spielerisch entfalten zu können. Ameisen könnten längst zu Grillen werden.
Die Zeit wäre reif, die Utopie von Valerio aus Büchners Leonce und Lena in der gesellschaftliche Realität anzustreben:
„Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht.“
Valerio fährt in seiner Schlaraffenland-Fantasie gegen das erstarrte Leben fort:
„Und ich werde Staatsminister, und es wird ein Dekret erlassen, dass, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird; dass, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; dass jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft für gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!“
Im Verlag Brandes & Apsel ist Anfang des Jahres Götz Eisenbergs neues Buch Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus erschienen.
Siehe dazu die Rezension von Joke Frerichs auf den NachDenkSeiten.
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