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Titel: Föderalismusreform: Vom kooperativen Föderalismus zum Wettbewerbsföderalismus – künftig herrscht zwischen den Ländern das Recht des Stärkeren
Datum: 20. Dezember 2005 um 17:37 Uhr
Rubrik: Bundesregierung, Erosion der Demokratie, Innen- und Gesellschaftspolitik
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Am 15. Dezember haben die die Ministerpräsidenten der Länder einstimmig der bei den Koalitionsverhandlungen mitbeschlossenen sog. Föderalismusreform zugestimmt. In den Medien gab es ein großes Aufatmen: Endlich könne die Blockade zwischen Bundestag und Länderkammer beim Verabschieden von Gesetzen aufgehoben werden. Kanzlerin Merkel lobte, dass nunmehr „das Gemeinwohl und das gesamtstaatliche Interesse“ nach vorne gebracht werden könne. Die Föderalismusreform bringt eine reibungslosere Entscheidungsmacht für den Bund einerseits und mehr Zuständigkeiten für die Bundesländer sowie mehr Wettbewerb zwischen ihnen andererseits. Letzteres bedeutet mehr Provinzialität und das in Zeiten eines supranationalen Einigungsprozesses. Mehr Wettbewerb bringt zudem eine Stärkung des Rechts des Stärkeren zwischen den Ländern.
Durch die striktere Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeiten von Bund und Ländern, sollen künftig nicht mehr rund 60 Prozent der Bundesgesetze, sondern nur noch 30 bis 35 Prozent die Zustimmung der Länder benötigen. Der Bundesregierung soll also künftig das „Durchregieren“ (Merkel) erleichtert werden. Die Länder handelten sich dafür im Gegenzug eine nahezu ausschließliche Zuständigkeit im Hochschulwesen, mehr Rechte im Öffentlichen Dienst vor allem auch bei der Besoldung, mehr Zuständigkeiten bei der Umweltgesetzgebung und in anderen Rechtsgebieten ein und außerdem sollen die Länder größere Spielräume etwa bei einigen Steuergesetzen bekommen.
Der in der Bundesrepublik stark ausgeprägte Föderalismus war ein „Geschenk“ der Alliierten. Niemals sollte Deutschland wieder in Gefahr geraten, dass eine zu starke Zentralregierung auf legalem Wege in eine Diktatur übergehen kann. Vor allem deshalb räumte das Grundgesetz den Ländern ein starkes Gegengewicht und effektive Kontrollrechte gegenüber dem Bund ein.
Niemand kann bestreiten, dass im Bundesrat als Mitwirkungsorgan der Länder auf die Bundesgesetzgebung schon seit der destruktiven „Sonthofen-Strategie“ eines Franz-Joseph Strauß zu Zeiten der sozial-liberalen Koalition, bis hin zur Erzwingung einer faktischen großen Koalition in der zurückliegenden Regierungszeit von Rot-Grün die Mitbestimmungs- und Zustimmungsbefugnisse der Länderregierungen parteipolitisch gegen Bundesregierungen mit einer jeweils anderen politischen Mehrheit eingesetzt, ja sogar missbraucht wurden.
Das war allerdings nicht etwa einem Webfehler unserer Verfassung sondern einer den Funktionssinn des Bundesstaates pervertierenden Übersteigerung der „Machtbesessenheit“ (von Weizsäcker) von Parteipolitikern geschuldet. Statt die Vielfalt der Initiativen zu fördern, statt horizontaler Gewaltenteilung, statt einer Stärkung des Subsidiaritätsgedankens und statt eines integrativen Instruments zur Konfliktbewältigung wurden diese konstruktiven Funktionen des Föderalismus für den Bundesstaat durch parteipolitische Blockaden oder Machtgezerre im Bundesrat desavouiert.
Nicht eine Föderalismusreform hätte also eigentlich auf die politische Tagesordnung gehört, sondern der machtpolitische Missbrauch des bundesstaatlichen Organs Bundesrat hätte mit Nachdruck bekämpft werden müssen. Statt die CDU-Ministerpräsidenten für ihre Blockadepolitik zu kritisieren, geriet der Föderalismus in die Kritik.
Diese „Föderalismusreform“ firmiert somit eigentlich unter einem völlig falschen Namen: Nicht die seit Gründung der Bundesrepublik über Jahrzehnte erfolgreichen und nach wie vor vernünftigen Prinzipien des Föderalismus werden gestärkt, sondern das „Durchregieren“ der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien auf der einen Seite wird erleichtert und die Regelungszuständigkeiten der Länder andererseits werden erweitert.
Statt also dem Bundesstaat in Zeiten einer rückläufigen Gestaltungsmacht des nationalen Gesetzgebers gegenüber weltweit agierenden, übermächtigen Wirtschafts- und Finanzinteressen wenigstens wieder mehr innerstaatlichen Gestaltungsraum zu schaffen und statt in einer Phase der Verlagerung von nationalen Entscheidungsbefugnissen etwa auf die supranationale europäische Eben gerade auf wichtigen länderübergreifenden Handlungsfeldern eher mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu geben, werden dem Bund durch diese „Reform“ umgekehrt Kompetenzen und Rahmensetzungschancen auf vielen, für die Zukunft immer wichtiger werdenden Politikfeldern, wie dem Hochschulwesen, der Umweltgesetzgebung oder bei der Neuordnung des Öffentlichen Dienstes zugunsten der Länder entzogen.
Dazu in gebotener Knappheit eine kurze Darstellung der „Reformen“:
Allein auf dem Gebiet der inneren Sicherheit wird die Zentralisierung deutlich gestärkt, also etwa durch die Ausweitung der BKA-Kompetenzen zur Abwehr terroristischer Gefahren.
Als Begründung für die Vermehrung der Länderzuständigkeiten hört man landauf landab, dass die größere Autonomie mehr Deregulierung und mehr Wettbewerb zwischen den Ländern ermögliche und dass dies unser Land und seine Menschen – endlich – voranbrächte.
Nun erleben wir ja Tag für Tag, was Deregulierung und mehr Wettbewerb auf transnationaler und internationaler Ebene in der Realität bedeuten. Sie lösen einen Wettlauf um die Senkung von Steuern oder die Senkung von ursprünglich einmal politisch gewollten Umwelt- und sozialen Standards aus. Gibt es nicht gerade deshalb immer mehr politische Bemühungen um staatenübergreifende Harmonisierung und Koordinierung der entsprechenden Regelungen?
Mehr Wettbewerb bedeutet gleichzeitig aber auch, dass die Stärkeren sich gegen die Schwächeren durchsetzen oder dass die gegenüber Umwelt- und Sozialstandards skrupelloseren politischen Akteure diejenigen in Zugzwang setzen, für die diese Errungenschaften einen hohen Wert darstellten.
Was auf europäischer Ebene bis hin zur Bundesregierung inzwischen – etwa bei der Dienstleistungs-Richtlinie – wenigstens verbal bekämpft wird, weil das zu einem weiteren „Dumping“ von historisch erkämpften sozialen Rechten führen würde, wird jetzt im Landesinneren zum Prinzip erhoben.
Die Abwerbung von Spitzenkräften durch die finanzkräftigeren Länder gegenüber den finanzschwächeren durch die unterschiedliche Bezahlung etwa von Professoren, Lehrern oder Verwaltungsbeamten gehört künftig zum erwünschten Länderwettbewerb. Wir bekommen sozusagen einen „Bayern-München-Effekt“ auf der politischen Ebene: Die „Bayern“ kaufen etwa dem armen FC Cottbus oder dem nicht so finanzkräftigen 1. FC Köln die hoffnungsvollen Spieler ab, sie bauen damit ihre Spitzenposition in der Tabelle aus und Cottbus und Köln steigen eben ab. Was man beim Fußball noch hinnehmen könnte, weil da nur private Vereine oder die Hoffnungen von Fußball-Fans betroffen sind, führt auf der staatlichen Ebene zu einem weiteren Verlust an Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland, und das zu Lasten von Millionen von Menschen, die eben nicht in den finanzstärkeren Ländern leben.
Der zunehmende Standortwettbewerb zwischen den Ländern, wird in der Umweltpolitik, wie wir es gegenwärtig auf internationaler Ebene erleben, zu einem Abschleifen der Umweltstandards führen. Es wird eben dort investiert, wo die geringsten Standortanforderungen bestehen und wo die niedrigsten Investitions- und Produktionskosten entstehen.
Angesichts des laufenden „Bologna-Prozesses“, mit dem Ziel der Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraumes mit einheitlichen Zertifikaten und Abschlüssen und mit der Harmonisierung von Studieninhalten zur Förderung der Mobilität von Studierenden innerhalb Europas, ist es geradezu absurd, wenn in Deutschland die Regelungsbefugnis hierfür der Provinzialität anheim gegeben wird.
Die Abschaffung der gemeinschaftlichen Finanzierung des Hochschulbaus und der Forschungsgroßgeräte an den Hochschulen durch den Bund und die Länder kann eigentlich nur zu unsinnigen und teuren Mehrfachinvestitionen zwischen den „starken“ Wettbewerbern führen und weiter dazu, dass die ärmeren Länder bei der Qualität der Ausbildung und der Forschung gegenüber den reicheren nicht mehr mithalten können, weil sie sich die „guten“ (leider meist teuren) Leute und die Forschungsgroßgeräte nicht leisten können. Der Ruf dieser Hochschulen in den armen Ländern (vor allem im Osten) wird noch mehr leiden. „Eliteausbildung“ findet bei denen statt, die sich das leisten können. Damit wird einer der international anerkannten Vorteile des deutschen Hochschulwesens, nämlich ein qualitativ einigermaßen gleichwertiger Leistungsstandard aller Hochschulen über die gesamte Republik verspielt.
Dass angesichts der wenig schmeichelhaften Pisa-Ergebnisse für Deutschland nun auch noch eine einheitliche Bildungsplanung abgeschafft werden soll, gehört mit zu den größten Unsinnigkeiten dieser Föderalismusreform.
Mit dieser Reform haben sich einmal mehr die politischen und gesellschaftlichen Kräfte durchgesetzt, die von „Deregulierung“ und „Wettbewerb“ nicht nur mehr Effizienz erwarten, sondern darin geradezu das zentrale Steuerungs- und allumfassende Heilmittel nicht nur für die wirtschaftlichen Prozesse, sondern auch für die gesellschaftlichen und politischen Abläufe sehen.
Nichts gegen Wettbewerb, weder im Sport und schon gar nichts gegen den Wettbewerb zwischen Betrieben und ihren jeweiligen Produkten auf dem Markt. Der Wettbewerb hat zwischen den Marktteilnehmern eine unersetzbare steuernde Funktion. Das Wettbewerbsprinzip jedoch immer mehr auf die Gesellschaft und den Staat zu übertragen, birgt riesige Gefahren für den Zusammenhalt des politischen Gemeinwesens und für die Demokratie insgesamt.
Dazu braucht man sich nur einmal kurz auf die Prinzipien oder Motive zu besinnen, die hinter einer wettbewerbsgesteuerten im Unterschied oder sogar Gegensatz zu einer demokratischen (politischen) Gesellschaft stehen.
Um es noch einmal zu sagen: Es geht hier nicht um eine radikale Kritik am Wettbewerb oder gar dessen Ablehnung, dort wo er seinen Sinn und seinen Platz hat. Wenn der Wettbewerbsgedanke jedoch zum herrschenden Funktionsprinzip für Staat und Gesellschaft wird, dann gerät die demokratische Substanz in Gefahr.
Eine demokratische Gesellschaft braucht zwar auch den Wettbewerb als ein wichtiges Regulativ der Wirtschaft, aber die historische Erfahrung zeigt, dass umgekehrt Wettbewerb durchaus auch ohne Demokratie auskommt. Für die Geltung von Wettbewerbsprinzipien ist die Demokratie vielleicht hilfreich, aber keineswegs konstituierend. Es ist ja schließlich kein Zufall, dass in den faschistischen Diktaturen von Hitler bis Franco, von der griechischen über die portugiesische bis zur chilenischen Militärdiktatur der kapitalistische Wettbewerb weitgehend unangetastet blieb und selbst die imperialistische Kriegswirtschaft im Nazi-Deutschland kannte zumindest noch einen oligopolistischen Wettbewerb.
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