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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Die globale Ordnung zerbricht
Datum: 2. Juli 2015 um 9:29 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Interviews, Medien und Medienanalyse, Neoliberalismus und Monetarismus, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Warum schreitet die ökologische Zerstörung des Planeten trotz unzähliger Klimagipfel ungebremst voran? Warum hungern mehr Menschen als je zuvor auf der Erde, obwohl noch nie so ungeheure Reichtümer angehäuft wurden wie heute? Warum erweisen sich die globalen Eliten als unfähig, die Richtung zu ändern, obwohl ihr Kurs in einen planetaren Crash führt? Antworten auf diese Fragen liefert der Berliner Autor und Journalist Fabian Scheidler in seinem soeben erschienenen Buch, in dem er die Wurzeln jener Zerstörungskräfte freilegt, die heute die menschliche Zukunft infrage stellen. Jens Wernicke sprach mit ihm über das „Ende der Megamaschine“ und über Möglichkeiten, gemeinsam einen Ausgang aus der gefühlten Ohnmacht zu finden.
Herr Scheidler, Sie gehen in Ihrem aktuellen Buch der Frage nach, was die Wurzeln der sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen sind, die wir derzeit erleben. Dazu bürsten Sie einen Großteil der modernen Geschichte gegen den Strich und konstatieren dabei unter anderem, der Neoliberalismus sei gar nicht des Pudels wahrer Kern, sondern stelle nur „die jüngste Phase eines wesentlich älteren Systems, das von Anfang an, seit seiner Entstehung vor etwa 500 Jahren, auf Raubbau gründete“ dar. Wie kamen Sie auf die Idee – und was meinen Sie, wenn sie von „Megamaschine“ sprechen?
Wenn wir uns mit den globalen Krisendynamiken beschäftigen, den Finanzkrisen, der Verschärfung der Kluft zwischen Arm und Reich und der Biosphärenkrise, dann sprechen wir oft über die letzten 30 Jahren, die Phase des „Neoliberalismus“. Natürlich ist diese Phase von einem radikalen Angriff auf soziale Rechte und die Umwelt geprägt, aber die Wurzeln der globalen Krisen reichen meines Erachtens wesentlich tiefer. Um diesen angemessen begegnen zu können, brauchen wir daher mehr als eine Rückkehr zu den vermeintlich glorreichen 1960er Jahren. Wir brauchen eine Transformation, die die Tiefenstrukturen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems erfasst.
In meinem Buch ging es mir darum, diesen Tiefenstrukturen auf die Spur zu kommen und herauszufinden, was uns eigentlich davon abhält, den dringend notwendigen Wandel einzuleiten. Denn an Wissen über unser dysfunktionales Finanz- und Wirtschaftssystem, den Klimawandel und die strukturellen Ursachen von Armut fehlt es ja wahrlich nicht.
Der Ausdruck „Megamaschine“ ist dabei eine Metapher für ein ökonomisches, militärisches und ideologisches System, das vor etwa 500 Jahren in Europa entstand und sich rasant über die Welt verbreitete. Die historische Bestandsaufnahme zeigt sehr deutlich, dass dieses System von Anfang an mit radikaler Ausbeutung von Mensch und Natur und massiver physischer Gewalt verbunden war.
Ist „Megamaschine“ also gleichbedeutend mit jenem Gesellschaftssystem, das man auch Kapitalismus nennt?
In vieler Hinsicht, ja. Das Wort „Kapitalismus“ erweckt aber oft den Eindruck, es gebe so etwas wie ein selbständiges Wirtschaftssystem und daneben den Staat, das Militär, „freie Medien“ und andere eigenständige Institutionen. Die historische Analyse zeigt jedoch, dass sich all diese Institutionen von Anfang an co-evolutionär entwickelt haben, dass sie eng miteinander verflochten sind und ohne einander gar nicht existieren können.
Der „freie Markt“ etwa, der so gern von Wirtschaftsliberalen beschworen wird, hat überhaupt nie existiert, selbst nicht in der Hochphase des Liberalismus im 19. Jahrhundert: Unternehmen und Unternehmer waren von Anfang an auf einen starken militarisierten Staat angewiesen, um ihre Eigentumsansprüche auch durchsetzen zu können. Die „Ursprüngliche Akkumulation“, von der Marx schreibt, war stets damit verbunden, dass Menschen gewaltsam von ihrem Land vertrieben wurden, dass Widerstand polizeilich und militärisch gebrochen wurde. Und die wirtschaftliche Expansion Europas war stets auch eine militärische. Die ersten Aktiengesellschaften, die um 1600 gegründet wurden, waren staatenähnliche Gebilde mit hochgerüsteten Militärapparaten, eigenen Söldnerheeren und Flotten: Die 16 Prozent Dividende für die Aktionäre in Amsterdam und London wurden von Anfang an mit Gewalt, einschließlich diverser Völkermorde, erwirtschaftet.
Umgekehrt hätte der moderne Staat – und in den ersten Jahrhunderten war dieser Staat vor allem eine Militärmaschinerie – niemals ohne das private Kapital entstehen können. Die Händler und Bankiers von Genua, Augsburg und Antwerpen liehen Kaisern und Königen das Geld, um ihre Söldnerheere aufzubauen, mit denen nicht nur Kriege geführt, sondern auch Steuern eingetrieben wurden, die der Staat wiederum brauchte, um seine Schulden zu bezahlen und noch mehr Soldaten anzuheuern. Im Gegenzug zu den Krediten wurden den Händlern und Bankiers dann Monopole zugesprochen, die ihnen erlaubten, ungeheure Kapitalmengen zu akkumulieren, die unter den Bedingungen echter Konkurrenz niemals möglich gewesen wären.
Moderner Staat und Kapital sind also Teil eines Kreislaufsystems, sie sind so etwas wie untrennbare Zwillinge. Das sieht man auch heute daran, dass die meisten der 500 größten Unternehmen der Welt ohne verdeckte oder offene Subventionen gar nicht mehr existieren würden – und zwar nicht nur die Großbanken, die ohne staatliche Rettungsmilliarden längst zusammengerbrochen wären, sondern auch große Teile der fossilen Energiewirtschaft, der Autobranche und viele mehr.
Und wenn wir die Destruktivität dieses Systems überwinden wollen, brauchen wir nicht nur andere wirtschaftliche Institutionen und Logiken, wir brauchen auch und vor allem eine Transformation des Staates sowie politischen Systems, um beide aus ihren Verflechtungen mit den großen Konzernen herauszulösen.
„Längst kritisieren auch bekannte Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, die ‚Auswüchse‘ des Neoliberalismus und beklagen die wachsende soziale Ungleichheit als dessen unerwünschtes Nebenprodukt.
Falsch, sagt David Harvey: Weshalb kommt diesen Leuten denn ‚nie der Gedanke, dass die soziale Ungleichheit womöglich von Anfang an der Zweck der ganzen Übung war‘? Die neoliberale Wende, so Harvey, wurde in den 70er-Jahren zu dem alleinigen Zweck eingeleitet, die Klassenmacht einer gesellschaftlichen Elite wiederherzustellen, die befürchtete, dass ihre Privilegien nachhaltig beschnitten werden könnten.“
David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus
Sie haben auch die Medien erwähnt. Welche Rolle spielen sie in diesem System?
Neben physischer Macht und struktureller Gewalt – etwa durch Eigentumsverhältnisse und Schulden – spielt ideologische Macht eine zentrale Rolle für das Funktionieren der Megamaschine. Denn die Gewalt, ohne die das System nicht auskommt, braucht Legitimation.
In der Frühen Neuzeit erfüllte diese Funktion vor allem die staatliche und kirchliche Propaganda, die durch den Buchdruck ihre Reichweite noch erheblich erweitern konnte. In dem Maße, wie der Buchdruck aber billiger wurde, sich sozusagen „demokratisierte“ und revolutionäre Bewegungen die Repression herausforderten, entstanden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zahlreiche kritische Zeitungen und Verlage. Es war die Zeit dessen, was Jürgen Habermas die „bürgerliche Öffentlichkeit“ genannt hat. Im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aber konzentrierte sich das Medieneigentum dann zunehmend in der Hand von immer weniger Magnaten, von Julius Reuter, dem Gründer der ersten Presseagentur, bis zu Alfred Harmsworth, William Hearst – dem Vorbild von „Citizen Kane“ – und Alfred Hugenberg. Noam Chomsky und Edward S. Herman haben dieses Prozess ausgiebig in ihrem Buch „Manufacturing Consent“ analysiert.
Der Clou dabei ist: Wenn die Presse einfach der Logik des Marktes ausgeliefert wird, dann braucht es kaum noch offizielle Zensur, um das Spektrum der öffentlichen Diskussion auf systemkompatible Positionen einzuengen. Die Eigentümerstruktur, die Abhängigkeit von Anzeigen, die Auswahl der Quellen und der vorauseilende Gehorsam gegenüber mächtigen Interessengruppen filtern unbequeme, nicht systemkonforme Positionen effektiv heraus. Das können wir auch heute in der deutschen Medienlandschaft an zahlreichen Beispielen sehen, etwa an der verzerrten Berichterstattung über Griechenland oder über die Ukraine-Krise.
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass inzwischen fast der gesamte deutsche Zeitungsmarkt sechs Milliardärsfamilien gehört, dann braucht man sich über die Inhalte, die man liest – oder auch nicht liest –, kaum zu wundern. Diese Pressemacht ist sehr wichtig, denn wenn die Menschen seriös über politische und ökonomische Zusammenhänge informiert würden, könnten die Eliten unter den Bedingungen einer formalen Demokratie ihre Politik, die sich gegen Bevölkerungsmehrheiten richtet, nicht mehr durchsetzen.
Und diese „Maschine“ funktioniert nun nicht mehr richtig, sagen Sie… Warum ist das so?
Es gibt sowohl innere als auch äußere Grenzen für die globale Megamaschine. Die inneren Grenzen sind ökonomischer Art. Seit Mitte der 1970er Jahre haben wir es mit einer strukturellen Krise der Akkumulation zu tun. Damals, nach dem Boom der Nachkriegszeit, gab es einen schweren Einbruch, Großbritannien etwa war praktisch bankrott, ebenso die Stadt New York, es war eine schwere globale Rezession.
Die Antwort darauf war dann das, was wir heute als „Neoliberalismus“ bezeichnen: radikale Umverteilung von unten nach oben; Schwächung der Gewerkschaften und Lohndrückerei; Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer; Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen; Deregulierung und Ausweitung spekulativer Aktivitäten. David Harvey nennt das „Akkumulation durch Enteignung“. Das trifft es ganz gut.
All diese Mittel waren zwar effektiv, um für einzelne Wirtschaftsakteure Profite zu sichern und zu steigern; auf das Gesamtsystem haben sie aber destabilisierend gewirkt. Spekulation etwa lohnt sich für die Summe der Spekulanten nur, wenn irgendwer auch die Verluste trägt, die beim Platzen von Blasen entstehen. Und aller neoliberalen Rhetorik von freien Märkten und Risiko zum Trotz, war das von Anfang an die öffentliche Hand, die die Verluste schließlich übernahm und zwar nicht erst seit der Finanzkrise 2008 sondern schon seit den 1980er Jahren, etwa in der großen „Savings and Loans Crisis“ in den USA. Private Schulden werden so in öffentliche umgewandelt. Und Lohndrückerei hat zur Folge, dass die Kaufkraft der Bevölkerung mehr und mehr schwindet. Um weiter konsumieren zu können, müssen sich die Bürger dann verschulden. Hier wie dort wächst also die Schuldenlast im System, um den Prozess der Akkumulation noch irgendwie aufrecht zu erhalten.
Hinzu kommt ein anderer Prozess, der die vom neoliberalen Rollback geschaffenen Probleme weiter verschärft: Immer mehr Arbeit wird durch Technik ersetzt, nicht nur in Industrie und Landwirtschaft, sondern durch die Computerisierung auch in den Dienstleistungssektoren der Mittelschicht. Der Arbeitsgesellschaft geht, global gesehen, die Arbeit aus, das System kann immer weniger Menschen eine Perspektive geben. Die Folge von dieser doppelten Dynamik ist, dass inzwischen immer mehr Regionen in Massenarbeitslosigkeit versinken.
Das einzige denkbare Gegenmittel gegen diesen Tsunami von Arbeitslosigkeit und Verschuldung würde darin bestehen, gewaltige öffentliche Investitionen in Gang zu setzen, die durch eine massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen aus Kapitalerträgen finanziert werden, und gleichzeitig radikale Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnausgleich durchzusetzen. Aber dagegen kämpfen die ökonomischen Eliten und ihre politischen Helfer natürlich mit aller Kraft an – und verschärfen damit die systemische Krise immer mehr. Und auch von den Nationalstaaten und ihren jeweiligen politischen Klassen ist hier nicht viel zu erwarten, da sie in der Logik einer sich zuspitzenden Standortkonkurrenz gefangen sind. Je erfolgreicher alle Akteure also ihre kurzfristigen Interessen verfolgen, desto schneller untergraben sie die Grundlagen des Systems, von dem sie selbst sich ernähren, sie sägen sozusagen am Ast, auf dem sie sitzen.
Alles ist also nur ein wirtschaftliches Problem?
Nein es ist weit mehr. Denn neben den inneren Grenzen stößt das System auch an äußere Grenzen. Die „Megamaschine“ zerstört die globalen lebenserhaltenden Systeme der Biosphäre, von denen sie selbst auf lange Sicht abhängt, und zwar mit atemberaubender Geschwindigkeit. Das betrifft nicht nur das Klima, auf das sich die Kritik gern fokussiert. Wir bewegen uns auch in eine Süßwasserkrise von globaler Tragweite hinein, die im Westen der USA und in Nordchina längst begonnen hat; wir verlieren ein Prozent unserer fruchtbaren Böden pro Jahr; wir haben bereits das schnellste und möglicher Weise größte Artensterben in der Geschichte des Lebens auf der Erde in Gang gesetzt. Diese Krisen wiederum lösen schwere soziale, ökonomische und politische Verwerfungen aus. Die Kombination dieser verschiedenen Krisendynamiken bringt eine chaotische Situation hervor, die jeder Idee von „global governance“ Hohn spricht. Die Megamaschine fährt so in Zeitlupe gegen die Wand, und ihre Steuermänner drehen planlos an verschiedenen Reglern, mit denen sie am Ende alles nur schlimmer machen können.
Eine umfassende Transformation ist daher unvermeidbar, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nicht, ob sie kommt, sondern lediglich, wie sie aussehen wird: Wird sie von reaktionären Kräften bestimmt, die ihre Macht und Privilegien mit allen Mitteln weiter aufrecht zu erhalten versuchen, auch um den Preis von Massenverelendung und eines ruinierten Planeten? Oder können emanzipatorische Kräfte die Krisen und Brüche nutzen, um neue Formen des Wirtschaftens und der politischen Organisation auf den Weg zu bringen?
Im Moment zeichnet sich da eher so etwas wie ein reaktionärer „Coup d’Etat der Konzerne“ ab: Mithilfe von staatlichen und suprastaatlichen Akteuren wie der EU versuchen die ökomischen Eliten, ein neues Rechtssystem zu schaffen, um die Reste demokratischer Kontrolle auszuschalten und so eine Art neofeudales Tributsystem zu errichten, das ihre Profite in einer wankenden globalen Ökonomie sichern soll.
„Investitionsschutz“-Abkommen wie TTIP sind zum Beispiel ein Baustein in dieser Strategie. Die Ausschaltung der Demokratie sowie jeder makroökonomischen Vernunft im Erpressungsspiel gegen Griechenland ist ein anderes Beispiel. Hier sollen die Profite eines eigentlich längst bankrotten Zombiebankensystems gerettet werden, indem ein ganzes Land ausgeblutet und die Zukunft der EU aufs Spiel gesetzt wird.
Immerhin gibt es aber auch Hoffnungsschimmer: Immer mehr Menschen wachen langsam auf und wehren sich gegen diesen „Staatsstreich in Zeitlupe“, wie etwa der Widerstand gegen TTIP zeigt. Aber es sind immer noch viel zu wenige.
Einen wichtigen Teil Ihres Denkgebäudes und Kritiksystems macht auch die Destruktion „zivilisatorischer Mythen“ aus. Das erinnert ein wenig an die Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen und Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“. Wurden Sie hiervon inspiriert? Und: Um welche „Mythen“ geht es Ihnen dabei?
Sie haben zwei großartige, bewegende Texte angesprochen, von Brecht und von Benjamin. Sie sind sehr wichtige Einsprüche gegen eine ideologisch verzerrte Geschichtsschreibung, die Geschichte als ein Ringen großer Männer beschreibt und die Expansion des Westens als eine universale success story von Fortschritt und Zivilisierung verkauft.
In meinem Buch war es mir wichtig, Geschichte aus der Perspektive der Menschen zu erzählen, die unter dem System von Anfang an gelitten haben, die von seinem Räderwerk erdrückt oder traumatisiert wurden. Historiker gehören ja in der Regel zu den wohlhabendsten 10 Prozent der Weltbevölkerung, und neigen daher – bewusst oder unbewusst – dazu, Geschichte aus der Perspektive der Gewinner zu schreiben.
Und aus dieser Perspektive – der Sicht der Herrschenden und Privilegierten – lassen sich die letzten 500 Jahre tatsächlich als ein großes Aufwärts erzählen. Für die Millionen Indigenen in Nord-, Süd- und Mittelamerika, die in der Conquista und nordamerikanischen Kolonisierung ermordet wurden, oder für die durch Sklavenhandel, Kolonialismus und moderne „Strukturanpassungen“ zerstörten Gesellschaften Afrikas und Südostasiens und für viele andere ergibt sich jedoch eine ganz andere Geschichte. Und wenn man diese Menschen mit einbezieht, die Toten und die Lebenden, dann bricht der Mythos von der heilbringenden zivilisatorischen Mission des Westens in sich zusammen, dann zeigt sich eher so etwas wie der benjaminsche „Engel der Geschichte“, der auf eine lange Verwüstungsspur zurückblickt.
Zugleich gab und gibt es aber auch massiven Widerstand, der sich gegen die Zumutungen des Systems zur Wehr setzt. Auch wenn es in 500 Jahren nicht gelungen ist, seine Logik zu überwinden – auch der Realsozialismus vermochte das ja nur sehr bedingt und um einen sehr hohen Preis –, so haben diese sozialen Bewegungen uns doch einen wichtigen Spielraum von Freiheiten verschafft, auf dem der Weg in eine umfassende gesellschaftliche Transformation aufbauen kann.
Und die nächsten, ggf. ersten Schritte auf diesem Weg, sollten, könnten Ihrer Auffassung nach welche genau sein? Was täte am dringendsten not?
Überall auf der Welt sind längst Millionen Menschen dabei, Auswege aus der destruktiven Logik der endlosen Kapitalakkumulation zu suchen. Es geht darum, ökonomische Strukturen wieder in die Hand von Bürgerinnen und Bürgern zu bringen und die Logik des Profits durch eine Logik des Gemeinwohls zu ersetzen.
Die Energiewende von unten ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn Menschen dafür kämpfen, ihre Stromversorgung den fossilen Riesen zu entreißen und sie in eine kommunale Genossenschaft überführen, die mit regionalen erneuerbaren Energien arbeitet, dann ist das nicht nur ein Beitrag zum Ausstieg aus Atomkraft, Kohle und Öl. Es ist auch eine Selbstermächtigung der Bürger, ein Akt echter Demokratie. Und es ist ein Beitrag zum Ausstieg aus der Logik endloser Geldvermehrung.
So etwas brauchen wir auf allen Ebenen. Es geht darum, uns zu fragen: Was brauchen wir für ein gutes Leben? Und diese Dinge dann in gemeinwohlorientierten Strukturen bereitzustellen, ob das die Wasser- und Gesundheitsversorgung ist, Ernährung oder Wohnen, ja sogar das Geldsystem. Das bedeutet natürlich auch, bisherige Macht- und Eigentumsverhältnisse herauszufordern. Das Charmante an einem solchen dezentralen, pluralen Ansatz ist, dass die Bürgerinnen und Bürger selbst vor Ort praktisch aktiv werden können, Erfolgserlebnisse haben und nicht auf eine abstrakte Revolution irgendwann in der Zukunft warten müssen.
Ein Ausstieg aus der Megamaschine ist machbar, so wie auch ein Atomausstieg machbar war. Das Energiebeispiel zeigt aber auch, dass es einen langen Atem braucht, der Atomausstieg hat immerhin 40 Jahre gedauert.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Fabian Scheidler, geboren 1968, studierte Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin und Theaterregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/M. Seit 2001 arbeitet er als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen, Theater und Oper. 2009 gründete er mit David Goeßmann das unabhängige Fernsehmagazin Kontext TV, das regelmäßig Sendungen zu Fragen globaler Gerechtigkeit produziert. Zahlreiche Vorträge zu Globalisierungsthemen bei Kongressen von Attac, Deutsche Welle, Greenpeace, Evangelische Akademie u. a. Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus (2009). Programmkoordinator für das Attac-Bankentribunal in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (2010). Als Dramaturg und Theaterautor arbeitete er viele Jahre für das Berliner Grips Theater. 2013 wurde seine Oper „Tod eines Bankers“ am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz uraufgeführt.
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