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Titel: „Knebelverträge binden ausländische Pflegekräfte an besonders üble Arbeitgeber”
Datum: 11. Mai 2015 um 9:32 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Fachkräftemangel, Gewerkschaften, Interviews, Pflegeversicherung
Verantwortlich: Redaktion
Ein Gespräch mit Kalle Kunkel über die Arbeitsbedingungen ausländischer Pflegekräfte in Deutschland. Kunkel ist Gewerkschaftssekretär bei ver.di im Fachbereich Gesundheit, zuständig insbesondere für den Pflegebereich. Im Rahmen dieser Tätigkeit kommt er immer wieder mit dem Thema der Migration in Berührung. Das Interview führte Patrick Schreiner.
Patrick Schreiner: Wenn wir mal versuchen, die Beschäftigung von Pflegekräften in Deutschland zu gliedern, dann fallen mir drei Gruppen ein: stationäre Pflege (also Heime, Krankenhäuser), ambulante Pflegedienste sowie Pflege in Privathaushalten.
Kalle Kunkel: Ja, ich würde sagen, das sind schon die Wesentlichen, die es gibt. Für mich liegt dabei – mit Blick auf einwandernde Pflegekräfte – der entscheidende Unterschied zwischen allen Formen von ambulanter und stationärer Pflege auf der einen Seite und der 24-Stunden-Pflege in Privathaushalten auf der anderen Seite. Bei der Pflege in Privathaushalten haben diejenigen, die die Pflegekräfte beschäftigen, zwar oft ein Interesse daran, dass diese qualifiziert sind. Die Arbeitgeber brauchen aber nicht unbedingt formal anerkannte, hochqualifizierte Fachkräfte. Die berufliche Qualifikation der Fachkräfte wird daher oft nicht anerkannt. Das ist bei stationärer und ambulanter Pflege – also im offiziellen Pflegebetrieb – anders. Dort haben die Arbeitgeber ein zunehmendes Interesse, über diese Pflegekräfte ihre Fachquoten zu erhöhen. Deshalb legen sie Wert auf die formale Anerkennung der Qualifikationen ihrer ausländischen Mitarbeiter.
Was bedeutet Fachquote in diesem Zusammenhang?
Kalle Kunkel: Um Pflege im Krankenhaus betreiben zu können, braucht es ein bestimmtes Personal, braucht es einen Anteil an Fachkräften. Es gibt da zwar leider keine definierten Quotenregelungen, aber unterhalb einer gewissen Grenze macht man sich unter Umständen der Fahrlässigkeit schuldig. Deshalb wollen die Arbeitgeber nachweisen, dass sie qualifiziertes Personal einsetzen. Im Altenpflegebereich gibt es sogar tatsächlich definierte Fachkräftequoten, die auf Landesebene vorgegeben werden.
Welche Rolle spielt Migration von Pflegekräften in diesen drei Beschäftigungsbereichen, die wir identifiziert haben?
Kalle Kunkel: Wir haben eine langjährige Immigration im Bereich der 24-Stunden-Pflege in Privathaushalten. Sie hat sich in den letzten Jahren mit der EU-Osterweiterung nochmal verändert, denn dadurch kam ein Teil dieser Migration aus der Illegalisierung heraus. Das betrifft Osteuropa. Heute sind da die so genannten Vermittlungsagenturen das Hauptproblem, bei denen ein großer Teil des Geldes bleibt. Die Familien bezahlen relativ viel Geld für die Pflege der Pflegebedürftigen, bei den Beschäftigten kommt aber nicht allzu viel an, ein guter Teil bleibt bei den Vermittlungsfirmen. Und dann haben wir das zweite Phänomen, die seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise in den südeuropäischen Ländern nach Deutschland kommenden Pflege-Fachkräfte. Das ist ein Krisenphänomen. Wegen der Ausblutung und Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme und der sozialen Infrastruktur in diesen Ländern wird insbesondere den jüngeren Kolleginnen und Kollegen keine Perspektive mehr geboten. Sie sehen sich dann in den nördlichen europäischen Ländern um – und hier insbesondere in Deutschland.
Wo arbeiten sie hier? In Heimen, Krankenhäusern, bei Pflegediensten?
Kalle Kunkel: Wir finden das inzwischen überall. Der größte Fachkräftemangel herrscht momentan in der Altenpflege. Deswegen sind relativ viele hier tätig. Interessant daran ist, dass der Beruf der Altenpflege eine deutsche Besonderheit darstellt; in anderen Ländern gibt es das als spezielle Fachqualifikation oft gar nicht. Deswegen läuft die formale Anerkennung als Krankenpfleger, sie werden allerdings dennoch in der Altenpflege eingesetzt. Es gibt aber genauso ambulante Dienste, die in großer Zahl immigrierte Pflegekräfte beschäftigen. Und natürlich werben auch Krankenhäuser zunehmend ausländische Fachkräfte an.
Wie alt sind die Beschäftigten? Woher kommen sie? Und über welche Geschlechter reden wir?
Kalle Kunkel: Statistisch gibt es dazu kaum Verlässliches. Ich kann im Prinzip nur meine Eindrücke, meine Erfahrungen schildern. Ich kann sagen, mit wem ich zu tun habe. Das sind Kolleginnen und Kollegen aus Südeuropa – insbesondere Spanien, Portugal und Griechenland. Zunehmend hören wir auch von Pflegekräften vom Balkan, etwa aus Bosnien-Herzegowina, und auch aus Osteuropa, Bulgarien und Rumänien. Es sind junge Menschen, die aus den genannten Ländern zu uns kommen, die meisten weit unter 30. Was die Geschlechter angeht, das ist tatsächlich sehr durchmischt.
Sind das ausgebildete Pflege-Fachkräfte? Oder sind das Menschen, die vorher eigentlich etwas anderes gemacht haben, unter Umständen etwas Hochqualifiziertes in einem anderen Bereich, und die dann in der Pflege landen? Oder sind das Menschen ohne Ausbildung?
Kalle Kunkel: Das sind überwiegend hochqualifizierte Fachkräfte mit Hochschulstudium im Pflegebereich.
Was hat es mit den so genannten Knebelverträgen auf sich?
Kalle Kunkel: Das ist eine besondere Form von Arbeitsverträgen, die wir bei den ausländischen Pflege-Fachkräften finden. Die Unternehmen brauchen, wie schon geschildert, die Kolleginnen und Kollegen als Fachkräfte. Sie haben deswegen ein Interesse daran, dass deren Pflege-Qualifikation aus dem europäischen Ausland anerkannt wird. Dafür müssen die aber ein bestimmtes Sprachniveau nachweisen, und zwar das berufsqualifizierende Niveau B2. Das erreicht man mit einem ungefähr halbjährigen Intensiv-Sprachkurs Deutsch. Die Kosten für solche Kurse sind also im Prinzip Kosten für die Adaption der Ausbildung im Ausland an die deutschen Verhältnisse. Man muss sich bewusst machen, dass die Unternehmen ja die gesamten Ausbildungskosten sparen, die haben ja schon die Gesellschaften in den Herkunftsländern getragen. Dennoch benutzen die Unternehmen ihre eigenen Kosten – insbesondere die für die Löhne in der Sprachkurs-Zeit – als Argument für Knebelverträge. Dabei handelt es sich um Weiterbildungsverträge mit Klauseln, die dazu verpflichten, das Geld an die Unternehmen zurückzubezahlen, wenn die Beschäftigten vor einer bestimmten Frist kündigen. Wir kennen Fristen von 1,5 bis 3 Jahren. Die Rückzahlungen selbst reichen etwa von 7.000 bis 12.000 Euro. Die Sprachkurskosten werden gleichwohl oft aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanziert. Dieser macht wiederum eine Kofinanzierung durch das Unternehmen zur Bedingung – wobei Lohnzahlungen als Kofinanzierung anerkannt werden.
Dann wäre diese Kofinanzierung nicht mehr geleistet, wenn die Löhne zurückgefordert werden. Der Europäische Sozialfonds könnte von den Unternehmen die Kursgebühren zurückverlangen.
Kalle Kunkel: Das wäre in der Tat eine mögliche Interpretation. Wir haben das dem zuständigen Bundesamt für Flucht und Migration auch schon mitgeteilt und sie über die gängigen Praktiken der Unternehmen informiert. Wir wissen aber nicht, ob man dort auch tätig geworden ist.
Was sind das für Unternehmen, die so agieren?
Kalle Kunkel: Zumindest in Berlin und Brandenburg ist auffällig, dass die Unternehmen, die mit diesen Praktiken arbeiten, allesamt nicht tarifgebunden sind. In einigen von ihnen gibt es nicht einmal Betriebsräte. Die ausländischen Kolleginnen werden angeworben von Unternehmen, die berechtigterweise Fachkräftemangel haben, weil zu ihren Bedingungen nämlich niemand mehr arbeiten will. Sie werben die Beschäftigten in den Herkunftsländern bei bis zu 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit an. Und durch die Weiterbildungs- und Knebelverträge haben die Arbeitgeber die Möglichkeit, die Angeworbenen im Unternehmen zu halten. Die Beschäftigten merken natürlich sehr schnell, dass sie anderswo mehr verdienen können. Wenn sie aber versuchen zu wechseln, realisieren sie, dass sie ein paar tausend Euro Schulden haben. Die Knebelverträge binden die eingewanderten Pflegekräfte also gerade an die besonders üblen Arbeitgeber.
Folglich sind die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung dieser nach Deutschland kommenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besonders schlecht?
Kalle Kunkel: Zunächst müssen wir festhalten, dass nicht die Demographie, sondern die schlechten Löhne und Arbeitsbedingungen der Grund für den Mangel an Arbeitskräften im Pflegebereich sind. Die Kollegen, die aus dem Ausland kommen, erleben es geradezu als einen Kulturschock, dass im angeblichen Wirtschaftswunderland Deutschland die Arbeitsbedingungen im Pflegebereich oft schlechter sind als in ihren Herkunftsländern. Hinzu kommt, wie bereits erwähnt, dass zumindest in den Bereichen Berlin und Brandenburg, die ich überblicke, die Unternehmen, die offensiv auf das Anwerben setzen, gerade die mit besonders schlechten Arbeitsbedingungen und Löhnen sind.
Was kann ver.di als zuständige Gewerkschaft tun?
Kalle Kunkel: Unser oberstes Ziel ist, Tarifverträge abzuschließen. Tarifverträge sind der einzige Schutz vor unterschiedlichen Bezahlungen. Außerdem gehen wir natürlich rechtlich und politisch gegen die genannten Knebelverträge vor. Grundsätzlich sind sie legal, wir prüfen aber genau, ob etwa Förderkonditionen nicht eingehalten wurden, ob bestimmte Formulierungen in Verträgen zu unspezifisch sind oder ob Kosten nicht transparent berechnet werden. Wir beraten die Kolleginnen, wie sie damit umgehen können. Zudem organisieren wir sie. Dort, wo sich starke Kollektive bilden, gehen wir auch kollektiv und öffentlich gegen einzelne Arbeitgeber und ihre Knebelvertragspraxis vor.
Meinst du mit „Kollektive” die Selbstorganisation der Betroffenen?
Kalle Kunkel: Genau, mit Unterstützung von uns als Gewerkschaft.
Arbeitet ihr mit Beratungsstellen für mobile Beschäftigte zusammen?
Kalle Kunkel: Ja, wir arbeiten sehr intensiv mit den unterschiedlichen Beratungsstellen zusammen, die es in Berlin gibt. Insbesondere mit dem DGB-Projekt „Faire Mobilität”, aber auch mit dem Büro für entsandte Beschäftigte. Dort melden sich relativ viele Kollegen, obwohl diese Beratungsstellen für südeuropäische Herkunftsländer eigentlich gar nicht ausgelegt sind.
Welche Rolle spielt aus deiner Sicht Rassismus für diese ganze Problematik? Inwiefern werden die Beschäftigten nach rassistischen Kriterien in Schubladen gepackt und hierarchisiert?
Kalle Kunkel: Die wichtigste Form von Rassismus, die wir hier erleben, ist Wohlstandschauvinismus. Argumentationen, die man seitens der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung durchaus häufig hört, lauten etwa so: Die Kolleginnen sollen doch froh sein, dass sie hier überhaupt eine Arbeit haben. Die deutschen Unternehmen bieten denen doch angesichts der prekären Arbeitsmarktlage in den Herkunftsländern eine Chance. Die Beschäftigten sollen sich doch nicht so anstellen. Hinzu kommt eine Dequalifizierung in der Argumentation der Unternehmen: Sie sagen zum Beispiel, niedrigere Löhne seien legitim, denn die Beschäftigten beherrschten ja die Sprache nicht und seien deshalb nicht so gut einsetzbar wie andere. Das sind die zwei wichtigsten Formen rassistischer Argumente. Das ist kein biologistischer Rassismus, sondern eher ein sozialchauvinistischer.
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