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Titel: Bundesverfassungsgericht: Sozialstaat nach Kassenlage
Datum: 3. September 2007 um 9:12 Uhr
Rubrik: Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Rente, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Sowohl die am Preisindex ausgerichtete Rentenanpassung zum 1. Juli 2000 als auch deren Unterbleiben zum 1. Juli 2004 seien gesetzliche Maßnahmen, die von dem gewichtigen öffentlichen Interesse bestimmt seien, einem Finanzierungsdefizit der gesetzlichen Rentenversicherung entgegenzuwirken. Maßgebend für die Ausrichtung der Rentenanpassung am Ziel des Inflationsausgleichs zum 1. Juli 2000 sei der sprunghafte Anstieg der Staatsverschuldung gewesen.
Die Gründe für die Staatsverschuldung und die Frage, ob die jeweilige Finanzpolitik richtig oder falsch war, all das interessiert die Richter nicht. Das Bundesverfassungsgericht hält Rentenanpassungen je nach Kassenlage für verfassungsgemäß. Wolfgang Lieb
Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts über den Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit der Rentensenkungen von 2000 und 2004 enthält kein einziges juristisches, geschweige denn verfassungsrechtliches Argument. Die Richter lassen es dahingestellt sein, ob die Rentensenkungen im Lichte der Eigentumsgarantie zu bewerten sind. Sie prüfen auch nicht, ob ein Verstoß gegen den allgemeinen Vertrauensgrundsatz vorliegt. Sie behaupten einfach, die Rentensenkungen waren „von dem gewichtigen öffentlichen Interesse bestimmt, einem Finanzierungsdefizit der gesetzlichen Rentenversicherung entgegen zu wirken.“
Warum es zu dem Finanzierungsdefizit gekommen ist, das ist für die Richter uninteressant. Dass die Ursache die hohe Arbeitslosigkeit, die stagnierenden Löhne, die Zunahme des Niedriglohnsektors und damit die geringen Beitragseinnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung waren, das interessiert die Karlsruher Richter nicht.
Die Richter erschrickt ausschließlich eine mögliche Finanzierungslücke im Bundeshaushalt von 80 Milliarden DM. Dass eine solche Lücke auch durch Steuersenkungen oder durch eine falsche Finanzpolitik und nicht (nur) durch den Finanzierungsengpass bei der Rentenversicherung entstanden sein könnte, bleibt dem richterlichen Horizont verschlossen.
Professor Jarass rechnete damals nach: Hätte Deutschland „die ohnehin extrem niedrige Steuerquote des Jahres 2000 beibehalten, die bereits damals die niedrigste in der EU war, dann hätten wir im Jahr 2001 30 Milliarden und im Jahr 2003 50 Milliarden mehr Steuereinnahmen gehabt, in diesem Jahr (2004) 60 Milliarden…“ Von einer Finanzierungslücke im Bundeshaushalt von 80 Milliarden wäre ohne die Steuersenkungen also keine Rede mehr gewesen. Jedenfalls ist diese Finanzierungslücke politisch herbeigeführt worden. Ob die dramatische Senkung der Steuersätze durch die rot-grüne Bundesregierung ab 1999 im öffentlichen Interesse war, ist für die Richter keiner Überlegung wert, die Senkung der Rente jedoch war für die Verfassungshüter wie selbstverständlich von „gewichtigem öffentlichen Interesse bestimmt“.
Auch dass die Finanzpolitik von Hans Eichel, wie sich durch die sprudelnden Steuern beim derzeitigen Konjunkturaufschwung zeigt, falsch angelegt war und er mit seiner Sparpolitik die Konjunktur prozyklisch abwürgte und deshalb immer mehr Schulden aufnehmen musste, bleibt dem Erkenntnisvermögen der Richter verschlossen.
Solche wirtschafts- und finanzpolitischen Zusammenhänge brauchen Juristen nicht unbedingt zu kennen, für sie müssen das Gesetz und vor allem das Verfassungsrecht entscheidend sein. Allerdings legen sie in ihrem Beschluss gar keine rechtlichen Kriterien an, sondern sie stützen sich positivistisch auf die politisch herbeigeführte Finanzlage:
Die Finanzierungslücke im Bundeshaushalt hätte ohne gegensteuernde Maßnahmen bei rund 80 Milliarden DM gelegen. Speziell in der gesetzlichen Rentenversicherung sollte mit der Regelung zur Rentenanpassung zum 1. Juli 2000 und 2001 eine Absenkung oder jedenfalls Stabilisierung des Beitragssatzes, eine Absenkung des
zusätzlichen Bundeszuschusses und eine Absenkung der an der Rentenanpassung orientierten kurzfristigen Sozialleistungen bewirkt werden. Die Aussetzung der Rentenanpassung zum 1. Juli 2004 diente ebenfalls der Stabilisierung des Beitragssatzes und damit der Stabilisierung des Rentenversicherungssystems insgesamt.
Sie behaupten nicht nur einfach, dass die Eigentumsgarantie oder der allgemeine Vertrauensschutz der Rentner nicht tangiert seien, sie erklären die Rentenreformen auch noch ohne weitere Begründung für „verhältnismäßig“. Auch dies wiederum, ohne es an Hand der Maßstäbe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Sie behaupten einfach:
„Es handelte sich (bei den Rentenanpassungen) um zeitlich begrenzte, punktuelle Ausnahmen. Sie führten zudem nicht zu einer betragsmäßigen Reduzierung der monatlichen Rente, sondern hatten lediglich zur Folge, dass sich der Wert der Rentenbeträge infolge der zwischenzeitlichen Geldentwertung in verhältnismäßig geringem Umfang minderte.“
Ob den beamteten Richtern in ihren höchsten Besoldungsgruppen überhaupt bewusst ist, wie hoch die Durchschnittsrenten liegen und wie deutlich sich daher schon der inflationsbedingte Schwund „verhältnißmäßig“ auf die Kaufkraft auswirkt?
Der Paradigmenwechsel in der Rentenformel, nämlich die Abkehr von der Koppelung an die Entwicklung der Löhne und Gehälter, scheint für die Bundesverfassungsrichter völlig irrelevant zu sein.
Der Beschluss ist am 31. August 2007 veröffentlicht worden. Auch in Karlsruhe dürfte sich doch inzwischen herumgesprochen haben, dass selbst die Bundesregierung davor warnt, dass die gesetzliche Rente nicht mehr armutsfest und deswegen zum Erhalt eines angemessenen Lebensstandards eine private Zusatzversorgung zwingend erforderlich sei. So als hätten sie davon noch nie etwas gehört, erklären die Richter immer noch:
„Es bedarf hier keiner Entscheidung, wo konkret der Gestaltungsspielraum des
Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung seine Grenze findet, weil die Renten ihre Funktion als substantielle Alterssicherung verlören.“
Die Bundesregierung warnt also vor einem Armutsrisiko bei der gesetzlichen Rente und die Richter sehen keinen Entscheidungsbedarf, ja noch nicht einmal die Notwendigkeit einer Anmerkung. Im Gegensatz zur Einschätzung der Bundesregierung haben für sie die Renten ihre Funktion als „substantielle Altersicherung“ nicht verloren. Wie weit unter die Armutsgrenze dürfte nach Auffassung der obersten Richter im Lande die Rente also noch sinken, ohne dass es für die obersten Verfassungshüter an die „Substanz“ geht?
Dieser Beschluss beweist, dass das Bundesverfassungsgericht den Abbau der sozialen Sicherungssysteme sozusagen nur noch notariell beglaubigt.
„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes – allerdings je nach Kassenlage, müsste man als Zusatz nach diesem Beschluss der Wächter über unsere Verfassung hinzufügen.
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