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Titel: Die Verwanzung der Kinderzimmer

Datum: 21. April 2015 um 8:41 Uhr
Rubrik: Überwachung, Familienpolitik, Wertedebatte
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Die Digitalisierung des Lebens schreitet voran und bringt ständig neue Überwachungstechniken hervor. Über das Spielzeug dringen diese nun bis in die Kinderzimmer vor und sammeln Daten über die Wünsche und Sehnsüchte der Kleinsten. Erste Eindrücke von Götz Eisenberg

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung berichtet am 29. März 2015 unter der Überschrift „Das gläserne Kind“ über die Entwicklung einer neuen Barbie-Puppe, die zu Weihnachten auf den Markt kommen soll. „Hello Barbie“ heißt die Puppe und sie fragt die Kinder mit glockenheller Stimme zum Beispiel: Was ist dein Lieblingsessen? Sie kann aber auch zuhören und antworten. Wenn ein kleines Mädchen etwa zu ihr sagt: „Was soll ich mal werden, wenn ich groß bin?“, sagt die Puppe: „Vielleicht Tänzerin?“ Die Puppe speichert die Fragen und Antworten der Kinder und schickt die Sounddatei automatisch per W-Lan an die Server der Herstellerfirma, die sie an Drittanbieter weitergibt. Auch die Eltern haben Zugriff auf die gesammelten Daten und können sich ein Bild davon machen, was ihre Kinder bewegt und mit was sie sich beschäftigen.

Barbie ist nicht allein bei der Verwanzung der Kinderzimmer und beim Sammeln von Daten über die Kleinsten. Ihr zur Seite steht ein kleiner Dinosaurier namens „Cognitoy“. Der Dino steigert „im Gespräch“ mit den Kindern peu à peu die semantischen Anforderungen und überwacht ihre Fortschritte.
Immer mehr Geräte nehmen den Eltern den Umgang mit dem Kind ab. Die Geräte haben einfach mehr Zeit. Bislang redeten die Eltern selbst mit ihren Kindern, aber das, so resümiert die FAZ, scheint ein altmodischer Ansatz. Immer mehr Kuscheltiere und Spielzeuge werden mit GPS-Chips ausgestattet, die eine ständige Ortung der Kleinen erlauben. Die Kinder werden von klein auf daran gewöhnt, dass sie überwacht werden und dass diese Überwachung zu ihrem Besten vorgenommen wird. Auch die Smartphones und Handys, mit denen die Kleinen früh ausgestattet werden, fungieren als elektronische Fußfessel, mit deren Hilfe Eltern ihre Kinder überwachen. 20 Prozent der Sechs- bis Siebenjährigen besitzen ein eigenes Smartphone, bei den Zehn- bis Elfjährigen sind es bereits 57 Prozent. Wie soll sich auf der Basis solcher Kindheiten Widerstand gegen das universale Ausspähen und Datensammeln regen?

Welche psychischen Strukturen bilden sich auf der Grundlage der Gerätesozialisation aus? Was bedeutet die Gerätesozialisation für den Selbst- und Weltbezug der Kinder und Heranwachsenden? Wie und woran soll sich ihr Selbstgefühl erwärmen? Können wertschätzende Eltern durch einen Apparat ersetzt werden, der nach dem erfolgreichen Lösen einer Rätselaufgabe das Kind mit blecherner Stimme überschwänglich lobt?

Der amerikanische Psychologe Harlow hat in seinen Experimenten mit Rhesusäffchen schon vor Jahrzehnten nachgewiesen, dass Affen, die von Ersatzmüttern aus Draht ernährt wurden, schwere psychische Schädigungen davontrugen und in ihrem Sozialverhalten stark beeinträchtigt waren. 
“Aber nur der lernt zu lieben, der geliebt wurde”, schreibt Peter Brückner, “und nur der vermag mit anderen Lust zu empfinden, der selbst einst Lust fand. Sogar Rhesus-Affen verkümmern, wenn sie in emotionsloser, steriler Umgebung an Draht-Müttern aufgezogen werden und ihre Kindheit ohne Mutteraffen verbringen, also ohne die Vielfalt sinnlicher Kontakte mit einem fellwarmen, antwortenden, kommunizierenden Wesen der eigenen Gattung. Weibliche Affen, unter Mühen fast kommunikationslos aufgezogen, werden zwar biologisch, körperlich geschlechtsreif, aber sie verstehen nicht, was ein männlicher Affe will, der sich ihnen sexuell nähert, sie empfinden nichts, und wenn es dem Partner doch gelingt, sie zu schwängern, wiederholt sich die Verständnislosigkeit gegenüber den eigenen Neugeborenen. Klammern die sich reflexartig an das Fell der emotional und sinnlich verkümmerten Mutter, so streift diese die Jungtiere von sich ab wie ein Stück Laub oder Holz, das sich im Fell verfängt und lästig wird.” (Schülerliebe, Hamburg 1971, S. 100)

Ashley Montagu ergänzt diesen Bericht über die Harlowsche Versuchsreihe durch den Hinweis, dass die emotional unterernährten Affenmütter ihre Jungen gelegentlich sogar grob misshandelten. (Körperkontakt, Stuttgart 1974, S. 29ff) Würde eine solche Gleichgültigkeit sich der menschlichen Mutter(Eltern)-Kind-Beziehung bemächtigen, wären durch und durch kalte, kontaktgestörte, in ihrer Lern- und Erfahrungsfähigkeit beschädigte Kinder die Folge, die, weil man mit ihnen nie mitgefühlt hat, mit niemandem mitzufühlen imstande wären. Ihr schwach entwickeltes Selbstgefühl hätte sich nur an erfahrener elterlicher Zuwendung erwärmen können. Denkt man an die Berichte über das, was Schüler sich heute auf Schulhöfen und via soziale Netzwerke untereinander antun, könnte man meinen, dass diese Horrorvision bereits Wirklichkeit ist.

Die gesellschaftliche Produktion von Psychopathen nimmt Formen an und bildet ein neues Kindheitsmuster aus, das dem System des flexiblen Kapitalismus entspricht.

Kein Wunder, dass immer mehr Menschen bei der Partnersuche auf Dating-Apps zurückgreifen und analoge Formen der Anmache und des Flirts sich auf dem Rückzug befinden. Es gibt einige Dating-Apps, aber Tinder ist die bekannteste von ihnen. Allein in Deutschland nutzen sie bereits zwei Millionen Menschen. Das Programm kann kostenlos runtergeladen werden, die Anmeldung funktioniert nur mit einem Facebook-Profil. Aus diesem zieht sich Tinder die Daten: fünf Profilbilder, Freundesliste, Gefällt-mir-Angaben, Alter, Geschlecht. Via GPS sucht das Programm nach passenden Kandidaten in der Umgebung. So simpel das System, so simpel die Spielregeln. Nach links wischen heißt „Nein Danke, verschwinde, weg mit dir ins digitale Nirwana.“ Nach rechts wischen bedeutet „Ja, kann was werden, ab in den Warenkorb.“ Das Praktische daran: Ist man nicht erwünscht, gibt es auch keine Benachrichtigung. Wenn sich zwei Nutzer aber gegenseitig nach rechts wischen, ergibt das ein sogenanntes Match – und nur dann kann man miteinander chatten.

Diese Form der Beziehungsanbahnung schafft die Furcht vor Zurückweisung ab, sagt der Tinder-Erfinder Sean Rad. Dating-Apps bieten eine Art von Versicherung gegen Ablehnung. Bei Amazon einkaufen, bei Tinder einen Partner suchen. So läuft das heute. Warum sollte eine Gesellschaft, die alles und jedes in eine Ware verwandelt, vor der Intimsphäre halt machen? Die Mentalität des Tausches und der Austauschbarkeit findet die ihr gemäße Technik. Und Big Brother ist natürlich bei diesen Treffen immer mit von der Partie, aber die Leute haben ja, wie sie beteuern, „nichts zu verbergen“.

Leute, die nichts zu verbergen haben, tun mir leid.
Schöne neue Welt! Das Bemerkenswerteste an der schönen, neuen digitalen Welt ist, dass sie es fertig bringt, dass man in der Hölle lebt und diese Hölle gleichzeitig für den Himmel hält. Die Leute erleben ihre Totalerfassung und –kontrolle als intimste ihrer Leidenschaften. Die Leute stehen Schlange, um ihren Kopf freiwillig unter die Guillotine zu legen, wie es in Dave Eggers Roman Der Circle heißt.


Im Verlag Brandes & Apsel ist gerade Götz Eisenbergs neues Buch Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus erschienen.

Siehe dazu die Rezension von Joke Frerichs auf den NachDenkSeiten


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