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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Die unsoziale Lage der Jugend im Land
Datum: 15. April 2015 um 9:42 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Berufliche Bildung, Fachkräftemangel, Interviews, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
„Deutschland geht es so gut wie nie zuvor“, lässt die Regierung verlauten. Das Land strotze nur so vor Wirtschaftskraft, Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Auftretende Probleme hätten ihre Ursachen daher niemals „im System“, sondern stets in den Betroffenen selbst. Sie lebten einfach bereits zu lange im Überfluss und litten daher an verfehltem Anspruchsdenken, wiesen individuelle „Vermittlungshemmnisse“, „Passungsprobleme“ oder gar grundsätzliche Defizite in Bezug auf ihre „Ausbildungsreife“ sowie „Disziplin, Belastbarkeit und Leistungsbereitschaft“ auf. Eigentlich sei alles bestens im Land – zumindest, sieht man von dessen furchtbaren Einwohnerinnen und Einwohnern einmal ab. Doch stimmt das auch? Zur sozialen Lage von Jugendlichen jenseits solch würdeverletzend-euphemistischer Verteidigungsrhetorik sprach Jens Wernicke mit Helmut Weick, Mitinitiator verschiedener Bündnisse gegen Ausbildungsplatzmangel und Jugendarbeitslosigkeit sowie der Kampagne für ein Grundrecht auf Ausbildung.
Herr Weick, es ist immer wieder zu lesen, dass die Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas regelrecht explodiert ist und teilweise mehr als die Hälfte aller Jugendlichen dort ohne Ausbildung und Perspektive dasteht. Hierzulande liest man hingegen eher von Fachkräftemangel und dass viele Ausbildungsplätze gar nicht erst besetzt würden. Wie stellt sie sich für Sie dar, die soziale und berufliche Lage der Jugend im Land?
Zur Jugendarbeitslosigkeit in südeuropäische Länder kursieren je nach Berechnungsgrundlage unterschiedliche Zahlen. Legen wir die eher positiven zugrunde, müssen wir jedoch immer noch davon ausgehen, dass etwa in Spanien, Griechenland und Portugal etwa jeder dritte bis vierte Jugendliche ohne Arbeit dasteht.
Das ist natürlich eine katastrophale Situation. Doch ob nun 50, 40, 25 oder auch nur 1 Prozent – Arbeitslosigkeit bedeutet für jeden einzelnen jungen Menschen immer auch eine soziale Benachteiligung und inakzeptable Lage, weshalb sich hierbei jegliche relativierende Betrachtung verbietet. Will sagen: Nicht 25 oder 50 Prozent sind zu viel – jeder einzelne arbeitslose Jugendliche ist es.
Für Deutschland wird die Quote der Jugendarbeitslosigkeit derzeit mit 5,4 Prozent angegeben. Im November 2014 waren 310.000 Jugendliche arbeitslos. Was im europaweiten Vergleich zwar nicht gar so schlecht aussieht, den betroffen Jugendlichen aber auch nicht weiterhilft. Geradezu zynisch wird es aber, wenn die Bundesregierung die noch höhere Jugendarbeitslosigkeit in anderen Ländern dazu benutzt, um die Lage der Jugendlichen hierzulande schönzureden.
Hier muss man schlicht wissen, dass die schlechte wirtschaftliche Lage in anderen europäischen Ländern ursächlich auch mit einer Politik des Sozialabbaus und der Lohndrückerei, wie sie in Deutschland verstärkt mit der Agenda 2010 eingeleitet wurde, zusammenhängt. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in diesen Ländern hat auch und vor allem mit der kapitalistischen Konkurrenz- und Standortpolitik zu tun, die letztlich auch zu den günstigen Exportbedingungen der Bundesrepublik zulasten aller anderen EU-Länder geführt hat. Wenn sich unsere Regierung nun also zum Retter in der Not aufschwingt und Fachkräfte sowie Jugendliche aus kriselnden Staaten abwirbt, ist darin nicht wirkliche Hilfe oder eine Lösung gar zu sehen, sondern vielmehr eine Verschärfung der innereuropäischen Not und Konkurrenz.
Und es gibt noch etwas anderes, das wichtig ist: Egal nämlich, ob Jugendliche heute Ausbildung und Arbeit finden oder nicht, die allgemein zunehmende soziale Not geht auch an diesen nicht vorbei. Die Prekarisierung und Verarmung macht auch vor den Familien nicht Halt, die Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht nimmt allerorten zu – und: Für viele Betriebe sind Auszubildende nur gut ausnutzbare Arbeitskräfte, die zudem heute Dinge als „Fachberufe“ erlernen, die immer weniger der Entwicklung des Menschen und seiner Persönlichkeit und immer mehr mit Halbbildung und Lohndrückerei zu tun haben.
Eric Schweitzer, der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages Schweitzer hat in der aktuellen Diskussion über ein Einwanderungsgesetz und unter Bezug auf einen angeblichen Fachkräftemangel gerade die Losung ausgegeben: „Wer einen Job findet, soll bleiben dürfen“. Auch sollen Asylbewerber unbesetzbare Ausbildungsplätze einnehmen dürfen. Was halten Sie von diesen Vorschlägen im Umgang mit Flüchtlingen?
Der DIHK versucht, und auch die Positionierung der Bundesregierung unterscheitet sich davon nicht wesentlich, arbeitsmarkt- und ausbildungspolitische Probleme der BRD unter Ausnutzung der wirtschaftlichen Probleme anderer Länder und der dort lebenden Menschen zu lösen.
Perfiderweise soll dies durch eine „Bestenauslese“ der qualifiziertesten Flüchtlinge geschehen. Oder auch durch Lückenbüßer für Ausbildungsberufe mit schlechten Einkommens- und Arbeitsbedingungen. Alles nach dem Motto: „Wer gebraucht wird, darf bleiben, sonst geht uns euer Elend nichts an.“
Damit ich hier nicht missverstanden werde: Selbstverständlich geht es darum, auch Flüchtlingen eine Perspektive zu ermöglichen, aber nicht unter der ökonomischen Diktion ihrer Verwertbarkeit, sondern aus Achtung ihrer Würde und ihrer Menschenrechte heraus.
Dass inzwischen so offen über die „Nützlichkeit“ von Menschen, die in großer Not sind, gesprochen wird, und kaum jemand wiederspricht, halte ich übrigens für ein Syndrom der zunehmenden Menschenfeindlichkeit, die jedoch erst sichtbar wird, wenn man das Argument einmal zu Ende denkt. Denn dasselbe lautet doch wohl: „Wenn Du nützlich bist, leb, ansonsten stirb.“ Solange derlei als „normal“ gilt und solche Verachtung und Menschenfeindlichkeit also als legitim gilt, brauchen wir über PEGIDA und Co. gar nicht zu reden: Die „da unten“ vollziehen doch nur, was „von oben“ seit Langem vorgedacht wird.
Kommen wir zurück zur Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland. Was bedeutet sie für die Jugendlichen konkret?
Vorweg: Die Jugendarbeitslosenquote allein sagt wenig über Armut und soziale Not aus. Wer arbeitslos ist, wird von gesellschaftlicher Teilhabe ausgegrenzt und hat auch nicht wirklich eine Zukunftsperspektive. Das soziale Auseinanderdriften der Gesellschaft macht diesbezüglich allerdings auch vor Menschen mit Arbeit oder Ausbildung immer weniger Halt. Die Hartz IV-Bedingungen haben hier bekanntlich die Lage von arbeitslosen Jugendlichen noch weiter verschärft und somit gleichwohl den Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der in Ausbildung befindlichen Jugendlichen erhöht sowie die gegenwärtige Zunahme autoritärer, rechtsextremer und antidemokratischer Tendenzen maßgeblich befördert.
Doch das eigentliche Problem vieler Jugendlicher beginnt nach wie vor bereits beim Übergang von der Schule in den Beruf mit der erfolglosen Suche nach einem Ausbildungsplatz. Mehr als eine viertel Million Jugendliche befinden sich Jahr für Jahr in Maßnahmen des so genannten Übergangssystems, obwohl der größte Teil von ihnen eine Ausbildung machen möchte und auch dazu in der Lage wäre. Diesen unnötigen Warteschleifen folgt, wenn überhaupt, ggf. ein späterer Eintritt in die Arbeitswelt mit weiteren nachteiligen Folgen, beispielsweise bei Einkommen und Rente. Oft führen aber auch diese Warteschleifen nur ins Leere, sodass – unabhängig aller anderslautender oder ablenkender Beteuerungen von Wirtschaft und Politik – laut Bundesinstitut für Berufsbildung inzwischen etwa 2,1 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren ohne Berufsausbildung dastehen. Tendenz weiter steigend, wohlgemerkt.
Hinterfragt man die verbreitete Ideologie von „Fachkräftemangel“ und „leeren Ausbildungsplätzen“ einmal empirisch, wird derlei auch rasch verständlich. Denn laut Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2014 beläuft sich die Zahl der erfassten ausbildungsinteressierten jungen Menschen auf 816.540. Dem stehen allerdings nur 530.700 neue Ausbildungsverträge gegenüber, noch einmal etwa 4 Prozent weniger als im Vorjahr bereits. Was hier also zuerst organisiert und dann medial „weggeredet“ wird, ist eine große Zahl von Unqualifizierten, die über die Zeit immer mehr wächst. Diese schwere gesellschaftliche Hypothek bedeutet für Millionen Menschen, dass sie ihr Leben lang kaum wirklich eine Lebensperspektive entwickeln können. Dafür sind alle bisher regierenden Parteien verantwortlich, denn sie haben die erforderlichen bildungspolitischen Veränderungen nicht realisiert.
Hauptschülern bleiben zwei von drei Ausbildungsplätzen verwehrt
Fast zwei Drittel aller Ausbildungsplätze in der IHK-Lehrstellenbörse schließen Hauptschülerinnen und Hauptschüler von vornherein von Bewerbungen aus. Das zeigt eine DGB-Auswertung. Dieses Vorgehen passt nicht zu den ewigen Klagen der Betriebe über den vermeintlichen Fachkräftemangel, kritisiert DGB-Vize Elke Hannack.
Quelle: DGB
Wenn ich recht verstehe, werden immer mehr junge Menschen immer weiter … sozial und kulturell „abgehängt“, ja?
Ja. Gleichwohl ist das gesellschaftliche Problem des Ausbildungsplatzmangels alles andere als neu. Seit 1995 bereits befinden wir uns in der dritten Ausbildungskrise.
Inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Wer das Problem wirklich angehen und lösen will, wird einen Rechtsanspruch auf Ausbildung, also eine Ausbildungsplatzgarantie, schaffen müssen. Durch eine beachtliche Zahl von Untersuchungen, Expertisen und Studien wird diese Position inzwischen untermauert.
Und auch rechtlich besteht überhaupt kein Problem, wie eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom 23. Juni 2014 feststellt: „Ein solcher Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz könnte sowohl im Grundgesetz als auch in einem einfachen Gesetz verankert werden.“
Dabei wäre eine solche Garantie nicht nur ein simpler Rechtsanspruch, sondern hätte auch Rückwirkung auf die Förder- und Unterstützungspolitik gegenüber Jugendlichen mit schlechten Ausbildungsvoraussetzungen.
In Österreich ist man hier schon weiter. Dort gibt es seit einigen Jahren eine Ausbildungsgarantie, wenngleich auch noch nicht auf gesetzlicher Grundlage. Ebenso beschreiten inzwischen Hamburg und NRW erste Schritte in diese Richtung.
Nun hat ja aber die „Allianz für Aus- und Weiterbildung“, ein Bündnis von Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften, im Dezember 2014 als Kernpunkte vereinbart, für das Jahr 2015 „20.000 zusätzliche Ausbildungsplätze bereitzustellen“ und will „jedem vermittlungsbereiten Jugendlichen, der zum 30.9. noch keinen Ausbildungsplatz hat, drei Angebote für betriebliche Ausbildung machen“. Wie bewerten Sie diese Vereinbarungen der Allianz, die die Umsetzung der im Koalitionsvertrag angestrebten „Ausbildungsgarantie“ darstellen sollen?
Diese Vereinbarung ist sicherlich schon eine erkennbare Verbesserung gegenüber den bisherigen Absichtserklärungen des alten „Ausbildungspakts“ seitens Wirtschaft und Politik der Jahre 2003 bis 2013. Sie bleibt aber meilenweit von einer Ausbildungsgarantie in Sinne eines Rechtsanspruchs auf Ausbildung entfernt, wie sie Landesschülervertretungen, der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit, Gewerkschaften sowie andere Institutionen und Organisationen seit über einem Jahrzehnt konkret fordern. Hierzu wäre letztlich eine gesetzliche, sprich parlamentarische Absicherung nötigt.
Auch steht nichts von einem auswahlfähigen Angebot an Ausbildungsplätzen in der Vereinbarung der Allianz. Dies wäre jedoch eine verfassungsrechtliche Grundvoraussetzung der „freien Wahl des Ausbildungsplatzes“, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem richtungweisenden Urteil aus dem Jahr 1980 ausgeführt hat.
Stattdessen beschränkt sich die Allianz auf eine Krisenvermittlungsstrategie, sie spricht von zu lösenden „Passungsproblemen“ etc. – und zwar ab jeweils Ende September und also einen ganzen Monat nach Beginn des Ausbildungsjahres. Es ist daher davon auszugehen, dass weiterhin viele Jugendlichen in eine Warteschleife auf einen Ausbildungsplatz gedrängt werden und darin „wertvolle Lebenszeit verlieren“, wie es im Koalitionsvertrag heißt, und das grundlegende Problem also weiterhin gar nicht angegangen wird.
Wir befinden uns in der BRD nun ja bereits im 20. Jahr der dritten großen Ausbildungsplatzkrise. Sehen Sie überhaupt noch eine Perspektive, das Problem auf absehbare Weise wirklich zu lösen – jenseits also von durch die Politik ignorierten Vorschlägen und kleinsten Schritten an verschiedenen Stellen im Land?
Die nun seit 1995 geführte Auseinandersetzung um ein Recht auf Ausbildung hat leider einmal mehr gezeigt: Auch über die Zukunft der Jugendlichen wird am wenigsten im Parlament entschieden. Darüber entscheiden letztlich „die Wirtschaft“ und „der Markt“, sprich: die Unternehmer im Land.
Doch auch diese können nicht frei handeln: Die Konkurrenz und der „Zwang zur Gewinnmaximierung“ diktieren ihnen, was sie zu tun und zu lassen haben. Der Mensch, auch der Jugendliche, verkommt hier zum reinen Kostenfaktor. Die „Würde des Menschen“, als höchster Verfassungsgrundsatz, existiert für viele daher nur noch auf dem Papier.
Wer also demokratische Entscheidungsfreiheit für die Politik, für das Parlament und für alle Menschen will, der muss sich diese zuerst einmal auf den Straßen und Plätze des Landes erstreiten und sukzessive das „Diktat des Kapitals“ überwinden. Der muss dafür sorgen, dass die Verfügung über „die Wirtschaft“ in die Hände des Volkes und des Parlamentes gelegt wird.
Es ist und bleibt unhinnehmbar, dass weiterhin jährlich Hunderttausende Jugendliche nach der Schule ausgegrenzt und in eine ungewisse Zukunft entlassen werden. Wir sind daher weiterhin gefordert, die nötigen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu erkämpfen, damit das ewige Gezeter um eine qualifizierte Berufsausbildung für alle endlich beendet werden kann.
Gleichwohl müssen wir aber auch, ich deutete es bereits mehrfach an, klar sehen, dass auch Jugendliche in oder mit einer abgeschlossenen Ausbildung arm und/oder arbeitslos und sodann hierdurch ausgegrenzt werden. Eine Ausbildung ist in unserer Gesellschaft also kein Garant für einen guten oder sicheren Arbeitsplatz und schon gleich gar nicht für ein erträgliches Einkommen.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Helmut Weick ist Berufsschullehrer und GEW-Mitglied. Er unterrichtet in allen Schulformen vor allem Jugendliche ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und ist seit 1995 aktiv in der lokalen sowie landes- und bundesweiten Bündnisarbeit für ein Recht auf Ausbildung. Er ist Mitherausgeber des Buches „Ausbildung für Alle! Wege aus der Ausbildungskrise“.
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