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Titel: Der Rassist in uns

Datum: 8. April 2015 um 14:58 Uhr
Rubrik: Anti-Islamismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Interviews, Strategien der Meinungsmache
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Seit dem 11. September 2001 ist „der Islam“ zur weltweiten Bedrohung avanciert. Seither steht jeder Moslem unter Generalverdacht, und denkt, wer das Wort Terrorist hört, in aller Regel umgehend an einen bärtigen Turban-Träger und nicht etwa mehr an die ETA, RAF oder IRA. Dass hierdurch inzwischen ein antimuslimischer Rassismus zu gesellschaftlicher Hegemonie gelangen konnte, wird kaum je thematisiert. Wie auch, dient derselbe den Mächtigen im Land doch zur Revitalisierung nationaler Identität, zur Legitimation von Grundrechteabbau, zur Ablenkung von sozialen Verwerfungen sowie als Projektionsfläche für die Wut und Ohnmacht im Volk? Zum alltäglichen Rassismus und dessen gesellschaftlicher Funktion sprach Jens Wernicke daher mit Iman Attia, die zu diesen Fragen seit Langem forscht und lehrt.

Frau Attia, dank PEGIDA ist das Problem des antimuslimischen Rassismus aktuell in aller Munde. Ich bin mir jedoch unsicher, inwiefern hierbei nicht erneut Stereotype bedient werden. Zudem ist die Frage bisher unbeantwortet, woher der Rassismus dieser Demonstranten eigentlich kommt. Wie klassifizieren Sie das Phänomen Rassismus und welche Besonderheiten weist dabei der antimuslimische Rassismus auf?

Der antimuslimische Rassismus ist kein neues Phänomen, auch wenn er sich aktuell auf der Straße so deutlich zeigt. Empirische Untersuchungen zum Alltagsdiskurs in der BRD weisen schon Anfang der 1990er Jahre auf entsprechende Argumentationen hin. In anderen westeuropäischen Ländern wird das Phänomen schon länger untersucht und problematisiert. Die Argumentationen beziehen sich auf jahrhundertealte Diskurse, die unter dem Begriff des Orientalismus analysiert wurden. Der Islam, der Orient, der Nahe und Mittlere Osten wurden als Gegenbild des Abendlandes, des Christentums etc. konstruiert, um eigene Themen an einem anderen Ort diskutieren und abhandeln zu können, aber auch, um eine eigene Identität zu konturieren und um Aggressionen und Privilegien zu legitimieren.

Die Argumentationen sind zum Teil bis heute dieselben: Das Kopftuch etwa hat schon die Kolonisatoren im nördlichen Afrika sehr gestört, denn sie wollten Zugang zu den einheimischen Frauen, aus sexuellen Gründen, aber auch aus kulturellen, um den Kolonialismus und die Kultur der Kolonialherrschaft zu verankern. Sie haben ihren Kampf für die Entschleierung der Frauen aber anders genannt, sich als Befreier bezeichnet. In den sogenannten Mutterländern haben sich die gleichen Kolonialherren gegen das Frauenwahlrecht eingesetzt. Andere Topoi wiederum sind neu, etwa der Vorwurf der Homophobie: In Haremsbildern und in den Märchen aus 1001 Nacht wird der muslimische Orient noch als Ort lesbischer Ausschweifungen dem eigenen prüden Selbstkonzept entgegengehalten. Auch sind in den letzten Jahren neue Figuren hinzugekommen, die Musliminnen und Muslime gleichzeitig als arme Einwandererinnen und mächtige Terroristen thematisieren.

Insofern haben wir es nicht mit einem neuen Phänomen zu tun, wohl aber mit Aktualisierungen und auch neuen Schnittstellen. PEGIDA knüpft an diesen Diskursen an, aber auch an die Pogrome gegen Geflüchtete Anfang der 1990er Jahre. Auch damals haben sich Bürgerinnen und Bürger um rechte Aggressoren gruppiert, die Brandstifter angefeuert und ihre Demonstration als Mischung aus Protest gegen die Politik und Ausführende der Politik und des Mainstreams artikuliert, nach dem Motto: Ihr redet nur, wir handeln. Diese Mischung aus Protest und Affirmation findet sich nun auch in Dresden und in anderen Städten. Insofern ist vieles nicht neu, sondern verändert sich, Aspekte werden neu zusammengesetzt etc.

Allerdings würde ich schon sagen, dass sich der Islamdiskurs im Vergleich zu den Argumentationen Anfang der 1990er Jahren ausdifferenziert hat und deutlicher auf die Straße und in die Medien getragen wird. Wir haben heute zwar unverhohlenere und aggressivere Töne, aber auch Gegenproteste, mahnende Stimmen, analytische Zugänge.

Heute wird das Phänomen immerhin als Rassismus klassifiziert, das ist ein Fortschritt, denn wir können darüber reden und das, was passiert, analysieren. Vor 20 Jahren stieß es bei vielen noch auf Unverständnis, wenn ähnliche Argumentationen als Rassismus bezeichnet wurden. Sie waren aber da, auch wenn sie nicht lauthals auf die Straße getragen wurden.

Rassismus war also immer da und wird immer da sein?

Ja und nein. Rassismus ist ein Mittel, um Privilegien bzw. Aggressionen zu legitimieren. Gruppen werden konstruiert, indem sie homogenisiert – „alle gleich“ –, essentialisiert – „weil ihre Rasse, Ethnie, Kultur, Religion so ist“ – und dichotomisiert – „anders als wir“ – werden. Dieser Otheringprozess hat zum Ziel, die Aggression als Zivilisierung, Emanzipation, Fürsorge, Selbstschutz und anderes zu deuten und die Ausbeutung, Marginalisierung, Kriminalisierung als gerechtfertigt. Rassismus liefert also die Begründung dafür, Personen auszubeuten, zu diskriminieren, zu verunglimpfen und sich selbst gleichzeitig als gerecht, fortschrittlich, vernünftig zu präsentieren.

In verschiedenen historischen und gesellschaftlichen Kontexten nimmt deswegen der Rassismus unterschiedliche Formen an. Und verschiedene Rassismen gehen unterschiedliche Koalitionen ein: Der antimuslimische Rassismus überschneidet sich mit dem kolonialen Rassismus, etwa im Zusammenhang mit ökonomischer Ausbeutung und kultureller Degradierung und dem Antisemitismus, etwa im Zusammenhang mit der Rassialisierung und Kulturalisierung von Religion, also Judentum bzw. Islam.

Er weist aber zu beiden auch Unterschiede auf, die deutsche Islam- und Kolonialpolitik vor 100 Jahren etwa hat deutlich und hierarchisierend zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Kolonien unterschieden, der Holocaust zielte auf die Vernichtung von Juden und Jüdinnen, von Roma und Sinti, nicht auf jene von Muslimen und Musliminnen. Insofern gibt es schon auch bedeutende historische Unterschiede, die aber gleichzeitig auf die Verwobenheit von Geschichte hinweisen.

Teilweise springen Argumentationen von einem Rassismus auf einen anderen über, etwa wenn aus der „Verjudung“ die „Islamisierung“ wird oder die Beschneidung und das Schächten als muslimische Gewalt skandalisiert werden. Es zeigen sich also ähnliche Diskurse, die die Menschen zu kulturell Anderen machen und als solche herabsetzen, um sie guten Gewissens am Rand zu halten – ohne Bürgerrechte Arbeiten machen lassen, die man selbst nicht gerne tut etwa. Insofern gibt es Schnittstellen zwischen den Rassismen, es kommen ihnen historisch aber auch spezifische Bedeutungen zu und sie können verschieden in Erscheinung treten.

Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein haben in einem gemeinsamen Buch [PDF – 4.7 MB] den Zusammenhang von „Rasse“, Klasse und Nation beschrieben – und wenn ich recht verstehe, knüpfen Sie nun an diese Argumentation an, indem Sie sagen, solange es Ausbeutung im Rahmen von Nationalstaaten gebe, ist Rassismus derlei Verhältnissen auch immanent. Verstehe ich recht? Und hat Rassismus also eine … gesellschaftliche Funktion?

Nationalstaaten sind keine natürlichen Gebilde, insbesondere das, was wir heute als Deutschland kennen, ist keine in sich geschlossene, historische, kulturelle Einheit. Nationen werden konstruiert, sie sind das Produkt einer politischen Entscheidung, die kulturell abgestützt wird. Und weil Nationen eine Konstruktion sind, müssen sie immer wieder neu als solche bestätigt und hervorgebracht werden.

Indem Nationen aber festlegen, wer dazu gehört, legen sie immer auch fest, wer nicht dazu gehört. Gemeinschaften jeder Art grenzen nicht nur ein, sondern auch aus, die Ausgrenzung ist konstitutiv. Wenn also Nation kulturell und ethnisch, aber auch sprachlich und religiös konstruiert wird, dann heißt das immer auch, dass die Diversität, die eigentlich da ist – weil ja Nation keine natürliche Einheit ist -, diskursiv in „dazugehörig“ und „nicht-dazugehörig“ geschieden werden muss.

Kapitalismus funktioniert anders, geht aber in westeuropäischen Nationalstaaten eine Verbindung ein. Insofern, als dass die ökonomischen Verhältnisse rassialisiert werden – und der Rassismus zu einem konstitutiven Merkmal von Kapitalismus geworden ist. Die Versklavung und Kolonisierung eines großen Teils der Welt und der Menschheit sind konstitutive Bedingungen für den Wohlstand und die Moderne, wie wir sie in Europa heute haben. Sie sind keine Produkte einer weiter entwickelten Nation oder Kultur, sondern Produkte – und auch Begründungen – von Ausbeutung und Vernichtung.

Dem antimuslimischen Rassismus liegt eine spezifische Artikulation von Nation-Klasse-Rasse zugrunde. Die Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen aus der Türkei und die geflüchteten Palästinenser und Palästinenserinnen aus dem Nahostkonflikt werden zusammen als Muslime und Musliminnen markiert, aber aus verschiedenen Gründen: Die Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen bzw. ihre Enkelkinder werden muslimisiert, um ihnen trotz veränderter Einbürgerungsmöglichkeiten Bürgerstatus vorzuenthalten und sie gleichzeitig zur Unterschichtung der Bevölkerung zu nutzen. Die Palästinenser und Palästinenserinnen wiederum stören die postnazistische Konstruktion der – weißen, christlichen – Deutschen, indem sie die eindeutige und undifferenzierte – parteipolitische – Parteilichkeit für Israel in Frage stellen. Indem die geflüchteten Palästinenser und Palästinenserinnen als „Araber“ und „Muslime“ markiert werden, werden Assoziationen an Terrorismus angerufen, die aus den Opfern Täter machen. Auf diese Weise kann die nationale Identität als geläuterte Deutsche aufrechterhalten werden, die den Antisemitismus überwunden habe und ihn nun bei Anderen, den Arabern und Muslimen, bekämpfen müsse.

Und wie kommt es Ihrer Meinung nach, dass derlei Ressentiments aktuell so weit verbreitet sind? Grassieren sozusagen schlicht Dummheit und Idiotie?

Rassismus ist strukturell in modernen Gesellschaften verankert und diskursiv mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Wissensformationen verwoben. Insofern erkennen viele Menschen nicht, dass das, was sie sagen, in rassistische Diskurse verstrickt ist. Sie hören von klein auf, dass es verschiedene Kulturstufen gibt, sie ganz oben stehen, der Orient finster ist, Muslime ihre Frauen unterdrücken, sie haben Karl May und die Märchen aus 1001 Nacht gelesen, Fernsehreportagen gehört, über Witze gelacht, sind gewarnt geworden, als Frauen alleine in arabische Länder zu reisen etc. Insofern ist es kein Wunder, dass sie all dieses vermeintliche Wissen übernommen haben und von sich geben. PEGIDA sagt ja nichts anderes als das, was in der Politik, in den Medien, in den Schulbüchern, in Romanen, in Filmen, in Computerspielen auch gesagt wird: Die sind alle gleich, ganz anders als wir und gehören nicht hierher.

Rassismus ist also, wie auch Noah Sow das in ihrem wunderbaren Buch beschreibt, etwas, das uns alle angeht und betrifft? Könnten Sie das vielleicht anhand einiger konkreter Beispiele erläutern? Ich denke, das wäre hilfreich, um besser verstehen zu können, dass eben nicht oder nicht nur der Glatzkopf mit Springerstiefeln am „Nutzen“ rassistischer Diskurse sozusagen partizipiert.

Das Kopftuchverbot ist ein konkretes Beispiel: Mit der Begründung, die Unterdrückung von Frauen nicht unterstützen zu wollen, werden Frauen daran gehindert, den Beruf zu ergreifen, den sie sich wünschen, für sich selbst zu sorgen, sich beruflich zu verwirklichen. Diejenigen, die davon ausgehen, dass die muslimischen Frauen das Kopftuch nicht freiwillig tragen, bemitleiden und bevormunden sie. Und diejenigen, die ihnen glauben, werfen ihnen vor, selbst schuld an ihrem Berufsverbot zu sein – ähnlich wie minirocktragenden Frauen vorgeworfen wurde, selbst schuld daran zu sein, wenn sie sexuell belästigt wurden.

Ein anderes Beispiel ist eine Kiefernorthopädin, die einen Jugendlichen nicht behandeln wollte, weil er Cihad heißt und damit der Heilige Krieg gemeint sei. Der Fall ging durch die Presse. Oder Marwa el-Sherbini, die im Dresdner Gericht ermordet wurde [PDF – 239 KB]. Ihr Mörder hatte zuvor schriftlich dem Gericht mitgeteilt, dass er für nichts garantieren könne, wenn Muslime in seiner Nähe seien, er hatte die Frau zuvor als Muslimin beschimpft und angegriffen, deswegen war es zur Gerichtsverhandlung gekommen. Und ein weiteres Beispiel ist, dass Polizeibeamte Personen ohne konkreten Verdacht kontrollieren dürfen oder müssen, was sonst verboten ist, wenn sie schwarz sind oder muslimisch aussehen.

PEGIDA sind also nicht einfach nur „die Unmenschen“, die es zu verteufeln und bekämpfen gölte, sondern, und wenn ich recht verstehe, nur die sichtbare Spitze eines weit überwiegend unsichtbaren Eisberges und also ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse?

Genau.

Und wenn man diesen und dem mit ihnen verwobenem Alltagsrassismus etwas entgegensetzen, hiergegen etwas unternehmen wöllte, was wäre dann zu tun? Wenn Sie könnten, wie Sie wollten: Was würden Sie tun?

Reflexion ist natürlich ganz wichtig, aber es darf dabei nicht stehen bleiben. Da Rassismus und Rassismen so fest verankert sind im Denken und Handeln, in Gesetzen und im Alltag, muss auf genau diesen Ebenen auch interveniert werden.

Ich denke dabei an Antidiskriminierungsinstrumente, ähnlich wie wir sie haben, um Sexismus, Patriarchat und Heteronormativität zurück zu drängen oder beeinträchtigten Personen Behinderungen zu ersparen. Sie müssten so angelegt sein, dass sie die unterschiedlichen Rassismen erfassen können und dort wirksam werden, wo Rassismus wirksam ist: In der Ausbildung und Bildung, in Beschäftigungsverhältnissen, im öffentlichen Dienst, in öffentlichen Räumen, bei der Wohnungssuche, im Sozial- und Gesundheitswesen etc. pp.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Iman Attia (Dr. phil.) lehrt und forscht an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Orientalismus, antimuslimischer Rassismus, Interrelation gesellschaftlicher Machtverhältnisse, postkoloniale Theorie sowie historisch-politische Bildung. Aktuell arbeitet Sie an ihrem neuen Buch „Zum Verhältnis von Politik, Kultur und Religion im deutschen Islamdiskurs“, das 2016 im Argument-Verlag erscheint.


Weiterschauen:

Iman Attia: Intersektionale Perspektiven auf Diskurse zu “der muslimischen Frau”

Iman Attia: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“: Kultur und Politik im antimuslimischen Rassismus

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