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Titel: Einfach zum Kotzen – wie der Stern den Eurovision Song Contest zur Russlandhetze instrumentalisiert
Datum: 20. März 2015 um 9:23 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medien und Medienanalyse, Medienkritik
Verantwortlich: Jens Berger
Der diesjährige Eurovision Song Contest (ehemals Grand Prix) steht unter dem schönen Motto „Building Bridges“. Ob ein durch und durch kommerzialisiertes TV-Event überhaupt Brücken bauen kann, lassen wir an dieser Stelle mal offen. Fest steht jedoch, dass Teile der deutschen Medienlandschaft die Brücken nicht bauen, sondern einreißen. Anders ist Jens Maiers im Stern erschienener Kommentar „Russland als Weltverbesserer? Zum Kotzen!“ kaum zu verstehen. ESC-Spezialist Maier echauffiert sich dort lautstark und stets unter Gürtellinie, dass „ausgerechnet“ aus Russland ein Lied ins Rennen geschickt wird, in dem es um Frieden geht. Damit setzt der Stern ein weiteres Highlight der langen Reihe antirussischer Demagogie in den deutschen Medien. Und es ist zu befürchten, dass die Demagogen ihre Leser und Zuschauer bis zum ESC derart aufputschen, dass es zum Eklat kommt. Maiers Rat an die Zuschauer in Wien lautet: „Zur Not auch mit Buhrufen“ … dieser Rat wird sicher von einigen verwirrten Geistern gehört werden. Von Jens Berger
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Vielleicht sollten wir Jens Maier einmal fragen, mit welchem Lied Russland denn seiner Meinung nach am ESC teilnehmen sollte? Wahrscheinlich würde er gerne sehen, dass Wladimir Putin höchstpersönlich eine Peformance als homophober Gangster-Rapper zum Besten gibt. Nun ist dieser Part aber bereits von zahlreichen Berliner Jünglingen besetzt, die jedoch keine nennenswerte Chance haben, ihr Land beim ESC zu vertreten. Was also dann? Vielleicht hilft eine kurze Übersicht der ins Deutsche übersetzten Titel, mit denen die Künstler beim diesjährigen ESC zu glänzen versuchen: „Ich will Deine Liebe“, „Ich bin am Leben“, „So wie du bist“, „Schönheit lügt nie“, „Kriege für nichts“ (Obacht, dieser Titel stammt aus Ungarn und somit laut Stern-Logik direkt von Viktor Orban), „Abschied“, „Es gibt ein Meer, das uns trennt“, „Die Hoffnung stirbt nie“, „Im Namen der Liebe“, „Für Dich da“, „Große Liebe“, „Ich gehöre Dir“ und „Immer noch in dich verliebt“ – letzterer Song stammt übrigens aus dem von Grund auf pazifistischen Großbritannien. So kennt man Schlager, so kennt man den ESC. Liebe, Herz, Schmerz und die Hoffnung auf Frieden in der Welt allenthalben – und ausgerechnet Russland soll nun nach dem Willen des Sterns offenbar martialisch daherkommen? Zumindest vom Titel her kommen zumindest Malta und Georgien ein wenig eher die Richtung, die sich Maier wohl auch für Russland wünscht – beide Länder treten mit dem Titel „Krieger“ an.
Aber zurück zu Maiers Kritik an Russland. Was passt ihm eigentlich konkret nicht? Beispielsweise, dass die „Friedens-Hymne [aus Russland] in Wien für viele Ohren wie Hohn klingen [wird]. Denn ausgerechnet Russland macht auf Peace and Love.“ „Russland als Weltverbesserer?“ Das findet Maier „zum Kotzen!“ Da fragt man sich, wie Maiers Kritik ausgefallen wäre, wenn die Ukraine, deren Armee sich ja immerhin aktiv am Bürgerkrieg beteiligt, mit einer „Friedens-Hymne“ teilnehmen würde? Eine rhetorische Frage – die Ukraine muss beim ESC in diesem Jahr mangels finanzieller Mittel passen.
Aber wie sah es denn in der Vergangenheit aus? Als die NATO 1999 Serbien bombardierte, schickte Deutschland den Schlagersänger Guildo Horn mit „Guildo hat Euch lieb“ zum ESC. Gab es damals Kritik von deutschen Schlager-Experten? Hatte 1999 irgendwer ein Problem damit, dass Deutschland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt und gleichzeitig einen Schlagerbarden zum ESC schickt, der dort einen „Jux-Lied“ zum Besten gibt? Als die „Koalition der Willigen“ 2003 völkerrechtswidrig den Irak angriff, schickte Kriegsteilnehmer Großbritannien das zu Recht unbekannte Pop-Duo „Jemini“ mit dem Herz-Schmerz-Schmachtfetzen „Cry baby“ (Weine, Liebling) ins Rennen. Der Song belegte zwar den letzten Platz – aber sich nicht, weil das deutsche Feuilleton in Erregung ausgebrochen ist, da Tony Blair den ESC für seine Propaganda missbraucht habe. Als Israel 2006 völkerrechtswidrig Bomben auf den Libanon warf und damit fast eine Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte, trat für das Land ein gewisser Eddie Butler beim ESC an und präsentierte der Weltöffentlichkeit die Friedenshymne „Together we are one“ (Zusammen sind wir eins). Wurde dies damals als „Verhöhnung“ der Opfer Israels bezeichnet? Fühlte sich ein deutscher Kommentator damals berufen, zu schreiben, dass „ausgerechnet“ Israel eine „Friede-Freude-Eierkuchen-Ballade“ ins Rennen schickt? Forderte der Stern seine Leser auf, Eddie Butler auf der Bühne auszubuhen?
Bei diesen Vergleichen ist übrigens Vorsicht geboten. Während alle genannten westlichen Staaten nachweislich und völkerrechtswidrig einen Angriffskrieg führten, ist die russische Beteiligung am Bürgerkrieg in der Ukraine eher indirekter Natur. Und wenn man nun Beispiele aufzählen würde, in denen westlichen Staaten indirekt in Kriege involviert waren und gleichzeitig belanglose Liebes- oder Friedenslieder zum ESC entsandten, käme wohl eine Liste heraus, die diesen Rahmen hier sprengen würde. Und wenn man gar den Rahmen des ECS verlassen und einmal protokollieren würde, wie viele amerikanische Herz-Schmerz-Schlager weltweit gefeiert wurden und werden, während die USA weltweit unsägliches Leid anrichteten und anrichten, würde dies wohl vollends den Rahmen sprengen. Dazu habe ich zumindest ich jedoch noch nie Kritik vernommen.
Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Man kann natürlich vortrefflich über die musikalische Qualität des russischen ESC-Beitrags streiten – dafür sind solche Veranstaltungen schließlich auch gedacht. Ihn als Propagandawerkzeug zu verunglimpfen, ist ungehörig und bigott. Und das Publikum zu einem Pfeifkonzert aufzustacheln, ist – um es mit Jens Maier zu sagen – einfach zum Kotzen.
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