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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Hinweise des Tages
Datum: 10. August 2007 um 9:09 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Anmerkung einer Leserin: ‘Jahrelang gehörte es für Politiker, Medien, Verbände und Wissenschaft zum guten Ton, den Flächentarifvertrag in Grund und Boden zu stampfen. Der frühere BDI-Präsident Rogowski ließ sich gar zu der Bemerkung hinreißen, die Flächentarifverträge sollten am besten in Lagerfeuern verbrannt werden.
Selbst die Gewerkschaften wehrten sich oft nur defensiv gegen die massiven Angriffe, indem sie darauf hinwiesen, dass die Tarifverträge ja so starr gar nicht seien, dass es ja viele Öffnungs- und Härtefallklauseln gebe etc. Offensive Verteidiger des Flächentarifsystems, die auf seine Vorteile gegenüber einem dezentralen Lohnfindungssystem hinwiesen, musste man mit der Lupe suchen (dazu zählt der vorzügliche und allen Flächentarifgegnern nur wärmstens zu empfehlende Aufsatz “Der Flächentarif in der Kritik” von Grunert in den “WSI-Mitteilungen” 11/2004).
Nun hört man auf einmal Töne, die zu der bisherigen Melodie so gar nicht passen wollen: Nachdem Spartengewerkschaften der Krankenhausärzte, Piloten (Cockpit) und jetzt der Lokführer (GDL) mit Forderungen nach Sonderregeln aufgetaucht sind, werden auf einmal die Vorzüge des guten, alten Flächentarifs wiederentdeckt. So klagt etwa Maike Rademaker in der “Financial Times Deutschland” (vom 9. 8. 2007) unter der Überschrift “Mit Volldampf ins Tarifchaos”, dass die “Flächentarifverträge … seit Jahren durch Sonderregeln ausgehöhlt” würden, dass viele Arbeitgeber die wirtschaftliche Schwächephase der letzten Jahre ausgenutzt hätten, “um am Tarifrecht, das für alle gilt, kräftig herumzusäbeln.” Sie gibt zu bedenken, dass Wachstum und Wohlstand in Deutschland auch darauf basieren, “dass nicht überall und dauernd um Löhne und Arbeitszeiten gestritten wird. Und nicht jeden Sommer eine andere Truppe das ganze Land lahmlegt.” Eine späte Erkenntnis. Wie heißt es doch so klar und richtig in Albrecht Müllers Buch “Die Reformlüge”: “(D)ie Existenz und Gültigkeit der Flächentarifverträge liegt auch im Interesse der Unternehmer, da so sichergestellt ist, dass von der Lohnseite her zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen, zwischen Aachen und Frankfurt/Oder in etwa gleiche Wettbewerbsverhältnisse herrschen. Das erleichtert die Vorhersehbarkeit und die Kalkulation der Lohnkosten, es macht die Dinge überschaubar und kalkulierbar …” (S. 260)
Anmerkung: Für Steinbrück ist also nicht das grundgesetzlich garantierte Existenzminimum der Maßstab für die die Sozialhilfe, sondern die Hungerlöhne auf dem Arbeitsmarkt. Merke: Nach dem Hungern kommt das Verhungern.
Siehe dazu:
Die Debatte um die Anpassung der Hartz-IV-Regelsätze führt in der SPD zu einem tiefen Riss
Die Hartz-IV-Regelsätze werden wie die Sozialhilfe bislang jährlich an die Rentenentwicklung angepasst und stiegen zum 1. Juli dieses Jahres erstmals seit der Hartz-Reform von 345 auf 347 Euro. Zusätzlich werden die Regelsätze alle fünf Jahre im Rahmen der so genannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes überprüft und gegebenenfalls neu festgelegt. Die EVS ermittelt anders als der Warenkorb nicht mehr die Kostenstruktur einer virtuellen Produktgruppe. Vielmehr werden die tatsächlichen Ausgaben von Haushalten errechnet. Als Referenzgröße für den Hartz-IV-Regelsatz gelten die Ausgaben des nach Nettoeinkommen gerechnet untersten Fünftel der deutschen Haushalte. Daraus errechnen die Experten dann das so genannte soziokulturelle Existenzminimum, das Empfängern von Sozialhilfe und Hartz IV eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sichern soll. Die nächste EVS wird im kommende Jahr durchgeführt.
Sozialverbände wie etwa die Diakonie wehren sich inzwischen gegen die gesamte Systematik der Regelsatz-Bestimmung. “Noch vor wenigen Jahres war es angemessen, das Ausgabeverhalten von Personen mit geringen Renten oder Erwerbseinkommen als Maßstab für die Erhöhung der Regelsätze heranzuziehen”, sagte das Diakonie-Vorstandsmitglied Bernd Schlüter. “Aufgrund von Lohndumping und prekären Beschäftigungsverhältnissen kann diese Vergleichsgruppe heute aber selbst ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht mehr decken. Ohne eine Änderung dieses Systems wird die Armut in Deutschland zementiert.”
Quelle: FR
Anmerkungen von Martin Betzwieser: Für Arbeitgeberpräsident Dr. Dieter Hundt ist diese Haltung sicher ein artgerechtes Verhalten. Die Arbeitgeber sparen durch die beitragsfreie Entgeltumwandlung einen Teil der verhassten Lohnnebenkosten. Die Versicherungskonzerne verdienen daran Milliarden. Beim DGB scheint ignoriert zu werden, dass durch die beitragsfreie Entgeltumwandlung die finanzielle Situation der Sozialversicherungsträger weiter strapaziert wird. Unter dem Aspekt des Renteneintrittsalters 67 liest sich das wie “Wasch mich, aber mach mich nicht nass”. Beitragsfreie Entgeltumwandlung lässt das Sozialversicherungsbrutto sinken, welches die Berechnungsgrundlage für Rente und Entgeltersatzleistungen ist. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Jeder beitragsfrei umgewandelte Euro bedeutet im Klartext:
Die Gewerkschaften scheinen das zu ignorieren oder zu verdrängen. Oder es mangelt an Verständnis dafür oder es liegt daran, dass DGB und so manche Einzelgewerkschaft an der Vermittlung von Altersversicherung mitverdienen:
Quelle 1: DGB-Rentenplus
Quelle 2: ver.di-Mitgliederservice
Zu weiteren Risiken und Nebenwirkungen der Betrieblichen Altersvorsorge lesen Sie die Nachdenkseiten:
Quelle 1: Nachdenkseiten vom 27.04.2007
Quelle 2: Nachdenkseiten vom 02.05.2007
Anmerkung Orlando Pascheit: Wie üblich hat es die wirklich wichtige Mitteilung nicht in die Titelung des Statistischen Bundesamtes geschafft:
“Dagegen nahmen die Verbraucherinsolvenzen weiter zu: Mit 8 994 Fällen lagen sie um 12,4% höher als im Mai 2006. Zusammen mit den Insolvenzen von anderen privaten Schuldnern und Nachlässen summiert sich die Gesamtzahl der Insolvenzen auf insgesamt 14 131 Fälle (+ 4,0%).” – Ach ja, “Deutschland boomt …”
Dazu passt:
Berliner stöhnen unter hohen Mieten
Neuer Mietspiegel treibt die Preise: Bei den ersten Haushalten sind entsprechende Schreiben angekommen. Die Vermieter verlangen bis zu 20 Prozent mehr.
Quelle: Tagesspiegel
Anmerkung: Vielleicht greift die Kanzlerin in ihrer Festrede den Appell von 300 Schülern, Eltern, Lehrern des Robert-Blum-Gymnasiums in Berlin Schöneberg auf. Dort wird die Absetzung der Nachmittags-Talkshows mit menschenverachtendem Inhalt oder der Verzicht auf Filme mit extremer Gewaltdarstellung im zu Bertelsmann gehörenden Sender RTL gefordert. Das wäre ein echter Beitrag zur Förderung von gesellschaftlichem Engagement als Bildungsziel.
Anmerkung: Typisch Henryk M. Broder (und vielleicht auch ARD-Exklusiv): Man nimmt ein extremes Beispiel einer offenbar nicht mehr selbst überlebensfähigen, verwahrlosten Familie zum Anlass einer Polemik gegen staatliche Fürsorge und gegen die Arbeit von Sozialarbeiter, so als wäre die Fürsorge die Verursacher der Verwahrlosung und als ginge es um das Eigeninteresse der Sozialarbeiter: „Eine Familie sichert die Existenz von einem halben Dutzend Sozialarbeiter.“ Hat Broder im Gegenzug schon mal nachgerechnet, wie vielen tausenden Polizisten die „Existenz“ gesichert wird, indem sie Tag und Nacht im Gefolge von Politikern, Bankern oder sonstigen wirklichen oder angeblichen Promis solchen Personengruppen staatliche „Fürsorge“ angedeihen lassen? Ja, die Polizisten sichern deren Sicherheit (ob das immer Sinn macht oder nicht), im Falle dieser verwahrlosten Familie sichern die Sozialarbeiter das Überleben zumal auch der Kinder – oder sollte man sie einfach krepieren lassen, Herr Broder?
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