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Titel: Erinnerung nur an das, was erwünscht ist – Zur historischen Amnesie der deutschen Mainstreammedien

Datum: 6. Februar 2015 um 9:48 Uhr
Rubrik: Medien und Medienanalyse, Rechte Gefahr, Schulden - Sparen
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Auf seiner Pressekonferenz mit Wolfgang Schäuble hat der griechische Finanzminister Gianis Varoufakis Deutschland um Unterstützung gebeten. Mit seiner Ge­schichte sei es «das Land, das uns am besten von allen verstehen kann», weil es die Auswirkungen von Demütigung und Hoffnungslosigkeit kenne. Doch die historische Erfahrung findet sich im Diskurs der deutschen Mainstreammedien immer weniger wieder. Von Michael Carlo Klepsch

Unnachgiebig im Ton verlangt die Berliner Regierung, Griechenland müsse sich strikt an die von der EU-Kommission, dem IWF und er EZB vorgegebenen Beschlüsse halten. Während dabei die „deutsche Qualitätspresse“ einhellig die Haltung der deutschen Regierung unterstützt und sich in ihrer harschen Kritik an der griechischen Regierung unter Alexis Tsipras einig ist, lässt die historische Amnesie erstaunen, mit der hierzulande argumentiert wird. Ganz so, als hätte es in Deutschland niemals die einschneidende historische Erfahrung gegeben, sich einem Diktat einer auswärtigen Mächtekoalition beugen zu müssen. Selbst in der konservativen Presse scheint die Epochenerfahrung der zwanziger und dreißiger Jahre gänzlich ausradiert, mit der nach dem Ersten Weltkrieg eine Generation über das als illegitim und demütigend empfundene „Diktat von Versailles“ aufwuchs. Eine vergleichbare Erfahrung der Machtlosigkeit gegenüber auswärtigen Zwängen erlebt seit 2010 die griechische Bevölkerung und ihre gewählten Regierungen.

Ebenso erscheint es bei uns geradezu zu einem Tabu geworden zu sein, sich der politisch-historischen Konsequenzen der einst von Deutschland eingeforderten Kriegsschulden und Reparationen zu erinnern, die das Land in jährlichen Zahlungen über sechsundsechzig Jahre bis 1987 in einer Höhe von 132 Milliarden Goldmark erbringen sollte. Was einst die nationale Rechte in Deutschland zu einem Sturmlauf der Empörung auf die Demokratie der Weimarer Republik antreten ließ, wirkt im Vergleich mit den Forderungen, denen sich Griechenland heute konfrontiert sieht, geradezu bescheiden, die aktuell mit 320 Milliarden Euro beziffert werden. Wozu das Festhalten an derartigen Forderungen in der deutschen Geschichte politisch beigetragen hat, sollte eigentlich auch unseren Leitartiklern bekannt sein. Doch nicht einmal der Aufstieg einer faschistischen Organisation in Griechenland wie der „Goldenen Morgenröte“, die mittlerweile 17 Abgeordnete im Athener Parlament stellt, die regelmäßig immer wieder mit Hitlergruß und faschistischen Parolen auf sich aufmerksam machen, hat im öffentlichen Mediendiskurs in Deutschland zu einem historischen Déjà-vu-Erlebnis geführt.

Genauso wenig in ökonomischer Hinsicht. Ist die Erinnerung an die Folgen des „Diktats von Versailles“ bereits mit einem peinlichen Tabu belegt, gilt dies offenbar noch mehr für die verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen des prozyklischen Sparkurses, eine Erfahrung, die eine Generation in den frühen dreißiger Jahren in Deutschland bekanntlich bereits leidvoll miterlebt hat und die zu Hungermärschen und weitgehender politischer Radikalisierung geführt hat. Nicht anders als in Griechenland heute wurde dabei die deutsche Gesellschaft von einem Zerfallsprozess erfasst, dessen Auswirkungen jenseits aller Erfahrungen lagen. Die Erinnerung an die fatale Periode der Deflationspolitik, welche ähnlich wie heute in Griechenland die deutsche Wirtschaft von 1930 bis 1932 um über 25 Prozent einbrechen ließ, scheint denn auch gleichermaßen in unseren qualitätsbewussten Medien einer kollektiven Geschichtsvergessenheit zum Opfer gefallen zu sein, wie die Folgen einer fortwährenden Politik der Lohn- und Rentenkürzungen. Da erübrigt es sich beinahe auf die hierzulande fast gänzlich unbekannte Londoner Schuldenkonferenz hinzuweisen, bei der 1953 die Bundesrepublik einen Großteil der Altschulden erlassen bekam, was das „Wirtschaftswunder“ überhaupt erst möglich machte. Das Interesse der USA an einem prosperierenden Westdeutschland als „Schaufenster des Westens“ machte diese weitsichtige Entscheidung möglich.

Der Befund wird komplettiert durch eine nur noch als damnatio memoriae (Verfluchung und Tilgung des Andenkens) zu bezeichnende Haltung der deutschen Mainstreammedien gegenüber historischen Personen wie dem deutschen Reichskanzler Heinrich Brüning, dem historisch gescheiterten Propagandisten einer Austeritätspolitik um jeden Preis. Ähnliches kann man auch für die etablierte Wirtschaftswissenschaft sagen, wo der Ökonom John Maynard Keynes zu einer persona non grata geworden ist.

Einzig mit dem Unterschied, dass die Bundesregierung 2009 der deutschen Wirtschaft die keynesianische Medizin staatlicher Investitionsprogramme gestattete, die sie seither anderen strikt verweigert. Demnach wird man in der Diagnose auch nicht von einer plötzlichen krankhaften Geschichtsvergessenheit ausgehen müssen. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass in der publizistischen Meinungsmache immer das ausgespart bleiben soll, was gerade politisch und ideologisch unerwünscht ist.


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