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Titel: Syrizas Sieg bietet die Chance, endlich wieder offen über gesellschaftspolitische Alternativen nachzudenken und diese umzusetzen
Datum: 26. Januar 2015 um 16:30 Uhr
Rubrik: Griechenland, Schulden - Sparen, Sozialstaat, Wahlen
Verantwortlich: Albrecht Müller
Immer wieder taucht im Zusammenhang mit Griechenland und Staaten in ähnliche kritischer Lage die Vorstellung auf, sie müssten halt Reformen machen und „sparen“. So hieß es penetrant vor der griechischen Wahl und so wird es vermutlich weitergehen. Jene, die diesen Kurs vorgegeben haben, leben in der intellektuell dürftigen Vorstellung, Gesellschaft und Wirtschaft könnten nur nach einem Schema, dem neoliberalen, gestaltet werden, und Sparversuche seien ohne Rücksicht auf die ökonomische Ausgangslage angesagt. Diese Ideologie ist so dumpf und unreflektiert, dass ihre Vertreter sich nicht einmal von Erfolglosigkeit ihrer Empfehlungen in ihrem angelernten Glauben erschüttern lassen. TINA, There Is No Alternativ, haben sie irgendwann gelernt. Mehr nicht. Es gibt aber mehr. Albrecht Müller.
Die entscheidende Frage, die wir in Europa nach der Wahl in Griechenland endlich stellen müssen: Sind die Völker einer Wirtschaftsgemeinschaft oder einer Währungsgemeinschaft gezwungen, die Regeln ihres Zusammenlebens nach einem einheitlichen Schema zu wählen und zu gestalten?
Oder haben sie in wichtigen Fragen einen Entscheidungsspielraum? Die herrschenden Kreise tun so, als gäbe es diesen Spielraum nicht. Sie sind deshalb angesichts des Wahlergebnisses von Griechenland aufgescheucht wie ein Hühnerhaufen. Siehe zum Beispiel den Bericht des SpiegelOnline-Korrespondenten in Brüssel, Schmitz. Brüssel sei schockiert, man fürchte eine Abkehr vom Reformkurs, heißt es da.
Ohne Zweifel gibt es Gegenstände der politischen Gestaltung, die keinen großen Gestaltungsspielraum erlauben, wenn man in einer Union, insbesondere in einer Währungsunion mit anderen Völkern zusammen leben und wirtschaften will. Davon gegen Ende des Textes ein paar Anmerkungen.
Weite Teile des gesellschaftlichen Lebens und der dafür gewählten Institutionen und Regelungen sind jedoch nicht dem Zwang zur Vereinheitlichung unterworfen. Dazu einige markante Beispiele:
Man kann die Altersvorsorge über eine gesetzlich verankerte Rentenversicherung regeln. Dann werden wie bei unserem System der früheren Gesetzlichen Rente Beiträge bei den arbeitenden Menschen erhoben und nach dem Umlageverfahren an die Rentnergeneration ausgezahlt.
Oder man kann die Altersvorsorge jedem selbst überlassen.
Oder man kann, weil man erkennen muss, dass mit dieser privaten Altersvorsorge das Ziel einer einigermaßen intakten Risikovorsorge für das Alter nicht erreicht wird, Privatvorsorge staatlich fördern oder staatlich verordnen.
In Deutschland laufen wir seit 2002 parallel. Die damals eingeführten Elemente der öffentlich geförderten Privatvorsorge haben sich als teuer und ineffizient erwiesen. Das ist nahe liegend: wenn 10 % der eingezahlten Beiträge für den Betrieb und das Marketing der Privatvorsorge ausgegeben werden müssen, dann kann sich dieses System nicht rentieren.
Trotz dieser Erfahrung, auf die man auch durch Nachdenken kommen kann, wird die Privatvorsorge als wichtige Reform für die Krisenländer empfohlen. Ein typisches Beispiel für den mangelnden Intellekt bzw. die Interessenabhängigkeit der Agitatoren dieser Reformen.
Mit dem politischen Schwenk in Griechenland könnte der banalen Erkenntnis von der Effizienz des Umlageverfahrens wieder der Weg geöffnet werden. Ein wunderbares Feld für einen Wettbewerb zwischen den Neoliberalen und ihrem Tina-Prinzip und einer modernen der Sozialstaatlichkeit verpflichteten politischen Bewegung.
Selbst die Frage, wann eine in Lohnabhängigkeit arbeitende Person in Rente gehen darf, könnte man von Volk zu Volk verschieden regeln, ohne dass damit eine Wirtschaftsgemeinschaft ausgeschlossen wäre. Nehmen wir ein praktisches Beispiel: wenn die Franzosen einvernehmlich meinen, sie müssten mit 60 Jahren generell in Rente gehen können, dann ist das möglich. Dann würden im konkreten Fall in Frankreich höhere Sozialversicherungsabzüge fällig sein als in Deutschland, oder die Rente fiele etwas knapper aus. Es gibt verschiedene Schrauben, an denen man zielführend drehen könnte.
Selbstverständlich ist ein Volk auch in einer Wirtschaftsunion frei, die eigenen, ihm passenden Regeln zu wählen. Auch hier gilt, dass sich das dann möglicherweise in höheren Abzügen und in der Höhe der Löhne ausdrückt. Aber es ist gar nicht ausgemacht, dass ein stärker sozialstaatlich organisiertes Volk weniger produktiv ist als das vergleichbare neoliberal geprägte.
Die Bahn in der Schweiz ist in öffentlichem Eigentum und in öffentlicher Verantwortung organisiert und funktioniert bestens. Die Bahn in Großbritannien war weitgehend privatisiert worden. Es funktionierte so schlecht, dass Teile wieder in öffentliche Regie übernommen werden mussten.
Auch bei diesem Thema gibt es keinerlei Zwang zur Vereinheitlichung. Genauso wenig wie bei der Energiewirtschaft, bei der Post, bei der Telekom. Immer wenn es so genannte Unteilbarkeiten in der Produktion gibt, also Monopolstrukturen notwendig und nahe liegend sind, spricht vieles für den Betrieb in öffentlicher Regie und nicht für den privaten Betrieb mit all seinen zusätzlichen Konstrukten wie Regulierungsbehörden.
Die öffentliche Finanzierung hat sich nach Meinung des Bundesrechnungshofes schon in den ersten Fällen der Privatfinanzierung beim Autobahn- und Tunnelbau als die preiswertere Methode erwiesen. Dennoch wird mit der Privatfinanzierung weitergemacht, in der Regel, um private Interessen der Finanzwirtschaft und der Bauwirtschaft zu bedienen.
Ähnliches gilt für die verwandte Anwendung des Prinzips der Öffentlich Privaten Partnerschaft (ÖPP/PPP)
Umso wichtiger ist eine Besinnung auf einen ehrlichen Wettbewerb zwischen den verschiedenen Methoden.
In den Einlassungen der Kritiker sozialstaatlicher Regelungen und staatlicher Tätigkeit insgesamt spielt der Höhe des Staatsanteils eine zentrale Rolle. Dieser Anteil sagt jedoch sehr wenig. Er kann hoch sein, weil ein Volk sich entschieden hat, die kompletten Leistungen der Daseinsvorsorge und auch der sozialen Sicherung öffentlich zu finanzieren. Er kann hoch sein, weil öffentliches Geld verschwendet wird.
Die Höhe des Anteils öffentlich erstellter Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger war in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sehr verschieden gesehen worden, man könnte sagen je nach Stimmungslage und Stimmungsmache:
Ein konkreter Hinweis: Anfang der siebziger Jahre hatte die SPD eine sogenannte Langzeitkommission eingesetzt, sie arbeitete unter dem Vorsitz von Helmut Schmidt, dem damaligen stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD, und plädierte für eine Erweiterung des öffentlichen Korridors, wie man die Erhöhung des Staatsanteils nannte. Die Kommission und auch ihr Vorsitzender waren überzeugt davon, dass es Sinn machen würde, mehr als bis dahin in öffentlicher Regie zu organisieren und zu produzieren.
Wenig später kippte die Stimmung um. Die Opposition, damals CDU und CSU, unterstützt von einigen schlagkräftigen Medien, startete eine Kampagne gegen Abzüge. Die Folgen dieser Kampagne spüren wir bis heute.
Die Spielräume für andere gesellschaftspolitische Vorstellungen und Gewichtungen als die in der sogenannten Reformagenda vorgegebenen sind vorhanden. Es wäre ein herausragend positiver Anstoß der Griechen mit ihrer Wahlentscheidung, wenn darüber in Europa wieder offen und ehrlich und produktiv diskutiert werden könnte.
Es gibt einige Bereiche, bei denen eine eher einheitliche und abgestimmte Regelung von Seiten der Staaten in einer Wirtschaftsunion und insbesondere in einer Währungsunion nötig ist:
Das markanteste Beispiel dafür ist die Entwicklung der Lohnstückkosten. Wenn die Lohnstückkosten über längere Zeit auseinanderlaufen, dann geraten die Leistungsbilanzsalden auseinander, so wie es in den letzten 14 Jahren in der Eurozone geschehen ist: Einige Länder wie zum Beispiel Deutschland häufen über einen längeren Zeitraum Leistungsbilanzüberschüsse an, andere Leistungsbilanzdefizite. Im einheitlichen Währungsraum gibt es die Anpassungsmöglichkeit durch Veränderung des Wechselkurses nicht. Deshalb endet eine solche Entwicklung in einer mittleren Katastrophe, wie wir sie heute erleben und wie sie seit Jahren absehbar war.
Jene, die Tag aus Tag ein für gleichförmige Reformen und damit für eine gleichförmige Gestaltung der gesellschaftlichen Regeln werben, haben diese Regelung zur Vermeidung der skizzierten Auseinanderentwicklung der Leistungsbilanzen versäumt. Das ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte und ein Beleg für die konzeptionelle Unfähigkeit der herrschenden Kreise. Es sind jene, die der Korrespondent des SpiegelOnline zur Sprache hat kommen lassen, der Brüsseler Hühnerhaufen, könnte man sarkastisch anmerken.
Ein weiteres Feld der Gestaltung, bei dem man zwischen den Partnern einer Wirtschafts- und einer Währungsunion auf eine einigermaßen gleichläufige Entwicklung achten muss, ist die Unternehmensbesteuerung. Auch darauf hat man in der Europäischen Union und in der Eurozone nicht ausreichend geachtet. Deshalb haben Unternehmen ihre Sitze zum Beispiel nach Irland verlagert – eigentlich eine Provokation in einer Wirtschafts- und Währungsunion, die die Brüsseler Ideologen um vieles mehr hätte aufregen müssen als jetzt das nicht in ihren ideologischen Kram passende Wahlergebnis in Griechenland.
Man kann in einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion nicht dulden, dass einzelne Länder typischen Steueroasen ihre Pforten öffnen. Auch das hat die Brüsseler Ideologen offensichtlich nicht nachhaltig genug aufgeregt und der jetzige Kommissionsvorsitzende hat als Ministerpräsident und Finanzminister seines Heimatlandes Luxemburg tatkräftig an dieser Fehlentwicklung mitgewirkt
Auf den zuvor erwähnten anderen Feldern der Gesellschaftspolitik sind die Spielräume für eigene Gestaltung sehr viel weiter. Der Wettbewerb um die besten Modelle hätte sogar eine produktive Nebenwirkung.
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