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Titel: Der Extremismus der Mitte

Datum: 6. Januar 2015 um 13:57 Uhr
Rubrik: Anti-Islamismus, Rechte Gefahr
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Immer wieder wird von Verteidigern der antiislamischen und fremdenfeindlichen PEGIDA-Bewegung vorgebracht, die Demonstranten seien in ihrer Mehrzahl „keine Nazis“, sondern „ganz normale Leute“, die der „Mitte der Gesellschaft“ entstammten. Als könnte man nicht der Mitte der Gesellschaft entstammen und Nazi sein! Von Götz Eisenberg.

„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

(Bertolt Brecht)

Die Menschen, die unter dem Banner von PEGIDA demonstrieren, begreifen sich selbst als Mitte der Gesellschaft. „Sie würden sich nie selbst als rechtsextrem bezeichnen“, sagt Oliver Decker, Rechtsextremismus-Forscher an der Universität Leipzig und Mitautor der „Mitte-Studien“, „sie haben aber extrem rechte Gedanken.“ Das Gros der PEGIDA-Demonstranten, sagt Decker weiter, entstamme dem Kleinbürgertum, das – wie wir wissen – auch die Massenbasis des Nationalsozialismus bildete. Sie gehören zu den „Stillen im Lande“, die allenfalls am Stammtisch laut werden, wenn sie unter sich sind. Dort schwadronieren sie herum, schimpfen auf Obdachlose, Langzeitarbeitslose, Asylsuchende und dieses ganze Politiker-Pack, das durch und durch korrupt ist und nichts tut. Der beliebteste PEGIDA- und Stammtisch-Satz lautet: “Alle Politiker in einen Sack stecken und draufhauen, du triffst immer den Richtigen!” Es sind viel zu viele „Zigeuner“ im Land und auch „der Jude“ hat nach wie vor seine Finger überall im Spiel und „steckt letztlich dahinter“. Es müsste jeder wieder ein Arbeitsbuch haben und gegen Faulenzerei und Schmarotzertum muss endlich hart durchgegriffen werden. Dass Lehrer ihre Schüler nicht mehr züchtigen und Homosexuelle heiraten dürfen, halten sie für einen großen Unfug und eine Schande. Dass jemand wie Conchita Wurst den europäischen Schlagerwettbewerb gewinnt, ist in ihren Augen Ausdruck einer grauenhaften Dekadenz und ein Zeichen des Untergangs des Abendlandes. Sie sehnen sich nach einem „starken Mann an der Spitze“, der „das Volk eint und den ganzen Saustall mit eisernem Besen ausmistet“. Nach dem dreizehnten Bier sagt der „kleine Mann“ am Stammtisch schon mal Sätze wie diesen: „Tät unser Führer noch leben, unterm Hitler hätt‘s des nicht geben.“ Dem taz-Mitarbeiter Deniz Yücel sagte ein Mann, der in Berlin-Marzahn gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft demonstrierte, auf die Frage nach seiner politischen Orientierung: „Ick bin rechts. Aber nich so extrem. Ick sach ma: Judenverfolgung, dit muss nich sein.“ Heute Morgen hörte ich auf dem Wochenmarkt im Vorübergehen einen Metzgermeister zu einem Kunden sagen: „Und wenn mer was sacht, werd mer gleich in die Eck gestellt.“ Es muss nur jemand auftauchen, der diese Leute aus ihrer Ecke befreit; einer, der den ganzen jetzt noch privaten Wahnsinn prinzipialisiert und zur Partei- und Staatsideologie erhebt; einer, der diesen ganzen herumliegenden und im gesellschaftlichen Untergrund grummelnden diffusen Unmut aufsammelt und bündelt. Das hatten wir schon einmal.
Wenn man mir mit dem Verweis auf die „Mitte der Gesellschaft“ kommt, als wäre das ein demokratisches Gütesiegel, bin ich deswegen stets versucht zu sagen: „Genau, das ist es ja gerade. Da stammt er ja her, der Nationalsozialismus. Dass man der Mitte der Gesellschaft entstammt, heißt doch noch lange nicht, dass man kein Nazi sein kann.“ Ein Mitarbeiter der Berliner taz erhält auf die Frage, ob unter den Demonstranten in Dresden Nazis seien, die Antwort: „Hier sind keine Nazis. Ich bin Maler, hier gibt es Professoren, Polizisten, Hausfrauen – alles.“ Die einen halten das Nazi-Sein offenbar für einen Beruf, andere für eine Eigenheit gewisser Randgruppen der Gesellschaft, die an bestimmten körperlichen Stigmata zu erkennen sind. Das Nazitum ist aber kein Klassen- oder Schichtenmerkmal, sondern eine Frage des Bewusstseins und vor allem des Unbewusst-Seins, des Umgangs mit dem Unbewussten. Als Produkte dieser Gesellschaft sind wir alle nicht frei von der „bürgerlichen Kälte“, die sich Adorno zufolge mit dem sich verallgemeinernden Tauschverhältnis wie ein Alb auf die Gesellschaft und ihre Bewohner legt und deren Fähigkeit zur Identifikation mit fremden Leiden systematisch beschädigt und einschränkt. Es gibt jenseits des politischen Begriffs einen Faschismus der Gefühle, einen Faschismus weit unterhalb des Kopfes. Manche Leute leiden unter einer Art braunen Juckens beim Anblick von Menschen, die nicht sichtlich Ihresgleichen sind, bei der Wahrnehmung von kleinsten Zeichen der Differenz und Fremdartigkeit.
Der durchschnittliche Erwachsene dieser Kultur ist ein Produkt von Wunschvernichtung und verinnerlichter Repression. Immer, wenn ihm außerhalb seiner etwas begegnet, das auf ein Mehr an Freiheit und Glück hindeutet oder das einfach nur anders ist, „geht ihm das Messer in der Tasche auf“. Der autoritär erzogene Mensch wird eine Neigung davontragen, das, was er selbst unter Schmerzen in sich abtöten und begraben musste, aus sich herauszusetzen und dort am Anderen zu bekämpfen und zu vernichten. Auf der Basis eines an seiner Entfaltung gehinderten, durch pädagogische Dressur partiell getöteten Lebens entwickelt sich eine konformistische Bösartigkeit, ein Zugleich von Anpassung und Aggression. Ihr wohnt eine Tendenz inne, sich am Anderen schadlos zu halten und zu verfolgen, was einem lebendiger vorkommt: „Der da, der reißt sich nicht so zusammen wie ich!“ Ressentiments und Feindseligkeit schlagen dem um sein Glück Betrogenem aus allen Poren. „Gleiches Unrecht für alle!“, avanciert zur unausgesprochenen Maxime seines ungelebten Lebens. Dieser Faschismus der Gefühle oder der Gefühllosigkeit ist zu verstehen als eine Parteinahme für das Abgestorbene und Tote in der eigenen Person. Faschismus oder Nicht-Faschismus sind also in erster Linie eine Frage der Achtung und Verachtung des Lebendigen und erst dann eine im engeren Sinn politische Entscheidung für Links oder Rechts. Dass ein Mensch soziologisch der Mittelschicht angehört, sagt nichts darüber aus, ob er Faschist und Nazi ist oder auf der Seite derer steht, die für Freiheit und die Entfaltung des Lebendigen kämpfen. Er kann sich entscheiden, und auch, wenn er sich nicht entscheidet, hat er sich entschieden.

Der Schriftsteller Horst Krüger nahm 1964 vier Wochen lang als „stummer Zeuge“ und journalistischer Beobachter am Frankfurter Auschwitz-Prozess teil. Er hat seine Beobachtungen in seinem autobiographischen Buch Das zerbrochene Haus. Eine Jugend in Deutschland (Hamburg 1976) festgehalten. Am ersten Prozesstag, dem er beiwohnte, fragte er in der Mittagspause einen Kollegen: „Und die Angeklagten? Wo sind denn die eigentlich?“ Er hatte im Gerichtssaal nur behäbige Frankfurter Bürgergesichter und freundliche Leute wahrgenommen. Der Kollege klärt ihn auf, dass die Angeklagten direkt vor ihm säßen. Da begriff Horst Krüger, dass man sie nicht unterscheiden kann, dass sie sind wie alle. „Zweiundzwanzig Männer sind hier angeklagt, acht sind in Haft, vierzehn gegen Kaution in Freiheit, und alle sehen mit ganz wenigen Ausnahmen natürlich aus wie alle anderen, benehmen sich wie alle anderen, sind wohlgenährte, gut gekleidete Herren im gehobenen Alter: Akademiker, Ärzte, Kaufleute, Handwerker, Hausmeister, Bürger unserer neudeutschen Gesellschaft im Überfluss, freie Bundesbürger, die draußen ihr Auto vor dem Römer stehen haben und zur Verhandlung kommen wie ich. Da ist nichts zu unterscheiden.“ Die Massenmörder sind inzwischen wieder das, was sie vor den Massenmorden waren. Auffallend viele von ihnen arbeiten als Buchhalter. „Bestand denn die ganze SS aus Buchhaltern“, fragt sich Horst Krüger irritiert und erschrickt vor der Erkenntnis, dass der Faschismus aus der bürgerlichen Normalität herausgewachsen und nach 1945 wieder in ihr verschwunden ist. Der ehemalige Nazi ist kein zähnefletschendes Ungeheuer, sondern der nette Mann von gegenüber, der im Park seinen Hund ausführt und den Enkeln auf dem Rückweg vom Büro ein Eis mitbringt. Adorno nannte die KZ-Schergen, von denen einige in Frankfurt vor Gericht standen, „Normalungetüme“. Man kann aus dieser Erkenntnis die Konsequenz ziehen: Es gibt keine harmlose bürgerliche Normalität, der „Normale“ ist schon auf dem Weg zum Handlungshilfen. Der loyale Bürger tut seine Pflicht und gehorcht – egal unter welcher Regierung. Peter Brückner zog daraus den radikalen Schluss: „Nur wer zu nichts Bürgerlichem taugt, taugt auch nicht zum Faschisten“.

Der faschistische Agitator und die politische Rechte betreiben, hat Leo Löwenthal gesagt, „umgekehrte Psychoanalyse“. Statt das dumpf im psychischen Untergrund Schwelende und die frei flottierenden Ängste über sich selbst aufzuklären und ins Bewusstsein zu heben, wie es psychoanalytische und aufklärerisch-demokratische Praxis wäre, eignen sie sich diesen Rohstoff so an, wie er bereit liegt, und setzen ihn für ihre Zwecke in Gang. Sie rücken den verunsicherten Menschen einen Feind zurecht, den sie für ihr Unglück verantwortlich machen können. In Zeiten verbreiteter Verunsicherung und Desorientierung steigt das Bedürfnis nach entlastenden Vereinfachungen, und wer die simpelsten Polarisierungen liefert, hat die besten Aussichten, Gehör und Gefolgschaft zu finden. Wirkliche Aufklärung – unter striktem Verzicht auf alles Populistisch-Reklameähnliche – ist dagegen mühsam und schmerzhaft. Sie muss den steinigen Acker der Vorurteile bestellen, den herumliegenden Rohstoff an alltäglichen Meinungen komplizierten Bearbeitungsprozessen unterziehen, muss lange Wege und Umwege gehen, um von der Ebene der erscheinenden Wirklichkeit zum Wesen der Dinge vorzudringen, und steht deswegen oft auf verlorenem Posten.
“Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen”, schrieb Adorno in seinem Buch Minima Moralia.

Im Januar 2015 erscheint im verlag Brandes & Apsel Götz Eisenbergs neues Buch Zwischen Amok und Alzheimer – Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus.


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