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Titel: Jahrelang wurde uns erzählt, wir seien schlecht. Jetzt plötzlich sind wir gut.

Datum: 29. Juni 2007 um 8:38 Uhr
Rubrik: Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Unentwegt hat man uns erzählt, die Attraktivität des Standorts Deutschland hänge von Reformen ab, von Reformen, die den Unternehmen niedrige Unternehmenssteuern, niedrigere Lohnnebenkosten und niedrige Lohnkosten bescheren. Jetzt plötzlich lesen wir in einer Studie von Ernst & Young, dass Weltoffenheit, Fröhlichkeit und Gastfreundlichkeit, dass unsere erstklassische Infrastruktur, die hohe Qualifikation der Arbeitnehmer und eine gute Lebensqualität wichtige Faktoren sind, wenn über den Standort von Investitionen entschieden wird. Albrecht Müller.

Und jubelnd wird von SpiegelOnline weitergegeben: „Die Aufholjagd ist beeindruckend. Noch vor wenigen Jahren rangierte Deutschlands Ansehen als Investitionsstandort bei den Top-Managern unter ferner liefen. Inzwischen ist der Standort wieder unter den Top-Fünf der Welt – nicht zuletzt dank der Fußball-WM.“

Wir haben in den NachDenkSeiten von Beginn an und immer wieder darauf hingewiesen, dass es auf die Reformen nicht ankommt und genau die von Ernst & Young jetzt beschriebenen Faktoren, auch die so genannten weichen Standortfaktoren, wichtig sind. Auf Seite 178 der im Jahr 2004 erschienenen „Reformlüge“ schrieb ich:

Eine differenzierte Analyse der Stärken und Schwächen täte gut
Will man die Standortqualität unseres Landes und seine Wettbewerbsfähigkeit einigermaßen objektiv erfassen, dann muss man ein breites Spektrum von Indikatoren überprüfen: die Leistungsbilanz und den Welthandelsanteil, die Arbeitslosen- und die Wachstumsrate, die Staatsverschuldung und die Verschuldung im Ausland, die Steuer- und die Sozialabgabenquote, die Direktinvestitionen hier und im Ausland, den Zustand der Infrastruktur und die Qualität der Ausbildung, die Spar- und die Investitionsquote, die Forschungspotentiale und den Zustand des Rechts­wesens. Kann man eine Forderung gegenüber einem Geschäftspartner notfalls auch einklagen? Das ist wichtig, aber keine Selbstverständlichkeit. Hinzu kommen noch eine Reihe sogenannter weicher Standortfaktoren: die Wohn- und Lebensqua­lität, die kulturelle Vielfalt, Toleranz und Offenheit sowie die ­Kriminalitätsrate. Oder würden Sie als Manager mit Ihrer Familie in ein sehr unsicheres Land ziehen wollen, wenn Sie dort hinter großen Mauern leben müssten?
Will man ein einigermaßen klares Urteil über die Standortqua­lität unseres Landes fällen, dann muss man alle diese Faktoren, die ökonomisch harten und die weichen, in die Beurteilung mit ein­beziehen und darf sich nicht allein auf die Wachstums- und die ­Arbeitslosenrate beschränken,49 so wichtig diese beiden Indikatoren zur Beurteilung der Qualität der Wirtschaftspolitik auch sind.
Differenziertheit ist nicht gerade ein Merkmal der bei uns so heftig geführten Debatte. Sie ist vielmehr geprägt von der ­Perspektive »dieses Glas ist halb leer«. Es ist, als würde geradezu händeringend nach kritischen Entwicklungen unseres Landes gesucht, damit ­diese in der Art einer Kampagne aufbereitet werden können.

Seit dem Erscheinen der „Reformlüge“ sind wieder drei Jahre vergangen. Getrieben vom herrschenden Glauben an die Kraft der Reformen wurden in dieser Zeit wichtige Einrichtungen unseres Landes wie etwa das Vertrauen in die Gesetzliche Rente und die Arbeitslosenversicherung zerstört. Krampfhaft wurde versucht, die Lohnnebenkosten zu senken, weil – siehe Kanzleramtspapier von Dezember 2002 – die herrschenden Kreise wirklich daran glaubten und vermutlich immer noch glauben, dass unsere Attraktivität als Investitionsstandort zu aller erst von ein paar Prozenten Lohnnebenkosten abhängt.

Und die Begleitmusik war immer Moll. Um die gewünschten Strukturreformen zu begründen, wurde das Land mies geredet. Einvernehmlich von Wissenschaft und Wirtschaft, von Politik und Publizistik. Noch vor einem Jahr hat Kanzlerin Merkel Deutschland zum Sanierungsfall erklärt. Am Ende des Artikels von SpiegelOnline wird Peter Englisch von Ernst & Young dann auch dazu mit der folgenden passenden Feststellung zitiert: „Das wichtigste aber ist, dass wir uns dieser Stärken allmählich bewusst werden.“

So ist es. Aber es hat viel zulange gedauert. Denn damit wurde auch jahrelang versäumt, den Gestaltungsspielraum zu nutzen, den eine differenzierte Betrachtung der Standortfaktoren bietet: die Infrastruktur auf Vordermann bringen, die Lebensqualität erhalten und verbessern, die kulturelle Vielfalt stärken, Ursachen von Kriminalität bekämpfen, gut ausbilden, nicht Hunderttausende von jungen Menschen ohne Arbeit und Ausbildung hängen lassen und einiges mehr.

Und noch etwas: es wäre wichtig, auch für die Gestaltung der Zukunft daraus zu lernen und endlich die unseligen Reformen und Privatisierungen sein zu lassen und zu korrigieren. Ganz konkret: Zu der jetzt wieder dokumentierten Erkenntnis passt nicht die weitere Privatisierung der Deutschen Bahn AG. Damit gibt der Staat nämlich einen wichtigen Hebel zur Gestaltung der Infrastruktur und der Lebensqualität aus der Hand. Das ist nur ein Beispiel von vielen, die zeigen, dass die politischen Entscheider wie die Hamster im Rad hängen. Unfähig zur Korrektur eines falschen Weges. Vermutlich auch, weil sie von Interessen abhängig sind und „hamstern.“


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