NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Jürgen Todenhöfer: „Islamischer Staat“ – sieben Eindrücke einer schwierigen Reise

Datum: 23. Dezember 2014 um 12:00 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege, Terrorismus
Verantwortlich:

Der Publizist und ehemalige Politiker Jürgen Todenhöfer hat eine bemerkenswerte Reise hinter sich. Er was zehn Tag im „Islamischen Staat“, um sich vor Ort einen Eindruck über ein Phänomen zu machen, über das zwar sehr viel geschrieben wird, von dem aber nur sehr wenig aus erster Hand stammt. Todenhöfers Eindrücke sind es wert, von möglichst vielen Menschen gelesen zu werden und sie stellen eine ernst zu nehmende Warnung dar. Für Jürgen Todenhöfer stellt der Islamische Staat „zur Zeit die größte Bedrohung des Weltfriedens seit dem Kalten Krieg“ dar. Gleichzeitig kritisiert Todenhöfer die Strategie des Westens scharf – man könne den IS nicht „mit Bomben und Raketen besiegen“. Jens Berger.

Die NachDenkSeiten übernehmen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung des Autoren von seiner persönlichen Internetseite. Wenn Sie Facebook nutzen, werfen Sie bitte auch einen Blick auf Jürgen Todenhöfers Facebook-Seite, auf der sie auch zahlreiche weitere Beiträge Todenhöfers zum Thema IS finden.

Jürgen Todenhöfer: „Islamischer Staat“ – sieben Eindrücke einer schwierigen Reise

Liebe Freunde, nur langsam fällt der Stress der Reise in den ‘Islamischen Staat’ von uns ab. Mein Sohn Frederic hat mehrere Kilo abgenommen. Natürlich wusste ich, dass das Risiko hoch war. Nicht nur wegen des IS. Auch wegen der amerikanischen und syrischen Bombenangriffe. In Mosul kreisten über uns mehrfach tieffliegende US-Bomber. Unsere ‘Wohnung’ im syrischen Raqqa wurde während unseres Aufenthalts im irakischen Mosul von einer syrischen Bombe weitgehend zerstört. Wir mussten unsere letzte Nacht in Raqqa in einer ausgebombten, von Glassplittern übersäten Wohnung verbringen.

Doch ohne Risiko kommt man der Wahrheit nur schwer auf die Spur. Und ich brauchte nun einmal für ein geplantes Buch über den IS authentisches Material. Das aber gibt es nur vor Ort. Ich habe das bei all meinen Büchern so gemacht. Immer bin ich in die Krisenländer gereist. Außerdem hatte ich ja diese Sicherheitsgarantie des ‘Kalifats’. Nur leider keine Garantie, dass sie echt war. Alle meine Freunde und Familienmitglieder haben ihre Echtheit bezweifelt und versucht, mich von der Reise abzuhalten. Ich höre in solchen Situationen immer auf meine innere Stimme.

Die Garantie war echt. Und der IS hat sich bei unserem Besuch in Mosul und Raqqa daran gehalten. Allerdings wurden wir meist vom Geheimdienst überwacht und mussten Mobiltelefone und Computer abgeben. Am Ende unserer Reise wurden ferner alle Bilder und Fotos kontrolliert. Von rund 800 Fotos wurden – u.a. zum Schutz der Angehörigen ausländischer Kämpfer – 9 Fotos gelöscht. Zensur nennt man das.

Es kam auch mehrfach zu scharfen und lautstarken Auseinandersetzungen zwischen mir und dem IS über die Gestaltung der Reise. Es ist nicht ganz einfach mit schwer bewaffneten IS-Kämpfern zu streiten. Zweimal stand die Reise kurz vor dem Abbruch. Angesichts der täglichen Lebensgefahr für alle Beteiligten war die Behandlung zwar oft gereizt, insgesamt jedoch korrekt.

Hier meine sieben Stärksten Eindrücke in Kurzform:

  1. Der Westen unterschätzt die Dimension Der IS-Gefahr dramatisch.

    Die IS-Kämpfer sind erheblich cleverer und gefährlicher, als unsere Politiker annehmen. Im ‘Islamischen Staat’ herrscht eine fast rauschartige Begeisterung und Siegeszuversicht, wie ich sie in Kriegsgebieten noch nicht erlebt habe. Die IS-Kämpfer sind überzeugt, mit ihrem totalitären Glauben und ihrer demonstrativen Brutalität Berge versetzen zu können. In Mosul haben weniger als 400 IS-Kämpfer 25.000 hochmodern ausgerüstete irakische Soldaten und Milizen in die Flucht geschlagen. Der IS hat in wenigen Monaten ein Staatsgebiet erobert, das größer ist als Großbritannien. Al Qaida ist daneben ein Zwerg.
    Gelegentliche Geländeverluste oder -wechsel scheinen den IS wenig zu interessieren. Auch wenn sie im Augenblick von einigen Medien hochgespielt werden. Sie seien im Guerilla-Krieg normal.

  2. Der Zustrom neuer Kämpfer zum IS wächst jeden Tag.

    Ich verbrachte zwei Tage in einem Aufnahme-Lager des IS nahe der türkischen Grenze. An beiden Tagen kamen jedes Mal über 50 Kämpfer aus aller Welt an. Nicht etwa nur junge Männer, die in ihren Heimatländern gescheitert waren. Auch viele erfolgreiche, euphorisch gestimmte junge Leute aus den USA, England, Schweden, Russland, Frankreich, Deutschland usw. Einer hatte erst vor wenigen Wochen sein juristisches Staatsexamen bestanden und war gerade als Anwalt bei Gericht zugelassen worden. Er aber wollte lieber im ‘Islamischen Staat’ kämpfen.

  3. Der ‘Islamische Staat’ scheint – soweit ich das nach 10 Tagen beurteilen kann – wie andere totalitäre Länder der Region als Staat zu funktionieren.

    Das gilt vor allem für den Bereich der inneren Sicherheit und den Bereich der Sozialfürsorge – auch wenn vieles nicht unseren westlichen und schon gar nicht meinen Vorstellungen entspricht. Zumindest die sunnitische Bevölkerung des irakischen Teils des ‘Islamischen Staats’ scheint den neuen Staat inzwischen widerstandslos hinzunehmen. Weil sie ihn der vorher herrschenden Diskriminierung und Unterdrückung durch das Maliki-Regime in Bagdad vorzieht. Allerdings leben in Mosul nach der Flucht aller Christen, Schiiten und Jesiden und unzähligen Hinrichtungen nur noch Sunniten.

  4. Ziel des IS ist nicht nur die Eroberung des Mittleren Ostens und eines Tages der übrigen Welt, sondern die größte ‘religiöse Säuberung’ in der Geschichte der Menschheit.

    Der IS will mit Ausnahme der sogenannten Buchreligionen – also des “IS-Islams”, des Judentums und des Christentums – alle Nichtgläubigen und Abtrünnigen töten und ihre Frauen und Kinder versklaven. Alle Schiiten, Jesiden, Hindus, Atheisten und Polytheisten sollen sterben. Hunderte von Millionen Menschen sollen im Zuge dieser religiösen ‘Reinigung’ eliminiert werden.

    Auch alle gemäßigten Muslime, die die Demokratie bejahen, sollen getötet werden. Weil sie damit aus der Sicht des IS menschliche Gesetze über die Gesetze Gottes stellen. Das gilt – nach einer erfolgreichen Eroberung – auch für die demokratisch gesinnten Muslime der westlichen Welt.
    Die einzige Chance dieser ‘Ungläubigen’, dem Tod zu entrinnen, besteht in freiwilliger Reue und freiwilliger Umkehr zum ‘wahren Islam’. Den angeblich nur der IS vertritt. Und das nur, solange ihre Länder nicht erobert sind.

    Juden und Christen sollen als Buchreligionen toleriert werden, müssen aber eine fixe Schutzsteuer von einigen hundert Dollar pro Jahr zahlen. Muslime haben die Zakatsteuer zu zahlen, die bei wohlhabenden Muslimen höher, bei armen Muslimen niedriger sein kann.

    Ich brauche nicht zu betonen, dass es in keinem dieser Punkte Übereinstimmung zwischen mir und dem IS gab. Und dass ich das unzählige Male sehr deutlich gemacht habe.

  5. Aus meiner Sicht ist der IS eine 1-Prozent-Bewegung mit der Wirkung eines nuklearen Tsunamis.

    Der IS predigt einen Islam, den 99 Prozent der 1,6 Milliarden Muslime unserer Welt ablehnen. Für mich als Christen, der den Koran mehrfach gelesen hat, ist nicht nachvollziehbar, was die Lehren des IS mit dem Islam zu tun haben sollen. Ich habe bei der Lektüre des Koran vor allem einen barmherzigen Islam kennengelernt. 113 von 114 Suren beginnen mit den Worten: “Im Namen Allahs, des Allerbarmers und Barmherzigen”. Von dieser Barmherzigkeit habe ich beim IS nichts verspürt.

  6. Mit Bomben und Raketen ist der IS nicht zu Besiegen.

    Die Drei-Millionenstadt Mosul beispielsweise wird von etwa 5.000 IS-Kämpfern beherrscht. Wer sie mit Bomben ausschalten will, muss ganz Mosul in Schutt und Asche legen und zigtausende Zivilisten töten. Bombardierungen waren und sind im Mittleren Osten stets Terrorzucht-Programme. Siehe IS! Auch er ist ein Kind von George W. Bushs völkerrechtswidrigem Irakkrieg.

    Nur die gemäßigten sunnitischen Araber können den IS stoppen, nicht der Westen. So wie sie es 2007 schon einmal getan haben. Damals vertrieben sie den ‘Islamischen Staat im Irak’ (ISI), die Vorgänger-Organisation des IS. Doch der damalige ISI war viel schwächer als der heutige IS.

    Die gemäßigten irakischen Sunniten würden sich dem IS allerdings nur entgegenstellen, wenn sie wieder voll in die irakische Gesellschaft integriert würden, aus der die Amerikaner und die schiitischen Iraker sie nach dem Angriffskrieg der USA auf den Irak 2003 vertrieben haben. Danach sieht es zur Zeit nicht aus. Dennoch ist dies die einzig denkbare Lösung, um den IS zu stoppen.

    Auch in Syrien gibt es Lösungen. Allerdings müsste der Westen hierzu seine völlig unrealistische Lageeinschätzung korrigieren. Er hat sich in Syrien schlicht und ergreifend verrannt.

  7. Im Westen wird viel über eine Terrorgefahr durch Zurückgekehrte IS-Kämpfer spekuliert.

    Auch ich kann und werde diese Gefahr nie ausschließen. Innerhalb des ‘Islamischen Staates’ gelten die Rückkehrer allerdings als Verlierer, “die das Leben im ‘Islamischen Staat’ nicht geschafft haben”. Sie sind deshalb wohl nicht die Hauptgefahr, obwohl es in Brüssel einen Anschlag durch einen Rückkehrer gab. Eine größere Gefahr könnte eher von noch nicht ausgereisten IS-Sympathisanten ausgehen.

    Niemand sollte in Deutschland Terrorgefahren verharmlosen. Aber man sollte sie auch nicht übertreiben. Immerhin ist in Deutschland noch nie ein Deutscher von Islamisten getötet worden. Aber viele deutsche Muslime durch deutsche Rechtsradikale. Gruppen wie Pegida stellen die Fakten in Deutschland auf den Kopf. Sie betreiben das Geschäft des IS, der großes Interesse an einer Eskalation zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Deutschland hat. Der IS hat mir das mehrfach bestätigt.

Aus meiner Sicht ist der IS zur Zeit die größte Bedrohung des Weltfriedens seit dem Kalten Krieg. Wir bezahlen jetzt den Preis für den an Torheit kaum zu überbietenden Überfall George W. Bushs auf den Irak. Der Westen steht dieser Bedrohung bisher konzeptionslos gegenüber.

Euer JT


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=24408