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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Vor der Präsidentschaftswahl in Griechenland
Datum: 16. Dezember 2014 um 16:01 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Griechenland, Wahlen
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Die griechische Regierung hat die erste Runde der Präsidentschaftswahl durch das Parlament auf den 17. Dezember vorgezogen. Ursprünglich sollte diese im ersten Quartal 2015 stattfinden. Die internationalen Geldgeber haben daraufhin beschlossen, das Hilfsprogramm für Griechenland um zwei Monate zu verlängern. Durfte die Präsidentschaftswahl überhaupt vorgezogen werden? Warum hat die Regierung Samaras die Präsidentenwahl überhaupt beschleunigt? Wie stehen derzeit die Chancen, dass die Regierung ihren Präsidentschaftskandidaten durchbringt, sodass ihr vorzeitige Parlamentswahlen erspart bleiben? Kann sich das derzeit sichtbare Kräfteverhältnis bis zum entscheidenden Wahlgang vom 29. Dezember noch verschieben? Macht die Person des Kandidaten Pavlos Dimas das Erreichen der Präsidenten-Mehrheit von 180 Stimmen leichter oder schwerer? Wie begründet ist der in linken Kreisen artikulierte Verdacht, die Regierung werde versuchen, die für die Wahl von Dimas nötigen Stimmen zu „kaufen“? Welche Entwicklungen könnten die Wahl eines Präsidenten noch beeinflussen? Auf diese und andere wichtige Fragen der griechischen Politik versucht Niels Kadritzke eine Antwort zu geben. Darüber hinaus wirft er einen Blick auf die trostlose Bilanz von sechs Jahren Krisenpolitik.
Die Wahl eines neuen griechischen Staatspräsidenten war eigentlich für Frühjahr 2015 vorgesehen. Jetzt hat die Regierung Samaras die Wahl vorgezogen, die nun noch innerhalb des Jahres 2014 stattfinden wird. Warum durfte sie das?
Nach Artikel 32 Abs.1 muss das griechische Parlament spätestens einen Monat vor Ablauf der fünfjährigen Amtszeit des alten Präsidenten zur Wahl eines Nachfolgers einberufen werden. Da Karolos Papoulias seine zweite Amtszeit am 12. März 2010 angetreten hat, war der Beginn des Wahlvorgangs für Anfang Februar vorgesehen. Die Wahl kann sich auf drei Runden ausdehnen, wobei in den ersten beiden Runden eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist (200 der 300 Stimmen). Ob ein von der Regierung gestützter Kandidat die nötige Drei-Fünftel-Mehrheit von 180 Stimmen erreichen kann, entscheidet sich allerdings erst im dritten Wahlgang, also zehn bis zwölf Tage später. Bei einem Scheitern des Kandidaten muss das alte Parlament nach Art. 32 Abs.4 aufgelöst und ein neues Parlament gewählt werden (das als erste Aufgabe innerhalb von 20 Tagen einen neuen Präsidenten zu wählen hätte). Eine so erzwungene vorzeitige Parlamentswahl – reguläre Wahlen stehen erst für Juni 2016 an – war nach diesem „normalen“ Zeitplan frühestens für Ende März zu erwarten.
Die Entscheidung, den Prozess um fast zwei Monate vorzuziehen, wurde von der Regierung Samaras getroffen. Sie war nur möglich, weil die Verfassung für die Wahl zwar eine Mindestfrist (von einem Monat) vor Ablauf der Amtszeit des scheidenden Präsidenten festlegt, nicht aber eine maximale Frist. Dennoch ist diese Entscheidung aus zwei Gründen staatsrechtlich problematisch.
Erstens verlängert sich dadurch die Zeitspanne, in der noch der alte Präsident amtiert, während der neue schon feststeht. Durch die vorgezogene Wahl wird nämlich die Amtszeit von Papoulias keineswegs verkürzt, vielmehr ist dieser nach Art. 32 Abs. 2 „in jedem Fall für die gesamte Amtszeit“ (von fünf Jahren) gewählt. Schwer vorstellbar wäre zum Beispiel die Neuwahl des Präsidenten schon sechs Monate vor Ablauf der Amtszeit des alten. Auch das wurde schon diskutiert, aber stets unter der Voraussetzung, dass sich Papoulias zu einem vorzeitigen Rücktritt überreden lässt. Davon hat man auch deshalb abgesehen, weil der Präsident zum Spielmaterial parteitaktischer Manöver geworden wäre. Eine Wahl bereits zehn Wochen vor Ablauf der Amtszeit des alten Präsidenten dürfte das Äußerste sein, was eine Interpretation der Verfassung gerade noch zulässt.
Eine Wahl und ihre „Zweckentfremdung“
Problematisch ist auch der explizit „politische“ Charakter der Entscheidung über die vorgezogene Präsidentenwahl. Das Staatsoberhaupt ist als ein Verfassungsorgan konstruiert, das über der Tagespolitik stehen soll. Nicht zufällig wird seine Wahl durch den Parlamentspräsidenten anberaumt (Art.32/1), der theoretisch eine neutrale Instanz ist. Im jetzigen Fall wurde der Wahltermin von der Regierungsspitze (also von Samaras und seinem Stellvertreter Venizelos) beschlossen und offiziell verkündet. Ob Parlamentspräsident Meimarakis diesen Beschluss vollziehen musste, ist rechtlich ungeklärt. Aber die Frage spielt keine Rolle, weil Meimarakis (u.a. langjähriger ND-Generalsekretär) ein altbewährter Parteisoldat ist.
Auch die Frage, ob die vorgezogene Präsidentenwahl dem Geist des Art. 33 der Verfassung entspricht, stellt sich in der Praxis nicht. Denn gegen den Beschluss der Regierung hat niemand Beschwerde eingelegt. Im Gegenteil: Gerade die Oppositionsparteien dringen schon seit längerem auf vorzeitige Neuwahlen. Insbesondere die Linkspartei Syriza verkündet seit den Europawahlen im Mai 2014, sie wolle die Wahl des Präsidenten durch das jetzige Parlament auf jeden Fall vereiteln, und zwar völlig unabhängig vom Kandidatenangebot. Die „Politisierung“ der Präsidentenwahl ging in diesem Fall also auch von der Opposition aus. Diese negative Festlegung widerspricht zweifellos dem „Geist der Verfassung“. Denn die Intention von Artikel 32 ist eindeutig: Er soll eine möglichst breite parlamentarische Mehrheit für das Staatsoberhaupt sichern, und nicht etwa einen „Umweg“ zu Neuwahlen eröffnen. Eine „Zweckentfremdung“ der Präsidentenwahl ist für Griechenland allerdings nichts Neues. Und es wird sie auch in Zukunft geben, es sei denn, die Verfassung wird in diesem Punkt geändert (was einige Politiker und Verfassungsrechtler ohnehin fordern).
Warum hat die Regierung Samaras die Präsidentenwahl beschleunigt?
Der Beschluss der Athener Regierung ist zwar eine autonome Entscheidung, wurde aber durch die Troika der Gläubiger (EU-Kommission, EZB und IWF) quasi erzwungen. Zwar gab es in den Planspielen der Koalitionsparteien ND und Pasok schon seit Sommer eine Variante C, die vorgezogene Neuwahlen als einen „Überraschungscoup“ vorsah, aber diese Variante galt nur als Blendwerk, das die oppositionelle Syriza verunsichern sollte. Die jetzige Entscheidung beruht nicht auf einer eigenen Strategie oder Taktik, sondern wurde der Regierung oktroyiert.
Hintergrund sind die Differenzen und Auseinandersetzungen um die Erfüllung der Forderungen, die Griechenland von der Troika als Bedingung für die laufende Finanzhilfe abverlangt werden. Da die Regierung Samaras ein möglichst rasches Ende dieser „Zwangsverpflichtung“ auf ein Sparprogramm (formuliert in Form von „Memoranden“) nicht nur anstrebt, sondern bereits verkündet hat, ist die anstehende Evaluierung besonders bedeutsam. Sie läuft auf eine Art „Abschlussbericht“ hinaus, der eigentlich bereits im Oktober vorliegen sollte. Dieser Bericht ist aber wegen gravierender Bewertungsdifferenzen immer noch nicht fertig, was bislang auch die Auszahlung der letzten Kredittranche für 2014 (in Höhe von 1,8 Mrd. Euro) verhindert hat.
Die Troika hatte nach ihrer letzten Inspektionsrunde im November erklärt, dass sie die Voraussetzungen für eine Beendigung des Sparprogramms nicht erfüllt sieht. Sie machte vor allem zwei Punkte geltend: Der Haushalt für 2015 weise nach wie vor eine Deckungslücke von mindestens 1,7 Mrd. Euro auf, für die beiden darauffolgenden Haushaltsjahre werde sich der Fehlbetrag auf 2, 9 Mrd. Euro erhöhen. Zudem sei die Regierung Samaras mit wichtigen und seit langem zugesagten Reformen im Rückstand (die Liste von 15 „Mängelrügen“ der Troika publizierte die Kathimerini in ihrer griechischen Ausgabe vom 13. Dezember; siehe dazu auch meine letzte Analyse vom 30. Oktober 2014).
Samaras, Venizelos und Finanzminister Chardovelis hatten gehofft, die Differenzen mit der Troika bis Anfang Dezember ausräumen zu können. Und zwar ohne neue Sparmaßnahmen (wie Steuererhöhungen und Lohn- bzw. Rentenkürzungen) zu beschließen, für die sie wahrscheinlich keine Mehrheit im Parlament gefunden hätten. Zugleich hofften sie, sofort danach die Bedingungen für eine „vorsorgliche“ Kreditlinie aushandeln zu können, also einen neuen Rettungsschirm, der die bisherigen ESM-Kredite ersetzen soll. Dies Bedingungen für diese Kreditlinie sollen nach ihrer Vorstellung so weich ausfallen, dass Samaras und Venizelos den griechischen Wählern erzählen könnten, die Krise sei überwunden und die Zeit fremdbestimmten Sparens endgültig zu Ende (siehe dazu meine ausführliche Darstellung auf den NDS vom 30. Oktober).
Streit um die griechischen Haushaltszahlen
Dieses Szenario durchkreuzte die Troika mit ihrer Weigerung, die griechischen Zahlen für den Haushaltsplan 2015 zu akzeptieren. Das Hauptproblem war dabei, wie man in einer detaillierten Analyse in der Kathimerini (14. Dezember) nachlesen kann, dass das Haushaltsjahr 2015 bereits mit einem Loch bei den laufenden Staatseinnahmen beginnen würde: „Im Zeitraum Januar bis November ist ein Einnahmerückstand in Höhe von 1,2 Milliarden Euro aufgelaufen“, zudem seien im Dezember noch erhebliche Zuschüsse an öffentliche Körperschaften und Sozialkassen fällig. Bezeichnend für die Lage sei, dass der Fiskus bis Jahresende noch „die ungeheure Summe von 8,4 Milliarden Euro eintreiben muss, um die gesteckten Haushaltsziele zu erreichen, wogegen die Einnahmen im Dezember 2013 gerade mal bei 5 Milliarden Euro lagen.“ Dieses Loch sei auch deshalb nicht mehr zu stopfen, weil die Finanzämter „in die alten Unsitten zurückfallen“ und zum Beispiel deutlicher weniger Kontrollen und Betriebsprüfungen durchführen. Dies alles zeige, „dass die Zielvorgaben, die man zusammen mit den Gläubigern aufgestellt hat, nicht erreicht werden“.
Die Regierung stand also vor der Aufgabe, unverzüglich neue Einnahmequellen zu erschließen, die eine Chance hatten, vom Parlament akzeptiert zu werden. Die einzige Maßnahme, die bei der ND- und der Pasok-Fraktion nicht durchfallen würde, war die Erhöhung der Mehrwertsteuer für Hotel- und Gaststättenumsätze von 6,5 auf 13 Prozent. Andere Steuererhöhungen, die die Lebenshaltung breiterer und ärmerer Bevölkerungskreise verteuert hätten, konnte die Regierung nicht riskieren. Ihr Einschätzung lautete, wie Eleni Varvitsioti und Kostas Papadiochos in einem gründlichen Hintergrundbericht (Kathimerini vom 14. Dezember) darlegen: Je mehr wir der Troika nachgeben, desto schwieriger wird es, die Wahl des Staatspräsidenten zu überstehen.
Flucht nach vorn als günstigste Optionen
Als sich dann herausstellte, dass die erhöhte Mehrwertsteuer das Haushaltsloch allenfalls zur Hälfte stopfen würde, schaltete die Troika Anfang Dezember endgültig auf stur. Jetzt blieben der Regierung nur drei Optionen:
Die erste Alternative hätte die politische Niederlage (bei den Präsidentenwahlen und nachfolgenden Parlamentswahlen) der Regierung besiegelt. Die zweite Alternative hätte einen ökonomischen Crash bedeutet, zumal damit zu rechnen war, dass auch die EZB (als Teil der Troika) die griechischen Banken nicht mehr gestützt hätte. Deshalb musste sich die Regierung Samaras für die dritte Alternative entscheiden, und zwar nach der Kompromissformel: Die Troika gewährt eine „technische“ Verzögerung ihrer abschließenden Evaluierung um zwei Monate, während Athen die Präsidentenwahlen in den Dezember 2014 vorzieht.
Für die Regierung bedeutet dies eine „Flucht nach vorn“, die aber als einziger Ausweg übrig blieb. Dieser Ausweg bietet immerhin einen doppelten Vorteil: Die Chancen für die Wahl eines Präsidenten werden im Dezember besser sein als im Februar 2015. Und auch für den Fall, dass ein Scheitern der Wahl zu vorzeitigen Parlamentswahlen führt, könnten diese noch im Januar oder spätestens Anfang Februar 2015 stattfinden – also bevor man sich mit der Troika über neue Sparmaßnahmen geeinigt haben muss. Deshalb würden Samaras und Venizelos in ihrem Wahlkampf immer noch behaupten können, dass der Ausstieg aus dem Sparprogramm der Troika unmittelbar bevorsteht und die Regierung das Land in eine neue Epoche führt, in der es nur noch „vorsorgliche Kreditlinie“, aber keine „Memoranden“ mehr gibt.
Einen zusätzlichen Vorteil bietet die Präsidentenwahl vor Jahresende speziell für die Pasok, deren Vorsitzender, Außenminister Venizelos, sich innerhalb seiner Partei zunehmend in Frage gestellt sieht. Einige Beobachter gehen sogar davon aus, dass der Plan von Venizelos, die Partei in eine neue Formation namens „Demokratische Fraktion“ umzuwandeln, zu einer Spaltung führen wird. Deshalb bestehen ernsthafte Zweifel, ob Venizelos bei Wahlen im späten Frühjahr überhaupt noch über eine einsatzfähige Partei verfügen würde.
Wie stehen derzeit die Chancen, dass die Regierung ihren Präsidentschaftskandidaten durchbringt, sodass ihr vorzeitige Parlamentswahlen erspart bleiben?
Bis vor kurzem galt es als ausgeschlossen, dass im Parlament das notwendige Quorum von 180 Stimmen (im 3. Wahlgang) erreichbar ist. Die Regierungsparteien ND und Pasok müssten jenseits ihrer eigenen 155 Abgeordneten noch weitere 25 Stimmen auftreiben, entweder aus dem Kreis der „unabhängigen“ Abgeordneten oder unter den Mitgliedern der oppositionellen Fraktionen. Dass dies bis zum 29. Dezember gelingt, halten die meisten Beobachter noch immer für sehr unwahrscheinlich. Die Kalkulationen in linken wie in bürgerlichen Zeitungen besagen übereinstimmend, dass der Regierung auch im dritten Wahlgang noch mindestens vier bis fünf Stimmen fehlen werden. Die detaillierteste Einschätzung der Kräfteverhältnisse bot die linke Efimerida ton Syntakton (Zeitung der Redakteure) vom 9. und 11. Dezember: Nach Auswertung aller bisherigen Äußerungen der 24 „unabhängigen“ Abgeordneten kann der Kandidat Dimas aus diesem Bereich mit maximal 11 Stimmen rechnen: fünf von ehemaligen Abgeordneten der linken Dimar, und sechs von rechten Abgeordneten, die aus der ND- oder der Anel-Fraktion ausgetreten sind.
Demgegenüber haben sich 13 der „unabhängigen“ Parlamentarier (bislang) darauf festgelegt, mit Nein zu stimmen. Das würde bedeuten, dass die Regierung noch 14 Abgeordnete aus den Oppositionsparteien auf ihre Seite ziehen muss. Bei der linkssozialdemokratischen Dimar (die sich per Fraktionsbeschluss auf ein Nein festgelegt hat) wie bei der rechtspopulistischen Anel wird zwar tapfer behauptet, die Fraktionsdisziplin in Sachen Präsidentenwahl stehe „fest wie Beton“. Aber aus Presseberichten geht hervor, dass bei der Dimar zwei und bei der Anel zwei oder drei Fraktionsmitglieder bereits jetzt erkennen lassen, sie könnten am Ende doch für Dimas stimmen.
Aber auch damit käme das Regierungslager erst auf 171 Stimmen (155 der Koalition, 11 Unabhängige, 5 von Dimar- bzw. Anel-Abgeordneten), müsste also noch weitere 9 „unsichere Kantonisten“ aufspüren und auf seine Seite ziehen. Das aber erscheint ausgeschlossen, wenn die Kalkulation der Efimerida ton Syntakton richtig ist, dass bereits 124 Mitglieder des Parlaments auf ein Nein festgelegt sind. Noch optimistischer wird die Lage innerhalb der Syriza eingeschätzt: Die Partei rechnet mit 137 Nein- Stimmen im ersten Wahlgang, was maximal 163 Stimmen für Dimas bedeuten würde.
Die inhaftierten Neonazis dürfen mitwählen
An diesem Punkt muss auf ein sehr heikles Thema verwiesen werden: Wenn die Syriza die Nein-Stimmen zusammenzahlt, kalkuliert sie die 16 Abgeordneten der Neonazi-Partei Chrysi Avgi mit, von denen sieben in Untersuchungshaft sitzen, darunter der Parteivorsitzende Michaloliakos. Der und seine sechs Fraktionskameraden dürfen an der Präsidentenwahl teilnehmen, wie heute der Staatsanwalt entscheiden hat, der für ihr Gefängnis zuständig ist. Bisher hat dieser den U-Häftlingen die Teilnahme an einer Parlamentssitzung nur erlaubt, als es um die Aufhebung ihrer Immunität ging. Dagegen durften sie an der Vertrauensabstimmung für die Regierung Samaras vom 11. Oktober nicht teilnehmen. Aber die Mitwirkung an einem so wichtigen Verfassungsakt wie der Präsidentenwahl kann man ihnen nicht verwehren. Und zwar schon um zu vermeiden, dass diese Abgeordneten ihren Ausschluss und damit die Gültigkeit der Wahl insgesamt gerichtlich anfechten können.
Ob die U-Häftlinge abstimmen werden oder nicht, wird allerdings für den Ausgang der Wahl nicht entscheidend sein. Denn die Chrysi Avgi-Abgeordneten werden ohnehin nicht für den Kandidaten Dimas stimmen. Dennoch könnte sich bei diesem entscheidenden Wahlgang eine peinliche Konstellation ergeben. Ein achter Untersuchungshäftling aus der Chrysi-Avgi-Fraktion, der Abgeordnete Stathis Boukaras, hat sich inzwischen von den Neonazis losgesagt und zum „Unabhängigen“ erklärt. Sollte er zur Präsidentenwahl erscheinen dürfen, könnte er bestrebt sein, seine Lossagung von den Neonazis mit seiner Stimmabgabe für den Kandidaten Dimas zu bekräftigen.
Kann sich das derzeit sichtbare Kräfteverhältnis bis zum entscheidenden Wahlgang vom 29. Dezember noch verschieben?
Die dargestellten Kalkulationen beschreiben den status quo, den auch die Regierung nicht bestreitet: In der „gewöhnlich gut informierten“ Kathimerini wird eine „Regierungsquelle“ mit der Einschätzung zitiert, dass man „noch nicht“ auf die 180 notwendigen Stimmen zählen könne. Dieselbe Zeitung meldet aus der „Umgebung“ von Samaras, der Regierungschef sei stocksauer über die „irreführenden Informationen“, die er bislang über die Kräfteverhältnisse bei den unabhängigen Abgeordneten erhalten habe. Nach Darstellung der Kathimerini würden die Realisten in der Regierung bereits von einem Erfolg sprechen, wenn Dimas im ersten Wahlgang am Mittwoch mehr als 165 Stimmen bekommen würde.
„Alles fließt“
Danach allerdings könnte einiges in Bewegung kommen, mutmaßt die Zeitung unter dem bei Heraklit geklauten Zwischentitel „Ta panta rei“ („Alles fließt“). Die ebenfalls regierungsfreundliche Wochenzeitung To Vima berichtet, „die Optimisten im Regierungslager“ erhofften sich schon am 17. Dezember bis zu 175 Stimmen für Dimas: „In diesem Fall halten sie die 180 Stimmen im dritten Wahlgang für machbar.“
Neutrale Beobachter gehen davon aus, dass für die „Dynamik“ des Wahlprozesses entscheidend sein wird, wie viele Abgeordnete sich bereits im ersten Wahlgang der Stimme enthalten. Falls es viele sind, würde dies eine „schwankende“ Stimmung anzeigen, die dann im 3. Wahlgang zugunsten von Dimas kippen könnte.
Alle Berichte über die Strategie des Regierungslagers stimmen in einem Punkt überein: Samaras und seine engsten Mitarbeiter setzen weniger auf die Gruppe der „Unabhängigen“, vielmehr wollen sie die „unsichere Kantonisten“ in den Fraktionen der Dimar (10 Abgeordnete) und der Anel (12 Abgeordnete) bearbeiten. Von diesen will man möglichst viele durch direkte Gespräche und Kontakte – auch durch Anrufe des Regierungschefs persönlich – zum „Überlaufen“ ins Lager der Dimas-Wähler bewegen. Dabei spekuliert man vor allem auf zwei Motive möglicher „Dissidenten“: Zum einen droht beiden Parteien bei Neuwahlen die Auslöschung (im Fall der Dimar ist dieses Schicksal nicht mehr abzuwenden), deshalb werden die Abgeordneten ihr Mandat bis 2016 aussitzen wollen, zumal ihnen danach der Absturz in die Bedeutungslosigkeit droht. Zum anderen gibt es in beiden Fraktionen erheblichen Unmut über die jeweiligen Parteiführung, der viele eine zu engen Kooperation mit der Syriza vorwerfen.
Einige dieser unzufriedenen Abgeordneten lassen schon vor dem ersten Wahlgang erkennen, dass sie ihre Position unter „bestimmten Umständen“ überdenken wollen. So erklärte die Anel-Abgeordnete Kollia-Tsaroucha, sie werde den Präsidenten nicht mitwählen, es sei denn bei einem „erschütternden Ereignis“ – zum Beispiel, wenn die Nation „in Gefahr“ sei. Ganz ähnlich meinte ihr Fraktionskollege Chaikalis, für den Fall, dass sich ein „nationalen Thema“ stellen würde, müsse die ganze Partei ihre Position überdenken. Auf solche Zweifel und Stimmungen zielt die Regierung mit ihrer Strategie, vorzeitige Parlamentswahlen und einen möglichen Wahlsieg der Syriza als „nationale Katastrophe“ darzustellen (über diese Politik der „Panikmache“ und ihre Erfolgsaussichten weiter unten mehr).
Macht die Person des Kandidaten Pavlos Dimas das Erreichen der Präsidenten-Mehrheit von 180 Stimmen leichter oder schwerer?
Weder noch. Die Kandidatur Dimas ist eine rational kalkulierte Lösung. Zwar ist es auf den ersten Blick überraschend, dass eine Regierung, die für ihren Kandidaten mindestens 25 Abgeordnete jenseits ihrer Parlamentsfraktionen gewinnen muss, einen altbekannten ND-Politiker ins Rennen schickt. Bekannt ist auch, dass der klare Wunschkandidat von ND wie Pasok noch Anfang dieses Jahres der Dimar-Vorsitzende Fotis Kouvelis war, weil man ihm zutraute, die Stimmen linker unabhängiger Parlamentarier und sogar einiger Syriza-Abgeordneten zu binden. Dieser Plan wurde jedoch hinfällig, als der vormals populäre Kouvelis an öffentlicher Zustimmung einbüßte und sich politisch immer stärker der Syriza annäherte (heute gehen viele davon aus, dass Kouvelis die Reste der Dimar spätestens nach erfolglosen Parlamentswahlen in die Syriza überführen wird).
In der Folge soll Samaras mit der Idee eines parteilosen rechten Kandidaten aus dem „patriotischen Lager“ geflirtet haben. Wenn das stimmt, musste der Plan an der schlichten Tatsache scheitern, dass die Regierung nach Stimmen für die Präsidentenmehrheit in rechten wie in linken Gewässern fischen muss. In Anbetracht dessen erscheint der Kandidat Stavros Dimas als die gebotene Lösung, weil er für linke wie für rechte Abgeordnete wählbar ist. Der 73jährige hat zwar eine klassische Parteikarriere hinter sich (ND-Generalsekretär, ND-Fraktionsvorsitzender und Minister in fünf Ressorts), verdankt seinen Ruf als moderner, liberaler Konservativer aber seiner Karriere in Brüssel, wo er von 2004 bis 2010 als EU-Kommissar für Umweltfragen fungierte. Mit seinem Wirken auf europäischer Ebene hat er sich Achtung über die Parteigrenzen hinweg verschafft. Sein „kosmopolitisches“ und überparteiliches Profil war auch der Grund für seine Berufung zum Außenminister in die Athener Technokraten-Regierung von Lukas Papadimos (November 2011 bis Mai 2012).
Ein Kandidat der keinen Anstoß erregt
Dimas zählt auf keinen Fall zum engeren Zirkel von Samaras, der sich vornehmlich von konservativ-patriotischen Kadern beraten lässt. Nach Pressemeldungen soll die Kandidatur von Dimas vom früheren Ministerpräsidenten Kostas Karamanlis inspiriert sein, dessen Anhänger innerhalb der Nea Dimokratia den liberaleren Flügel repräsentieren. Dimas Akzeptanz für eine breite politische Mitte wird durch die erste Umfrage nach seiner Nominierung für das Präsidentenamt bestätigt (Metron Analysis, siehe Ta Nea vom 14. Dezember). Danach sehen 51 Prozent der Befragten in dem ehemaligen EU-Umweltkommissar einen „guten“ Präsidenten. Noch signifikanter ist, dass ihn nur 14 Prozent für einen „schlechten“ Präsidenten halten, was zeigt, dass er bis weit über die linke Mitte akzeptabel ist oder zumindest keinen Anstoß erregt.
Aus Sicht beider Regierungsparteien ist der Kandidat Dimas also eine schlüssige Entscheidung mit dem Ziel, Unterstützung sowohl im rechten als auch im linken Spektrum zu finden. Ein zusätzlicher Aspekt bei dieser Personalie war ganz sicher, dass Dimas als ehemaliger EU-Bürokrat so gut vernetzt ist, dass er viele „europäische“ Stimmen aktivieren kann, die sich zu seinen Gunsten äußern werden. Aus diesen Gründen ist es unwahrscheinlich, dass der Kandidat Dimas vor dem dritten Wahlgang noch ausgewechselt werden könnte, wie in den Medien spekuliert wurde. Das wäre zwar laut Verfassung möglich, hätte aber keinen Sinn, weil das Regierungslager keinen Kandidaten finden würde, der mehr Stimmen als Dimas binden könnte.
Wie begründet ist der in linken Kreisen artikulierte Verdacht, die Regierung werde versuchen, die für die Wahl von Dimas nötigen Stimmen zu „kaufen“?
Angesichts der Tragweite der Entscheidung ist die Vermutung, dass die Regierung die Wahl von Dimas „mit allen Mitteln“ zu begünstigen versucht, ziemlich gut nachvollziehbar. Das gilt allerdings ebenso für die „Gegenseite“ (wobei die Methoden der Beeinflussung natürlich verschieden sind). Dass der Verdacht des „Stimmenkaufs“ fast reflexhaft immer wieder auftaucht, resultiert aus der historischen Vorbelastung des griechischen Parlamentarismus und insbesondere aus der kollektiven Erinnerung an die Verfassungskrise von 1965, an deren Ende der Putsch der Obristen vom April 1967 stand. Damals wurde die Regierung des Zentrums-Politikers Giorgos Papandreou (Urvater der Papandreou-Dynastie) durch eine Fronde in seiner eigenen Fraktion zu Fall gebracht, die von dem späteren ND-Ministerpräsidenten Konstantinos Mitsotakis angeführt wurde. Auf diese Juli-Abtrünnigen (griechisch: apostates) bezieht sich eine politische Rhetorik, die bis heute jede politische Figur, die ihre Meinung oder gar Partei wechselt, als „apostatis“ verdächtigt.
Der in Griechenland herrschende Generalverdacht, dass Parlamentsabgeordnete im allgemeinen „käuflich“ sind, hat aber auch mit der Qualität und Motivation von Abgeordneten zu tun, die ihre Posten dem herrschenden Klientelsystem verdanken. Deshalb traut man den meisten Parlamentariern nicht jene „unbeschränkte“ Gewissensfreiheit zu, die im Artikel 60 der Verfassung verankert ist. Dabei haben sich gerade in den letzten Jahren viele Abgeordnete von ihren Fraktionen losgesagt, weil sie bestimmte Entscheidungen aus Überzeugung nicht mittragen konnten. Zumindest diese „Abtrünnigen“ haben bewiesen, dass sie sich vor allem ihrem Gewissen verpflichtet fühlen.
Das hat auch die Syriza öffentlich anerkannt. Zudem hat Parteichef Alexis Tsipras die „Unabhängigen“ im Parlament, die sich ihrer Parteifesseln entledigt haben, wiederholt als Bündnispartner der Syriza umworben. Deshalb ist es verwunderlich, dass die Partei im Hinblick auf die Präsidentenwahl der Versuchung nachgegeben hat, die alte Rhetorik gegen „apostates“ zu reanimieren. Mitte Oktober forderte Tsipras die Abgeordneten von Dimar und Anel wie auch die „Unabhängigen“ auf, ihre Haltung zur Präsidentenwahl vorzeitig offenzulegen. Seine Begründung: Wenn sie das nicht tun, wachse die Befürchtung, dass „in letzter Minute geheime Deals“ verabredet werden, um die Wahl des Kandidaten zu sichern und frühe Neuwahlen zu vermeiden.
Fraktionszwang oder Gewissensentscheidung
Eine solche frühe Festlegung würde allerdings eindeutig die Entscheidungs- und Gewissensfreiheit der Abgeordneten beeinträchtigen. Das grenzt an moralische Erpressung. Aber vor allem ist es eine Heuchelei, weil die Syriza einen Pasok-Parlamentarier, der sich „in letzter Minute“ gegen den Kandidaten Dimas entscheiden sollte, nicht als „Abtrünnigen“ verdammen, sondern als Helden der „Gewissensfreiheit“ feiern würde. Im Gegensatz zu Tsipras hat der Dimar-Vorsitzende Kouvelis zwei Tage vor der ersten Abstimmung erklärt, zwar sei die Parlamentsfraktion durch den Beschluss der Parteigremien gebunden, aber wenn ein Dimar-Abgeordneter dennoch für den Präsidenten stimme, werde er ihn weder als „Abtrünnigen“ sehen noch für „käuflich“ halten.
In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass die Gefahr einer Erpressung durch Fraktionszwang mindestens ebenso groß ist wie die Versuchung des „Stimmenkaufs“. Der größte Skandal bei Präsidentschaftswahlen im demokratischen Griechenland (also seit Ende der Obristen-Diktatur 1974) war jedenfalls die Methode, mit der die Pasok unter Andreas Papandreou im März 1985 den Sieg ihres Kandidaten sicherstellte: Christos Sartzetakis gewann im dritten Wahlgang mit den erforderlichen 180 Stimmen nur deshalb, weil die Pasok-Fraktion die Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten abgeschafft hatte. Die Fraktionsdisziplin war dadurch garantiert, dass die Stimmzettel für Ja und Nein verschiedene Farben hatten. Damals hat die Pasok-Nomenklatura die Vorschrift, dass die Stimmzettel „gleich“ sein müssten, mit dem dreisten Argument ausgehebelt, dies betreffe nur die Beschriftung und nicht die Farbe.
Der skandalöse Vorgang hat ein Jahr später zu einer Verfassungsänderung geführt, die bei der Präsidentenwahl die „geheime“ durch „namentliche Abstimmung“ ersetzt hat. Diese Vorschrift gilt bis heute, also auch für die drei Wahlgänge bis zum 29. Dezember. Diese Transparenz sollte ausreichen, die Bereitschaft zum Kauf und Verkauf von Stimmen einzudämmen. Ebenso klar ist aber, dass die Motive für die Stimmabgabe bzw. Stimmungswandel einzelner Abgeordneter nicht unbedingt ans Licht kommen werden. Einem Betrugsverdacht nachzugehen, ist jedoch Aufgabe der Justiz, auf die in Griechenland immer noch Verlass ist.
Welche Entwicklungen könnten die Wahl eines Präsidenten noch beeinflussen?
Die von der Regierung erhoffte „Dynamik“, die den Kandidaten Dimas im 3. Wahlgang zum Präsidenten machen würde, kann sich auf mehreren Ebenen entfalten:
Auf der griechischen Ebene haben Samaras und seine engsten Mitarbeiter bereits begonnen, insbesondere auf Abgeordnete der rechtspopulistischen Anel („Unabhängige Hellenen“) einzuwirken. Nach einem Bericht der Kathimerini (14. Dezember) wird „diese Operation vom Ministerpräsidenten selbst koordiniert und vor allem von seinem Staatsminister Stamatis und Parlamentspräsident Meimarakis getragen. Besonders aktiv seien auch solche ND-Politiker, die „persönliche Beziehungen mit Kadern der Unabhängigen Hellenen pflegen“. Genannt werden dabei Gesundheitsminister Makis Voridis, der eine rechtsradikale Vergangenheit hat und erst 2011 von der ultrarechten Laos-Partei zur ND übergetreten ist, und Kostas Markopoulos, der für die Anel im Parlament saß, bis er im Sommer 2013 in den Stall der ND zurückkehrte. Wie Kathimerini und andere Zeitungen berichten, ist auch der Kandidat Dimas selbst mit vielen Gesprächen ein aktiver Promotor in eigener Sache.
„Propaganda des Chaos“
Was den Inhalt betrifft, so hat Samaras mit seinem Gerede vom „drohenden Chaos“ und der „ökonomischen Katastrophe“ den Ton vorgegeben. Diese ND-Strategie ist keineswegs neu. Wenn immer Samaras in der Vergangenheit um seine Macht bangen musste, hat er diese Propagandakarte gezogen. Schon im vergangenen September behauptete er, im Fall eines Wahlsiegs der Syriza würden die griechischen Bürger über Nacht ihre Bankkonten abräumen. Und der ND-Fraktionsvorsitzende Georgadis hat damals die Griechen sogar aufgefordert, ihre Konten zu plündern, falls die Samaras-Regierung abgelöst werde (siehe meinen Bericht in den NDS vom 17. Oktober). Zu Recht wirft deshalb Tsipras dem Regierungschef eine „hysterische Panikmache“ vor: „Damit fleht er fast öffentlich die sogenannten Märkte an, sie mögen unser Land attackieren – wohlgemerkt: nicht die Syriza, sondern Griechenland“ (so in einer Rede vom 13. Dezember in Kreta).
Diese Kritik ändert allerdings nichts daran, dass die „unpatriotische“ Chaos-Propaganda auf Kosten des eigenen Landes durchaus Wirkung erzielen wird. In den ersten beiden Umfragen, die nach der Nominierung von Dimas durchgeführt wurden, ist die Führung der Syriza vor der ND schon leicht abgeschmolzen. Nach diesen Prognosen würde die Opposition zwar immer noch Wahlsieger, wovon auch fast 70 Prozent der Befragten ausgehen. Aber von einer absoluten Parlamentsmehrheit (von 151 Sitzen) scheint die Syriza inzwischen weit entfernt: Nach einer plausiblen Kalkulation (in der Kathimerini vom 14. Dezember) müsste sie dafür auf 37 bis 38 Prozent der Wählerstimmen kommen; in den Umfragen liegt sie derzeit 5 Prozentpunkte unter dieser Schwelle. Noch bedeutsamer ist allerdings, dass sich eine leichte Mehrheit von 58 Prozent für die Wahl des Präsidenten durch das jetzige Parlament ausspricht, und damit gegen baldige Parlamentswahlen. Bei den Umfragen im November lagen die Antworten auf diese Frage noch bei 50:50.
Hilfe für Samaras aus Brüssel und Berlin
Seit die Regierung Samaras die Kandidatur des Ex-EU-Kommissars Stavros Dimas verkündet hat, ertrinkt dieser fast in einer Flut von Lobeshymnen aus Brüssel. Den Anfang machte die Kommissions-Sprecherin Annika Breidthardt, als sie am 10. Dezember die Kandidatur des „überzeugten Europäers“ Dimas als „starkes Signal an Europa“ würdigte und erklärte: „Diese Entscheidung kann dazu beitragen, die Unsicherheiten auf den Finanzmärkten zu beseitigen“.
Eine bessere Steilvorlage für Samaras war kaum vorstellbar – bis die EU-Kommission noch einen Schritt weiterging. Sie gratulierte der griechischen Regierung zur Entscheidung über die vorgezogene Präsidentenwahl und erklärte hochoffiziell ihre Unterstützung für den Kandidaten Dimas. Das ist ein einmaliger Vorgang: Nie zuvor hat ein EU-Organ dermaßen offen Partei ergriffen und sich damit massiv in die Innenpolitik eines Mitgliedslandes eingemischt (siehe die Kommentare von Brüssel-Beobachtern, wie etwa hier). Einen Tag später legte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nach. Im österreichischen Fernsehen erklärte er: „Die Griechen wissen sehr genau, was ein falsches Wahlergebnis für Griechenland und die Euro-Zone bedeuten würde.“ Und stellte sogleich klar, was er unter richtig und falsch versteht: Er würde es nicht gern sehen, wenn „extreme Kräfte“ in Athen an die Macht kämen. Auf die Frage, ob er damit die Syriza meine, wich Juncker aus – um gleich darauf zu betonen, in Brüssel sehe man lieber „vertraute Gesichter“. Damit hat er alles gesagt, ohne einen Namen zu nennen.
Zu dieser klaren Verletzung des Neutralitätsgebots passt die Haltung des EU-Finanzkommissars Pierre Moscovici, der bei seinem gestrigen Antrittsbesuch in Athen zwar Zeit für die Besichtigung einer U-Bahn-Baustelle, nicht aber für ein Treffen mit Oppositionsführer Tsipras hatte. Dem ließ er über ein Interview mit der Kathimerini ausrichten, er sei an einem künftigen Treffen durchaus interessiert – aber eben nicht jetzt.
Ganz auf der Linie des „sozialdemokratischen“ EU-Kommissars Moscovici bewegt sich auch die Berliner Sozialdemokratie. Als der Pasok-Vorsitzenden und griechischen Außenministers Venizelos letzte Woche Berlin besuchte, gab ihm sein Kollege Steinmeier als politische Wegzehrung die Auskunft mit: „Aus unserer Sicht käme es darauf an, dass die Kräfte, die den Fortschritt in Griechenland gesichert haben, in der Lage sind, diesen Weg fortzusetzen.”
Bei einer derart massiven PR-Kampagne zugunsten der Samaras-Regierung und ihren Kandidaten Dimas stellt sich allerdings die Frage, ob sie die beabsichtigte Wirkung erzielt. Über die Einstellung der meisten europäischen Politiker haben die griechischen Wähler ohnehin keine Illusionen. Und auf „Einmischungen von außen“ reagieren sie eher allergisch. Deren Einfluss dürfte also eher begrenzt sein. Es sei denn, die Wirkung solcher Äußerungen wird durch andere Faktoren verstärkt, die viel entscheidender sind.
Drohsignale von „den Märkten“
Die geschilderten Sprüche und Drohungen sowohl der Samaras-Regierung als auch ihrer europäischen Fürsprecher können Wirkung nur erzielen, wenn sie durch Entwicklungen und Daten auf „den Märkten“ bestätigt und gestützt werden. Dabei ist klar, dass die Regierung solche Marktsignale beeinflussen und verstärken kann, wie Tsipras zu Recht kritisiert. Umgekehrt können die Regierungsparteien diese Signale natürlich für ihren Präsidentenwahlkampf ausbeuten, indem sie mit der Panik der Märkte die Wähler in Panik versetzen. Doch diese Wechselwirkung funktioniert nur auf Grund der Marktdaten, ohne die Propaganda relativ wirkungslos bleibt.
Von dieser „realen Basis“ (was nicht gleichbedeutend mit Realwirtschaft ist) hat die griechische Öffentlichkeit in der Tat dramatische Drohsignale empfangen. Am lautesten war der veritable Börsenkrach gleich nach Bekanntgabe der vorgezogenen Präsidentenwahlen. Von Dienstag bis Donnerstag schmierte der Aktienindex der Athener Börse um volle 20 Prozent ab und ist seitdem „volatil“ geblieben. Mindestens ebenso bedrohlich war jedoch ein zweites Signal: Die Zinsen für griechischen Staatsanleihen gingen steil in die Höhe. Aber nicht nur das. Der Bondsmarkt präsentierte ein scheinbares Paradox: Der Kurs für Bonds mit dreijähriger Laufzeit lag auf einmal höher als der Kurs für 10-Jahres-Anleihen, der wieder auf fast 9 Prozent angestiegen war. Dazu muss man sich in Erinnerung rufen, dass Athen die 3-Jahres-Anleihen im Mai 2014 mit knapp 5 Prozent verkaufen konnte, was damals als triumphale Rückkehr „der Griechen“ auf den Anleihenmarkt gefeiert wurde. Der jetzige Kursanstieg bedeutet, wie eine Bloomberg-Analyse vom 12. Dezember erläutert, dass die Händler die Gefahr eines kurzfristigen Zahlungsausfalls sehen und entsprechend „einpreisen“.
Die große Frage lautet allerdings: Reagieren diese „Marktsignale“ ausschließlich – oder vorwiegend – auf die „Gefahr“ vorgezogener Neuwahlen und das Schreckgespenst einer der Syriza geführten Regierung? Oder drücken sie auch – oder vorwiegend – die Sorgen um den allgemeinen Zustand der griechischen Wirtschaft aus? Nur wenn man die erste Erklärung akzeptiert, lassen sich die Marktsignale als Aufforderung an die griechischen Parlamentarier interpretieren, einen Präsidenten Dimas zu ermöglichen und eine Regierung Tsipras zu verhindern. Wenn die Märkte dagegen eine allgemeinere und langfristigere Sorge artikulieren, muss die Frage anders gestellt werden: Welche Art griechische Regierung bietet die besseren Voraussetzungen für ein Reformprogramm, das eine langfristigere Entwicklungsperspektive eröffnet?
In der internationalen Wirtschaftspresse wird die erste Erklärung deutlich bevorzugt: Die Märkte antizipieren einen Regierungswechsel, für den sie „die Griechen“ schon vorauseilend abstrafen. Damit senden sie zugleich eine letzte Mahnung: Wenn ihr die Samaras-Venizelos-Truppe noch ein Jahr weiterwurschteln lasst, können wir euch noch mal retten – vielleicht, und natürlich mit neuen Auflagen.
Die trostlose Bilanz von sechs Jahren Krisenpolitik
Aber wie sieht die Bilanz der Regierung aus, die unter Anleitung der Troika die griechische Krise nunmehr ins sechste Jahr steuert? In der Kathimerini vom 30. November – also noch vor den Marktreaktionen auf die Ankündigung der vorgezogenen Präsidentenwahl – hat der Wirtschaftsexperte Kostas Kallitsis folgende Bilanz aufgemacht. Sie beruht auf einem Vergleich mit dem zweitschwächsten „Südstaat“ der EU, mit Portugal.
Man muss dieses Gesamtbild vor Augen haben, um zu verstehen, warum Griechenland für seine 10-jährigen Staatsanleihen derzeit etwa 9 Prozent Zinsen bieten muss, Portugal dagegen weniger als 3 Prozent. Und der letzte Vergleich gilt nicht nur für Portugal, argumentiert Kallitsis: Während die die Kreditkosten für die übrigen „Krisenländer“ fallen, steigen sie für Griechenland auf ein Niveau, das „die Aufnahme von Krediten verbietet“. Wenn also das „Damoklesschwert der Märkte“ auf das Land niederzukommen droht, dann nicht etwa wegen eines drohenden Wahlsiegs der Syriza. Wer das behauptet, muss verdrängt haben, dass der plötzliche Zinsanstieg im Oktober allein durch die Ankündigung von Samaras ausgelöst wurde, dass wolle den griechischen Kreditbedarf wieder „auf den Märkten“ decken (siehe dazu meine Darstellung vom 17. und vom 30. Oktober).
Für Kallitsis besteht das „griechische Problem“ nicht darin, dass „die Märkte“ sich vor einem „Plan B“ fürchten, den eine Syriza-Regierung auf den Tisch legen könnte. „Das Problem ist, dass das Land sechs Jahre nach Ausbruch der Krise keinen Plan A hat, dass es über keinen realistischen, wirksamen zentralen Aktionsplan verfügt.“ Das Hauptproblem sei auch nicht, dass die Regierung keine „roten Linien“ zieht, also klar sagt, welche der geforderten Maßnahmen sie nicht hinnehmen kann. Es sei vielmehr die Tatsache, dass es überhaupt keine Linie, keine Leitidee für eine „Neubegründung der Wirtschaft, der staatlichen Strukturen und de Gesellschaft“ gebe. Und dafür sei vor allem das „gewaltige politische Defizit“ verantwortlich: „Das kranke politische System bleibt unverändert.“
Aus Analysen wie diesen folgt, dass die Panikmache im Hinblick auf eine mögliche Syriza-Regierung gefährlich desorientierend wirkt, weil sie von den realen Problemen Griechenlands nur ablenkt. Das heißt nicht, dass diese Panikmache keine Wirkung erzielen kann. Wie sich die Syriza gegen diese Wirkung zu schützen versucht, werde ich im nächsten Beitrag untersuchen.
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