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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Schirrmacher, Der Spiegel und die demografische Entwicklung – Vom unsauberen Umgang mit Fakten
Datum: 15. März 2006 um 12:53 Uhr
Rubrik: Demografische Entwicklung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik
Verantwortlich: Albrecht Müller
Gerd Bosbach, Professor für Statistik und Mathematik
Für den Blick auf die Entwicklung unserer Bevölkerung sind beobachtbare Fakten eine wichtige Voraussetzung. Deshalb wundert der schlampige bis tendenziöse Umgang in der öffentlich geführten Diskussion. Negative Entwicklungen werden übertrieben dargestellt, positive weitgehend ausgeblendet. Aber auch vor bewussten oder unbewussten Falsch-Darstellungen wird selten zurückgeschreckt. Hauptsache es dient der Dramatisierung!
An vorderer Front dieser Fakten-Verdreher stehen der FAZ-Herausgeber Schirrmacher („Das Methulasem-Komplott“) und das Magazin „Der Spiegel“. Am 6.3. dieses Jahres mussten wir neue Beispiele für ihre, irreführende Darstellungsart im Spiegel erleben. In einem Artikel und einem Interview mit Frank Schirrmacher aus Anlass der Herausgabe seines neuen Buches „Minimum“ wurde wieder kräftigst dramatisiert und dabei manche Tatsache völlig verfälscht.
Meine Bemerkungen beziehen sich ausschließlich auf die statistischen und logischen Verdrehungen, über die merkwürdigen politischen Erklärungen und Folgerungen mögen sich Berufenere auslassen. Ich möchte die Fehler in der Arbeitsweise der Autoren nur von meiner Profession, der Statistik und Mathematik, also der Faktenwelt und der Logik aus betrachten.
Zuerst zum Artikel der Spiegels (Autoren Gatterburg, Matussek und Wolf, S. 76 bis 84):
In kaum einem anderen Land in Europa werden so wenig Kinder geboren wie bei uns,…“
Seite 77
Falsch! Die vom Spiegel im Weiteren benutzten Daten stammen aus dem Jahre 2003 von eurostat. Deren Gesamtauflistung zeigt allerdings:
In der EU der 25 haben zehn (!!!) Länder eine geringere Geburtenrate als Deutschland, zwei eine ähnlich große und zwölf liegen höher. Fasst man Europa weiter, kommen mindestens noch Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Russland mit niedrigeren Geburtenraten dazu. Der Text ist also eindeutig falsch, die zugehörige Grafik (S. 79) durch die Auswahl einiger „passender“ Länder irreführend. Hielt der Spiegel die Hinzunahme der USA wegen ihrer hohen Rate für der Dramatik dienend, musste er Länder wie Russland und Japan einfach „vergessen“.
Es ist eine Last, die größer ist, als sie (Verf.: die Knirpse) verkraften. In zehn Jahren, spätestens, ist es so weit.“
Seite 77
Nein! Erst ab 2025, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der Sechziger des letzten Jahrhunderts langsam ins Rentenalter kommen, verändert sich der Altersquotient nennenswert. Also erst in 20 Jahren beginnt die Reduzierung des Arbeitskräfteangebotes, was allerdings durch viele, nur selten erwähnte Faktoren überhaupt nicht zum Problem führen muss.
Noch nie zuvor in der deutschen Geschichte hat sich der demografische Kegel derart verschoben.“
Seite 77
Wieder falsch! Ein Blick auf die Lebensbäume der Jahre 1900, 1950, 2000 zeigt, dass wir im letzten Jahrhundert viel gravierendere Änderungen gemeistert haben. Der Tannenbaum des Jahres 1900 ist schon 1950 nicht mehr wiederzuerkennen und im Jahre 2000 nochmals völlig anders.
Auch die Steigerung der Lebenserwartung ist inzwischen in einer degressiv wachsenden Phase.
Interessanterweise werden die gesundheitlichen Probleme von Kindern ausführlich beschrieben – zu ergänzen wäre vielleicht noch der frühe Konsum von Alkohol, Tabak und anderen Drogen schon in der Wachstumsphase. Aber Folgen für die weitere Entwicklung der Lebenserwartung scheinen sich weder Schirrmacher noch der Spiegel vorstellen zu können.
… die Risiken einer Scheidung vor dem Familiengericht will kaum noch einer auf sich nehmen.“
(deshalb „Ehestreik“)
Maßlos übertrieben! 2004 haben sich 791.984 Menschen das Ja-Wort gegeben, in den letzten zehn Jahren waren es über 8 Millionen. Merkwürdiger Streik.
Auf die vielen unklar, aber tendenziös formulierte Fakten bin ich nicht eingegangen. Sie sind halt nicht nachweisbar falsch, erzielen nur den gewünschten, dramatisierenden Gesamteindruck.
Schirrmacher bringt in seinem Interview (S. 85 bis 88) eigentlich keine Fakten, es ist halt nicht sein Metier, Tatsachen zu beschreiben und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Erstaunlich ist die Logik seiner Argumentation und Schlussweise.
…, ich bin ein optimistischer, aber auch sehr realistischer Mensch.“
Seite 85
Aber irgendwo in der Ferne kommt noch einmal eine Weiche, und die können wir umstellen.“
Seite 85
Und auf der anderen Seite:
Der Zug ist abgefahren.“
Seite 86
Wir wurden umprogrammiert“
Seite 85 & 87
Erst in der Ferne etwas änderbar? Biologische Umprogrammierung gegen Kinderzeugung in ein bis zwei Generationen?? Und das soll optimistisch sein?
Aber wenn er sich mal auf Fakten einlässt, wird es gar grausig:
…, denn um Frauen wird gekämpft werden müssen in der Zukunft, weil sie knapp werden!“
Seite 88
Aus welcher Horror-Geschichte hat er denn das? Insgesamt gibt es deutlich mehr Frauen als Männer, alleine durch die höhere Lebenserwartung. Und was die Zukunft der jungen Leute in Deutschland angeht – darauf war die Bemerkung bezogen: Der männliche Anteil an den Geburten liegt seit 1945 zwischen 51,3 und 51,9 Prozent, in den letzten 15 Jahren dabei am unteren Ende (51,3 bis 51,4 Prozent). Die heutigen jungen Männer müssen sogar weniger „um die Frauen“ kämpfen, allerdings statistisch unerheblich.
„Die muselmanische Reconquista hat demografische Ursachen, die Geburtenrate wird in diesen Ländern noch bis 2020 wachsen.“
Seite 88
Natürlich ist unklar, welche Länder und Bevölkerungsteile er meint. Auch der Begriff Geburtenrate ist nicht eindeutig. Aber die Kinderzahl pro Frau geht seit längerem in den meisten Ländern zurück. Nur die Höhe des Rückganges, bzw. die Frage, ob sie unter das rechnerische Bestanderhaltungsniveau sinkt, wird diskutiert. Also, für heute ist die Bemerkung sicherlich falsch. Und woher Schirrmacher das Gebärverhalten der Zukunft in diesen Ländern kennen will, möchte ich gerne wissen. Aber vielleicht verwechselt er ja Geburtenrate mit Bevölkerungszahl, für die diese Prognose evtl. gelten könnte. Dann sollte er bei den Formulierungen mal weniger auf die Angst machende Absicht achten und mehr auf den Wahrheitsgehalt.
Wie schon gesagt: Hier wird nur der Umgang mit Fakten beleuchtet, die politisch gewollten Implikationen sind genauso fragwürdig. Das Alles hat mich an meine Zeit als Berater des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages erinnert. Auch dort wollten die Politiker nur die Fakten, die zu ihrer Meinung passten, zur Not auch verdreht.
Zum Schluss in eigener Sache:
Prof. Dr. Gerd Bosbach, Fachhochschule Remagen, [email protected]
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
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