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Titel: Eine andere Republik – Hartz IV und die Folgen
Datum: 17. November 2014 um 9:42 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Soziale Gerechtigkeit
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement hat das im Volksmund als „Hartz IV“ bezeichnete Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt seinerzeit die „Mutter aller Reformen“ genannt. Tatsächlich hat sich Deutschland in den zehn Jahren seit Einführung der Arbeitsmarktreform am 1. Januar 2005 tiefgreifend gewandelt: Sowohl die von dem Gesetzespaket unmittelbar Betroffenen wie auch ihre Angehörigen und die mit ihnen in einer „Bedarfsgemeinschaft“ zusammenlebenden Personen werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert. Auch für alle übrigen Gesellschaftsmitglieder hat sich die soziale Fallhöhe durch Hartz IV erheblich vergrößert, weshalb die Furcht vor dem materiellen Absturz sogar in der Mittelschicht um sich greift. Die mit den Hartz-Reformen in Gang gesetzte soziale Abwärtsspirale erschwert den normalen Alltag vieler Durchschnittsbürger/innen, beeinträchtigt jedoch auch deren aufrechten Gang. Von Christoph Butterwegge.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Aufgrund der damit verbundenen Abkehr von einer aktiven Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik war Hartz IV ein gesellschaftlicher Wendepunkt. Gleichzeitig wiesen die sog. Hartz-Gesetze jedoch auch den Weg in eine andere Republik. Neben den materiellen Einbußen, die Arbeitnehmer/innen (vor allem solche im Niedriglohnsektor) und Erwerbslose hinnehmen mussten, werden die mentalen und psychischen Verletzungen, die man ihnen zufügte, oft übersehen. Vielleicht noch stärker vernachlässigt man im Allgemeinen den aus Hartz IV resultierenden Schaden für die Demokratie.
Mit den Hartz-Gesetzen, vornehmlich dem Vierten, hat sich Deutschland stärker sozial, aber auch politisch gespalten. Unterschätzt werden gewöhnlich seine Konsequenzen für die politische Repräsentation von Armen und (Langzeit-)Erwerbslosen bzw. deren bürgerschaftliche Partizipation und die Qualität der parlamentarischen Demokratie. Demokratie und Sozialstaat stehen nämlich in einem Wechselverhältnis zueinander: Ohne demokratische Verfasstheit, eine lebendige Selbstverwaltung und konstruktive Kritik funktioniert das System der sozialen Sicherung nicht, und ohne einen Wohlfahrtsstaat, der seine Bürger/innen durch Sicherung ihrer materiellen Existenz wie durch Gewährleistung eines Mindestmaßes an sozialer Sicherheit zur kontinuierlichen Teilnahme an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen befähigt, stirbt die Demokratie.
Gerhard Schröders Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze haben den Armen einerseits zusätzliche materielle Probleme beschert und andererseits den auf ihnen lastenden Druck hinsichtlich verschärfter Kontrollmechanismen und Sanktionsdrohungen nach der Leitnorm „Fördern und Fordern“ erhöht, sie auch soziokulturell gedemütigt und politisch weitgehend entmündigt. Unter den Hartz-IV-Betroffenen dürfte sich der Eindruck mangelnder politischer Repräsentation seither noch verstärkt haben. Dies gilt aber nicht bloß für das parlamentarische System und Wahlen, sondern in vergleichbarer Form auch für andere Formen der politischen Partizipation, etwa die Betätigung in Parteien.
Hartz IV – ein Pfahl im Fleisch der Demokratie
Die rot-grünen Arbeitsmarktreformen haben das Leben von Millionen Erwerbslosen, Geringverdiener(inne)n und ihren Familien erschwert, aber auch deren Partizipationsmöglichkeiten beeinträchtigt und die politische Kultur unseres Landes beschädigt. Von einer angemessenen politischen Repräsentation der Transferleistungsbezieher/innen kann immer weniger die Rede sein, wohingegen die Interessen der „Leistungsträger“, bedingt durch nur Wohlhabenden, Reichen und Superreichen zur Verfügung stehende Einflussmöglichkeiten, signifikant überrepräsentiert sind. Wenn die Finanzmärkte zum politischen Souverän avancieren, wird das durch Hartz IV auf den Verkauf seiner Arbeitskraft um fast jeden Preis zurückgeworfene Individuum entmündigt und die moderne Demokratie entkernt.
Das – bei vielen Bürger(inne)n im Schwinden begriffene – Vertrauen zu den etablierten Parteien und Politikern hängt stark von der Schichtzugehörigkeit ab. Mangels besser geeigneter Indikatoren ist die Wahlbeteiligung ein aussagekräftiges Maß für die politische Partizipationsfähigkeit bzw. -bereitschaft der Bürger eines Landes. Obwohl es noch in keinem Bundestagswahlkampf zuvor ähnlich viele Werbekampagnen und Mobilisierungsaktionen mit dem Ziel einer Steigerung der Wahlbeteiligung gab, fiel diese am 22. September 2013 mit 71,5 Prozent enttäuschend niedrig aus. Zugleich hat sich die soziale Schieflage bei der Wahlabstinenz verschärft: Während die Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl 2013 etwa in Köln-Chorweiler, einer Hochhaussiedlung mit ganz wenigen Einfamilienhäusern, nicht einmal mehr 42,5 Prozent erreichte, betrug sie in Köln-Hahnwald, einem noblen Villenviertel, fast 89 Prozent. Ähnlich große Differenzen zeigten sich auch in anderen Großstädten der Bundesrepublik.
Wahlabstinenz ist häufig die Konsequenz einer prekären Existenz, wie sie der Arbeitslosengeld-II-Bezug darstellt. Bei der seit geraumer Zeit zunehmenden „Politikverdrossenheit“ sozial Benachteiligter handelt es sich um eine Folge der Repräsentationskrise, die mit einer sich im Hinblick auf die Verteilung von materiellen Ressourcen, Finanzmitteln und begehrten Gütern manifestierenden Ungerechtigkeit zusammenhängt. Wenn der Sozialstaat durch zahllose Reformen in seiner Substanz ausgezehrt wird, sinkt bei den Verlierer(inne)n das Vertrauen in die Institutionen des parlamentarisch-demokratischen Repräsentativsystems. Hartz-IV-Betroffene fühlen sich oft wie Fremde im eigenen Land. Wie den meisten Zuwanderern bleibt ihnen eine politische Repräsentation, die den Namen verdient, verwehrt.
Vielen direkt Betroffenen drängt sich das ungute Gefühl auf, von der Gesellschaft, in der sie leben, nicht gebraucht, sondern verachtet zu werden. Zwar gewährt man den Armen heute – anders als im Wilhelminischen Kaiserreich, wo sie noch das preußische Dreiklassenwahlrecht benachteiligte und der Bezug staatlicher Fürsorgeleistungen mit dem Wahlrechtsentzug verbunden war –, die vollen Staatsbürgerrechte, enthält ihnen aber die für deren Wahrnehmung erforderlichen finanziellen Mittel vor. Um auf die Entwicklung des Landes, in dem sie leben, Einfluss nehmen zu können, müssen Bürger/innen die Möglichkeit zur Teilnahme an Demonstrationen und Kundgebungen haben. Wie soll dies jedoch ein Arbeitslosengeld-II-Bezieher tun, dessen Regelleistungsanteil für Mobilität nicht einmal ausreicht, um sich innerhalb der eigenen Stadt fortzubewegen, also etwa eine Monatsfahrkarte für den öffentlichen Nahverkehr zu bezahlen?
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.
Heute erscheint Butterwegges neues Buch „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“ (290 Seiten; 16,95 Euro) bei Beltz Juventa.
Das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt trat am 1. Januar 2005 in Kraft und wird demnächst 10 Jahre alt.
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