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Titel: Die Bundesregierung verursacht „Millionenschäden“

Datum: 10. November 2014 um 11:00 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Erosion der Demokratie, Gewerkschaften, Verkehrspolitik
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Nachdem die 4-tägigen Streikpläne der GDL am Donnerstag und Freitag letzter Woche durch zwei Instanzen der hessischen Arbeitsgerichtsbarkeit für rechtmäßig erklärt worden waren, hat die GDL ihre Arbeitsniederlegung als Zeichen der Deeskalation vorzeitig beendet. Zum Ende des Streiks erklärte der Vorsitzende der GDL, Claus Weselsky seine Bereitschaft, mit der deutschen Bahn AG und zeit- und ortsgleich wie die EVG, aber eigenständig, über den Abschluss eines Tarifvertrages für das gewerkschaftliche organisierte Betriebspersonal, zu verhandeln. Er warte nun auf eine entsprechende Einladung der Bahn AG. Damit wiederholt Weselsky offenbar einen Vorschlag, den er bereits am vergangenen Donnerstag vor dem Arbeitsgericht Frankfurt unterbreitet hatte, der jedoch von der Bahn AG abgelehnt wurde. Von Erik Jochem.

Worum geht es?

Wie bereits erläutert, hatte die Bahn AG bislang als Vorbedingung für Verhandlungen stets verlangt, dass die GDL zusagt… . nicht zu verhandeln. Nicht zu verhandeln nämlich für die nach eigenen Angaben 19.000 Mitglieder des Betriebspersonals der GDL. Die Bahn AG möchte verhindern, dass das bei der GDL organsierte Betriebspersonal einen eigenständigen (und vorteilhafteren) Tarifvertrag neben dem bereits für das in der Konkurrenzgewerkschaft EVG organsierte Betriebspersonal bestehenden Tarifvertrag erhält.

Hierzu muss man jedoch wissen, dass das Bundesarbeitsgericht schon 2010 klipp und klar entschieden hat, dass die sogenannte Tarifpluralität innerhalb eines Betriebes in den Schutzbereich der im Grundgesetz ausdrücklich verankerten Koalitionsfreiheit fällt. Damit genießt das Anliegen der GDL und ihrer Mitglieder, über einen eigenständigen Tarifvertrag zu verhandeln, nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts und der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Lehre den besonderen Schutz des Grundgesetzes.

Anstatt das Angebot der GDL schon in der Gerichtsverhandlung vom vergangenen Donnerstag ohne Wenn und Aber anzunehmen und damit eine sofortige Beendigung des Streiks zu ermöglichen, hat die Bahn AG zunächst zwar zeit- und ortsgleiche Verhandlungen wie mit der EVG zugestanden; ebenso hat sie zugestanden, dass die GDL einen eigenständigen Tarifvertrag erhält. „Einzige“ Bedingung war allerdings, dass der Tarifvertrag der GDL denselben Inhalt wie der zeit- und ortsgleich mit der EVG abgeschlossene Tarifvertrag haben müsse. Wer sich fragt, wie der Bahnvorstand auf eine solche auch für den rechtlichen Laien absonderlich klingende Idee kommt, muss sich die Referentenentwürfe (hier [PDF – 155 KB] und hier [PDF – 160 KB]) der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, zur sogenannten Tarifeinheit anzuschauen.

Dort ist beabsichtigt, den Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft, die also z.B. nur 49 % der betreffenden Berufsgruppe vertritt, gegenüber dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft, so zu behandeln, als sei er nicht abgeschlossen worden. Zum „Ausgleich“ soll die Minderheitsgewerkschaft einen Anspruch gegen den Arbeitgeber erhalten, mit dem dieser gezwungen werden kann, den Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft zu Gunsten der Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft „nachzuzeichnen“ (d.h. abzuschreiben). Damit erhielte die Minderheitsgewerkschaft am Ende rein formal einen „eigenen“ Tarifvertrag.

Klar ist danach zum einen, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, mit dem die Minderheitsgewerkschaft faktisch so behandelt wird, als sei sie verboten. Hierzu wird das Bundesverfassungsgericht, falls es zur Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes kommt – wovon nicht auszugehen ist – die passende Antwort geben. Klar ist zum anderen, wer bei der Verhandlungsführung der Bahn AG die Fäden in der Hand hält. Es ist die von Angela Merkel geführte Bundesregierung.

Sie hat durch die Vorgabe an die Bahn AG, die Verhandlung über einen eigenständigen Tarifvertrag der GDL zu blockieren, die aktuelle Arbeitsniederlegung der GDL zu verantworten. Wer diese Aussage für übertrieben hält, möge sich vergegenwärtigen, dass sich die Deutsche Bahn AG zu 100 % im Besitz der Bundesrepublik Deutschland befindet und Angela Merkel als Bundeskanzlerin an deren Spitze steht. Der ihr untergebene Verkehrsminister, Alexander Dobrindt, und das von ihm geleitete Bundesverkehrsministerium nehmen offiziell die Rechte des Bundes als Eigentümer der Deutschen Bahn AG wahr. Dessen Anweisung an den Vorstand der Bahn AG, Klage gegen den geplanten Streik der GDL wegen „Unverhältnismäßigkeit“ zu erheben, war laut und deutlich in den Medien zu vernehmen. Ihr wurde umgehend Folge geleistet.

Was also seit Beginn des Arbeitskampfes die Forderung der Bahn AG war, die GDL solle als Eintrittspreis für Verhandlungen auf die Vertretung des bei ihr organsierten Betriebspersonals verzichten, ist seit dem Arbeitsgerichtsprozess in Frankfurt die Forderung der Bahn AG, auf das Recht zum Abschluss eines eigenständigen, d.h. möglicherweise weiterreichenden Tarifvertrags als dem mit der EVG, zu verzichten.

Stimmte die GDL dieser von der Bundesregierung verhängten Forderung zu, könnte die Bahn AG immerhin darauf hoffen, auf der Grundlage der Animosität zwischen GDL und EVG, die keine Lokführer vertritt und daher bei weitem nicht über die Durchschlagskraft der GDL verfügt, einen vergleichsweise niedrigeren Tarifstandard zu Lasten der GDL-Mitglieder durchzusetzen. Bei Zwang zu zwei inhaltlich gleichen Tarifverträgen ist die offensivere Gewerkschaft an die Forderungen der defensiveren Gewerkschaft gebunden, sodass sich – außer im Fall der Solidarisierung der Gewerkschaften untereinander – ein im Verhältnis zu den Forderungen der offensiveren Gewerkschaft niedrigeres Tarifniveau durchsetzen würde. Die Strategie der Bahn AG und der Bundesregierung läuft also darauf hinaus, die Verhandlungsmacht der GDL durch eine notwendige Verkettung mit der schwächeren (und wohl auch bequemeren) EVG zu untergraben.

Umgekehrt liegt der Fall, in dem jede Gewerkschaft eigenständig agiert. Hier könnte nicht nur die GDL ihre eigene Schlagkraft ungehindert einsetzen, sondern es würde dadurch auch massiver Druck auf die EVG entstehen, sich bei ihren Forderungen an der GDL zu orientieren, anderenfalls ihr wohl scharenweise die Mitglieder wegliefen. In diesem Fall besteht also eine Tendenz zur Solidarisierung der Gewerkschaften und zur Angleichung der jeweiligen Tarifforderungen in Richtung der höheren Forderung.

Welcher Veranlassung hätte also die GDL, sich zu Lasten ihrer eigenen Mitglieder an das Tarifniveau der EVG ketten zu lassen? Liegt es nicht vielmehr im Interesse des gesamten Betriebspersonals der Bahn AG – also auch dem bei der EVG organisierten – wenn Claus Weselsky weiterhin die autonome Verhandlungsmacht seiner Gewerkschaft in die Waagschale werfen kann ?

Für die Bundesregierung ist es höchste Zeit, das Grundgesetz zu achten und endlich eine Einladung zu Verhandlungen aussprechen zu lassen, die diese Bezeichnung tatsächlich verdienen. Oder reichen die vielzitierten „Millionenschäden“ noch nicht, die sie „der deutschen Wirtschaft“ (uns allen) durch ihre gegen Buchstabe und Geist der Verfassung verstoßende Weigerung zu Verhandlungen mit der GDL über einen eigenständigen Tarifvertrag zugefügt hat?


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