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Titel: Griechenland: Es riecht nach Wahlen – Über die Chancen der Syriza

Datum: 30. Oktober 2014 um 9:06 Uhr
Rubrik: Euro und Eurokrise, Griechenland, Länderberichte, Schulden - Sparen, Wahlen
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Der griechische Ministerpräsident Samaras hat mit seiner völlig unglaubwürdigen Ankündigung eines Ausstiegs aus dem Regime des von der Troika auferlegten „Memorandums“ politisch wie auch auf dem Kapitalmarkt eine böse Bauchlandung erlitten. Nach aller Wahrscheinlichkeit benötigt Griechenland in Zukunft eine weitere „vorsorgliche Finanzhilfe“ aus dem ESM-Stabilisierungsfonds, die sicherlich gleichfalls wieder mit Auflagen, also einem neuen „Memorandum“ verbunden wäre.
Nicht nur die Griechen, sondern auch das Ausland fragen sich mehr und mehr, wozu diese Regierung aus den „Systemparteien“ Nea Dimokratia und Pasok noch nutze ist. Dass sich noch die nötige drei-Fünftel-Mehrheit für die im kommenden März anstehende Präsidentenwahl finden wird, ist äußerst unwahrscheinlich. Bei den zu erwartenden Neuwahlen könnte die linke Syriza von Parteichef Alexis Tsipras stärker werden, als die derzeitigen Regierungsparteien zusammen. Syriza dürfte jedoch einen Koalitionspartner für einen Regierungswechsel benötigen und das ist nicht einfach. Wie könnte ein linkes Programm für umfassende Reformen aussehen? Niels Kadritzke gibt einen weiteren aktuellen Lagebericht und erörtert die Chancen und Perspektiven einer linken Reformpolitik für Griechenland.

Pressekonferenz in Brüssel am letzten Freitag. Der griechische Ministerpräsident Samaras räumt ein, dass es gewisse „Vorbehalte“ gebe, ob Griechenland „es ohne bailout-Programme schaffen kann“. Grund für solche Zweifel seien die schwächelnde Konjunktur in der Eurozone, aber auch „geopolitische Gefahren“ in anderen Teilen der Welt. Das Eingeständnis ging einher mit der Mitteilung, bei seinen vielseitigen Kontakten in Brüssel sei über die Zukunft des griechischen Bailout-Programms „noch nichts entschieden“ worden. Aber seine Gesprächspartner, zu denen seine Kollegen aus Frankreich, Italien und den Niederlanden, aber auch EZB-Chef Mario Draghi gehörten, hätten allesamt „Sympathie für unser Anliegen“ erkennen lassen.

Die Haltung von Samaras war in gewisser Weise bewundernswert. Auf Englisch würde man sagen; „He kept a stiff upper lipp“, was in etwa bedeutet: Er ließ sich nichts anmerken, dass er in der Tinte sitzt.

Mit der Brüsseler Szene endete für den griechischen Regierungschef eine Phase des hektischen Aktionismus mit fatalen Folgen. Für seine Ankündigungen über einen Ausstieg aus dem „Memorandums-Regime“, also den Finanzhilfeprogrammen von EU und IMF, wurde er von der Realität hart abgestraft. Der Zinssatz für griechische Staatsanleihen mit 10-jähriger Laufzeit kletterte auf über 9 Prozent – der höchste Stand seit Dezember 2013. Es war die Antwort auf Samaras‘ großmäulige Behauptung, er sei sich „absolut“ sicher, dass Griechenland seinen Kreditbedarf wieder ganz „normal“ über die internationalen Märkte finanzieren könne (siehe Nachdenkseiten vom 17. Oktober).

„Daran glaubt kein Mensch innerhalb wie außerhalb des Landes“, schrieb der wirtschaftspolitische Kommentator der linken Zeitung Efimerida ton Syntakon (EfSyn). Auch die regierungsfreundliche Wirtschaftszeitung Imerisia zitierte Einschätzungen aus Bankerkreisen, wonach die Regierung nach der Reaktion der Märkte die von ihr selbst angekündigte Platzierung neuer 7-jähriger Anleihen vergessen könne. Zudem sei die Position der Regierung Samaras gegenüber der EU und dem IWF in den angekündigten Verhandlungen über die laufenden Sparprogramme und einen „neuen Rahmen“ der Unterstützung noch schwieriger geworden.

Der Ausweg aus dem Memorandum führt in ein neues Memorandum

Dieser neue Rahmen hat inzwischen einen Namen, hinter dem sich nichts anderes verbirgt als ein „neues Memorandum“. Was die Regierung Samaras – nach dem Fiasko – erklärtermaßen anstrebt, ist eine „vorsorgliche Finanzhilfe“ aus dem Europäischen Stabilisierungsfonds ESM, deren Konditionen in Artikel 14 des ESM-Statuts festgelegt sind. Die Hilfe „in Form einer vorsorglichen bedingten Kreditlinie“ wäre an Auflagen gebunden, die ganz ähnlich aussehen würden wie im Fall der bisher gewährte ESM-Finanzhilfefazilität (nach Artikel 13 des Statuts). Diese Bedingungen sind in Art. 14 explizit „gemäß Artikel 13 Absatz 3“ konstruiert, also in Form eines detaillierten MoU (Memorandum of Understanding), das mit den EU-Partnern auszuhandeln ist. Auch über die Weiterführung der Kreditlinie entscheidet der ESM „nach Erhalt eines Berichts der Europäischen Kommission gemäß Artikel 13 Absatz 7“ (also wiederum wie bei regulären ESM-Fazilitäten). Der Unterschied besteht lediglich darin, dass das MoU über die „vorsorgliche Finanzhilfe“ auf EU-Seite vom Geschäftsführenden Direktor des ESM zu unterzeichnen ist (derzeit der Deutsche Klaus Regling) und dass die „ausführlichen Leitlinien für die Durchführungsmodalitäten“ vom ESM-Direktorium erlassen werden.

Auch eine weitere Kreditlinie des IWF wäre an Bedingungen geknüpft

Auch was die Beziehung zum IWF betrifft, ist in Athen noch keineswegs geklärt, ob man selbst nach Aufkündigung des IWF-Kreditprogramms (das noch bis Mai 2016 laufen würde) eine weitere „vorsorgliche Kreditlinie“ in Anspruch nehmen muss – wie es IWF-Chefin Christine Lagarde für notwendig hält. Auch der IWF würde in diesem Fall auf ausgehandelten „Bedingungen“ und „Inspektionen“ bestehen. Darauf weist die Kathimerini in einem Bericht aus Washington (26. Oktober) hin, der eine weitere interessante Information enthält: Finanzminister Chardouvelis hat bei seinem Treffen mit Lagarde am 10. Oktober davon abgesehen, einen vorzeitigen Ausstieg aus dem IWF-Programm „eindeutig“ anzukündigen. Dieses Gespräch habe die Aussichten auf einen raschen Ausstieg eher „zurechtgestutzt“, und zwar „im Gegensatz zu dem Eindruck, der in Athen erweckt wird“.

Die EZB besteht auf weiterer Aufsicht

Für die Regierung Samaras gibt es ein weiteres Problem, das sie lieber verschweigt: Auch EZB-Chef Mario Draghi und die Notenbanker der Eurozone bestehen weiterhin auf einer Aufsichtsrolle der EU. Das geht bereits aus einem Bloomberg-Bericht vom 3. Oktober über die Konferenz der EU-Notenbanker und der EZB in Neapel hervor. Bei diesem Treffen bekam EZB-Chef Draghi grünes Licht für den (umstrittenen) Aufkauf von Covered Bonds und ABS-Papieren (forderungsbesicherte Staatsanleihen bzw. Wertpapiere). Der Bericht zitiert einen Insider mit der Auskunft: Da griechische Banken auf weitere Liquiditätshilfe der EZB (durch Ankauf von Covered Bonds) angewiesen sind, müsse das Land „unter ökonomischer Aufsicht“ verbleiben.: „Die Botschaft war eindeutig: „Die Aussage Draghis, ‘kein Programm, keine Käufe’, ist eine direkte Warnung an Samaras, kein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Hilfsprogramm zu betreiben”, zitiert Bloomberg einen Investmentmanager (ausführlich hier)

Trotz all dieser Zweifel und Hindernisse will die Regierung Samaras ihren Antrag auf „vorsorgliche Finanzhilfe“ beim ESM immer noch als „Befreiung von den Memoranden“ verkaufen. Damit bleibt sie auf der Linie der bewussten Täuschung. Das wird ihr selbst in konservativen Zeitungen vorgehalten. „Der Austritt, der zur Rückkehr wurde“, lautet der Titel des Kommentars von Pantelis Boukalas in der Kathimerini vom 21. Oktober. Nach Boukalas war der „heroische Abschied von den Bailout-Programmen“ ein verzweifelter Versuch der Regierung, etwas gegen ihre inneren Probleme und ihre sinkende Popularität zu tun. Das aber sei voll danebengegangen. Mit ihrem von den „Märkten“ enttarnten PR-Coup habe es die Regierung geschafft, zur „besten Opposition gegen sich selbst zu werden“. Schon deshalb sei ihr Versuch, die Schuld an dem Fiasko der oppositionellen Syriza in die Schuhe zu schieben, zum Scheitern verurteilt sei. Boukalas kommt zu dem Fazit: „Der Hauptfaktor, der die gegenwärtigen Instabilität und die neuen Sorgen (um Griechenland, NK) ausgelöst hat, ist die Regierung selbst.“

Dieses Fiasko sollte auch die EU-Partner Griechenlands ins Grübeln bringen, zumal das politische Verfallsdatum der ND-Pasok-Koalition unerbittlich näher rückt. Die jüngsten Fehler dieser Regierung werfen allerdings eine noch grundsätzlichere Frage auf, und die zielt nicht nur auf ihre Haltbarkeit, sondern auf ihre Brauchbarkeit für jedwede Art von Krisenpolitik.

Wozu ist die Regierung Samaras noch nutze?

Ist eine Truppe, die nur noch auf das eigene Überleben bedacht ist, zu einer durchdachten und berechenbaren Politik überhaupt noch imstande? Und können sich die EU-Partner eine hohle Selbstrechtfertigung nach dem Motto „besser eine unfähige rechte als eine linke Regierung“ noch weiter bieten lassen? Täten diese Partner nicht besser daran, mit einer neuen, gesellschaftlich repräsentativeren politischen Kraft einen neuen Vertrag auszuhandeln? Was zwar schwierig wäre, aber wenigstens in die Zukunft weisen würde.

Wie dringlich solche Fragen sind, können wir uns an einem Beispiel klar machen. Wie im ersten Teil dieses Berichts aufgezeigt (NDS vom 17. Oktober), ist einer der „known unknowns“ in Bezug auf den Staatshaushalt der nächsten Jahre die Größe des Defizits bei den Steuereinnahmen bzw. bei den Beiträgen zu den Sozial- und Rentenkassen. In der Kathimerini war dazu letzte Woche (am 22. Oktober) folgender Bericht zu lesen:

„In dem Moment, da die aufgelaufenen Schulden die astronomische Summe von 70,1 Milliarden Euro erreicht haben, verzögert sich die seit langem erwartete Abzahlungsregelungen“ für rückständige Steuerzahlungen und Beiträge zu den Sozialkassen. Als Hauptgrund nannte die Zeitung „die Unfähigkeit der zuständigen Ministerien, sich auf einen gemeinsamen Vorschlag zu einigen“. Erst nach Intervention von Samaras sei es am 21. Oktober zu „fieberhaften Verhandlungen“ zwischen den Vertretern von Finanz-, Wirtschafts-, Arbeits- und Justizministerium gekommen, die sich dann endlich auf gemeinsame Eckpunkte geeinigt haben. Diese Regelung wurde am 24. Oktober ohne Diskussion vom Parlament verabschiedet.

Der wichtigste Streitpunkt zwischen den Ministerien – und mit der Troika – waren die Modalitäten für die Abzahlung, also das „Abstottern“ rückständiger Steuern bzw. Versicherungsbeiträge (insbesondere was die Zahl der Abzahlungsraten und die Rabatte betrifft). Die Folgen für die Budgets der nächsten Jahre sind, wie das Finanzministerium selbst einräumt, noch nicht bezifferbar, werden aber mit Sicherheit negativ sein: Bei den Steuerschulden geht das Ministerium davon aus, dass höchstens 5 Prozent der 70 Milliarden eintreibbar sind; bei den Beiträgen zu den Sozialkassen könnte der Prozentsatz etwas höher liegen. In jedem Fall ergibt sich für den Haushalt 2015 ein zusätzliches und riesiges Loch, das die Troika in ihrem anstehenden Bericht natürlich registrieren wird (Details nach Kathimerini vom 25. Oktober).

Wichtiger und interessanter ist jedoch, zu welchem Zeitpunkt diese wichtige Regelung verabschiedet wurde. Es zeigt sich, dass die Regierung ihren heroischen Abschied von den Memorandums-Programmen verkündet hat, bevor sie einen der wichtigsten Paramater ihrer Einnahmen intern geklärt hatte. Die Einigung zwischen den Ministerien – unter der „Peitsche“ von Samaras – kam erst zustande, nachdem „die Märkte“ die Ankündigung der Regierung und damit die griechischen Haushaltszahlen radikal in Frage gestellt hatten. Die Verspätung bedeutete zugleich, dass die Vouli diese Regelung nur noch abnicken konnte – ein neuerliches Beispiel dafür, dass die Versäumnisse der Regierung und die Unfähigkeit der Bürokratie die faktische Entmachtung des Parlaments bedeuten.

Rückkehr auf die „Märkte“ im Blindflug

Der geschilderte Fall ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Ankündigung eines Ausstieg aus dem Memorandum zum damaligen Zeitpunkt einem abenteuerlichen Blindflug gleichkam, weil die wichtigsten Konturen auf einem Radarbild nicht vor Ende des Jahres ermittelt sein werden. Von einem realistischen sozioökonomischen Szenario für Griechenland kann man erst dann sprechen, wenn folgende Daten vorliegen:

  • der abschließende Bericht der Troika, der nicht vor Mitte November vorliegen wird und Voraussetzung für die „Freigabe“ der letzten FSM-Tranche ist;
  • die Zahlen des Budgetentwurfs für 2015, der auch erst im November verabschiedet wird, und dessen Realitätsgehalt – unter anderem im Hinblick auf den für 2015 anvisierten Primärüberschuss – ebenfalls von der Troika begutachtet wird;
  • aktualisierte Rahmendaten für die gesamteuropäische Konjunkturentwicklung, die ein zentraler Parameter für die Perspektiven der griechischen Realwirtschaft sind.

(Eine Anmerkung in Paranthese: Ein wichtiges Datum liegt inzwischen vor: Die Ergebnisse des Stresstests für die Banken der Eurozone, die von der EZB am Sonntag in Frankfurt publiziert wurde, haben die griechischen Institute weitgehend „entlastet“. Das dürfte den Ehrgeiz der Regierung Samaras anstacheln, die für eine Rekapitalisierung der Banken vorgemerkte Summe von ca. 11 Mrd. Euro in eine vorsorgliche Kreditlinie umzudefinieren, was allerdings der Zustimmung von EZB und EU-Kommission bedarf. Zudem weisen Kommentatoren darauf hin, dass diese Summe nicht ausreichen würde, die Deckungslücke zu füllen, die durch einen Verzicht auf die IMF-Kredite entstehen würde. Dimitris Kontoyiannis (Kathimerini vom 26. Oktober) beziffert den griechischen Finanzbedarf für diesen Fall auf etwa 16 Milliarden Euro.)

Der Regierungschef eines Krisenlandes, der die entscheidenden Daten nicht abwartet, hat wie ein Hasardeur gehandelt. Wobei der Gipfel der Unverantwortlichkeit in der Tatsache liegt, dass offenbar niemand in der Regierung sich dafür „verantwortlich“ fühlte, auf die Kosten eines möglichen Scheiterns hinzuweisen. Fast alle griechischen Wirtschaftszeitungen waren sich mit der internationalen Finanzpresse darin einig, dass eine „Bruchlandung“ bei der Rückkehr zu den „Märkten“ das Land um Jahre zurückgeworfen hätte. Einige Analysten reanimierten sogar wieder das Gespenst eines „Grexit“ aus dem Euro, das sie schon auf dem Höhepunkt der griechischen Krise (2011/2012) beschworen hatten.
Letzteres ist wiederum weit übertrieben und in jedem Fall unverantwortlich. Aber mit ihrer schlecht fundierten, falsch „getimten“ und unzureichend abgestimmten Ankündigung eines „Grexit“ aus den Stützungsprogrammen hat es die Samaras- Regierung geschafft, vor aller Welt den Unterschied zu Spanien und Portugal bloßzulegen. Beide EU-Südländer sind seit Ende 2013 bzw. seit Mitte Mai 2014 nicht mehr auf den ESM-Rettungsschirm angewiesen. Und beide Länder können ihre Bonds seitdem zu annehmbaren Konditionen platzieren: Die spanischen 10-Jahres-Papiere sind derzeit mit einem Zinssatz von 2,2 %, die portugiesischen mit 3,3 % absetzbar. Athen hat also mit dem selbst ausgelösten Anstieg der griechischen Renditen auf bis zu 9 % (am heutigen Donnerstag immer noch bei 7,6 Prozent, der Kurs abzulesen hier) die Diskussion über die „Singularität“ des griechischen Falls zu einem denkbar unglücklichen Zeitpunkt erneut losgetreten.

Der versprochene „weiche Schuldenschnitt“ ist ausgeblieben

Wie kann man nur so blöd sein? Das fragen sich nicht nur die griechischen Wähler. Um der Gerechtigkeit willen muss an dieser Stelle ein entlastendes Argument angeführt werden. Die Regierung Samaras-Venizelos hat, inspiriert vom früheren Finanzminister Stournaras, ihre Entschuldungsstrategie seit 2012 auf folgender optimistischen Hypothese errichtet: Sobald das Land einen Überschuss im Primärhaushalt – also mehr Einnahmen als Ausgaben ohne Zinszahlungen – ausweisen kann, werden die Troika-Partner die Konditionen ihrer Kreditprogramme merklich verbessern. Ein solcher „weicher Schuldenschnitt“ war keine griechische Wunschphantasie, sondern eine inoffizielle Zusage der Gläubiger, die allerdings nie offen ausgesprochen oder gar verbrieft wurde. Bereits im Wahlkampf des Sommers 2012 gehörte die Aussicht auf einen „haircut light“ zum propagandistischen Reportoire der ND und insbesondere der Pasok (Näheres dazu auf den Nachdenkseiten vom 30. August 2012 und vom 11. Juli 2013).

Warum wurde dieses informelle Versprechen, für das sich insbesondere der IWF stark machte, bis heute nicht eingelöst? In der Antwort auf diese Frage sind sich die meisten Beobachter einig: Die Troika fordert als Gegenleistung die raschere und konsequentere Umsetzung zugesagter Reformen. Das Ausbleiben der „Belohnung“ für den erzielten Primärüberschuss hängt demnach unmittelbar mit der Reformresistenz einer Regierung zusammen, die Fleisch vom Fleische jenes Klientelsystems ist, aus dem die Regierungsparteien jahrzehntelang ihre Macht erneuert haben.

Die Systemparteien stehen für das „Klientelsystem“

So gesehen ist es ein bitterböser Witz, dass sich heute eine Regierung, bestehend aus den alten „Systemparteien“ ND und Pasok, gegenüber ihren Gläubigern und europäischen Partnern als Garantin der Stabilität und der Kontinuität anpreist, die allein die griechische success story zu ihrem glücklichen Ende bringen könne. Was diese Regierung tatsächlich garantiert, ist die Kontinuität des Klientelsystems und die Stabilität einer Ordnung, die Griechenlands Wirtschaft und Gesellschaft an den Rand des Abgrunds geführt hat.

An dieser Stelle ist einem Missverständnis vorzubeugen: Beim Zusammenhang zwischen Klientelismus und Reformversagen geht es nicht um die Frage, ob bestimmte Reformen für Staat und Gesellschaft in Griechenland richtig und nützlich sind, oder ob sie derart unzumutbar oder unproduktiv sind, dass eine demokratische Regierung sie mit guten Gründen verweigern kann oder muss (als Beispiel habe ich an anderer Stelle auf bestimmte Privatisierungsvorhaben verwiesen, siehe NachdenkSeiten vom 30. Mai 2011). Auf diese Frage werde ich später zurückkommen, wenn ich die Regierungsfähigkeit der Syriza erörtere.

An dieser Stelle geht es vielmehr darum, ob vereinbarte Reformen überhaupt in Gesetzesform gegossen und wann sie praktisch umgesetzt werden. Was in schwierigen und kontroversen Fällen voraussetzt, dass eine Regierung den Staats- und Steuerbürgern eine als „notwendig“ erachtete Reform offen darlegt und möglichst ehrlich begründet. Das ist in Griechenland in aller Regel nicht der Fall. Dies wiederum verstärkt die Zweifel, ob eine Athener Regierung bereit und imstande ist, ein als notwendig erkanntes Programm von „Zukunftsreformen“ von sich aus – und nicht auf Druck einer Troika oder anderer „äußerer Mächte“ – auszuarbeiten, dafür zu werben und schließlich auch umzusetzen. Eine solche gesellschaftlich vermittelte Reformpolitik stieße allerdings – unabhängig vom Willen und der Zusammensetzung der Regierung – auf ein weiteres Hindernis in Gestalt der staatlichen Bürokratie, die ebenfalls ein Produkt des politischen Klientelsystems ist und schon deshalb wenig Lust auf Veränderungen entwickelt.

Ohne Reformen kein Ausweg aus der Krise

Die meisten Beobachter der griechischen Krise sind sich, ungeachtet ihrer politischen Couleur, in einem Punkt einig: Ohne eine durchdachte, langfristig angelegte und von der Gesellschaft nicht nur tolerierte, sondern getragene Reformpolitik wird es niemals einen Grexit im Sinne eines Auswegs aus der tiefsten Krise der jüngeren griechischen Geschichte geben. Deshalb lautet – angesichts der politischen Verhältnisse im Herbst 2014 – eine Schlüsselfrage für die Zukunft des Landes: Wie hält es die heutige Opposition und potentiell nächste Regierung mit den Reformen?

Noch vor fünf Monaten, nach dem Resultat der Europawahlen im Mai, war es eine kühne Prognose, der Syriza innerhalb eines Jahres eine ernsthafte Chance auf Ablösung der Regierung Samaras/Venizelos zuzutrauen. Das sieht heute, nachdem die Regierung ihr Tischfeuerwerk von „success stories“ abgebrannt hat, entschieden anders aus. Dies ist das Resultat von Entwicklungen auf drei Ebenen:

  1. Neuwahlen zum Parlament im Frühjahr 2015 sind viel wahrscheinlicher geworden.
  2. Der Vorsprung der Syriza in den demoskopischen Umfragen hat sich stabilisiert und noch ausgeweitet.
  3. Die Oppositionspartei und ihr Vorsitzender haben im Zuge innerparteilicher Klärungsprozesse und in Konfrontation mit der Realität mehr politische Bodenhaftung entwickelt und ihr Profil als regierungsfähige Kraft gestärkt.

Die Frage der Neuwahlen

Zum ersten ist die Möglichkeit vorzeitiger Neuwahlen (wie im ersten Teil dieser Sachstandsberichts am 17. Oktober aufgezeigt) zu einer hohen Wahrscheinlichkeit geworden. Die Aussichten der Regierung Samaras, bei den fälligen Präsidentenwahlen Anfang nächsten Jahres die nötige drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament für ihren Kandidaten zu organisieren, sind drastisch gesunken. Damit dürften Neuwahlen im kommenden März fällig sein. Darauf beginnt sich auch die öffentliche Meinung einzustellen: Die Umfragen im Oktober zeigen, dass erstmals eine Mehrheit dafür ist, den nächsten Präsidenten erst durch ein neu gewähltes Parlament bestimmen zu lassen.

Diese Entwicklung hat auch die politische Klasse längst in einen „Vorwahlmodus“ versetzt. Das schildert uns der Parlamentsreporter der Kathimerini, der sich unter den Abgeordneten umgehört hat: „Zwar schlagen alle drei Kreuze, wenn die Möglichkeit vorzeitiger Wahlen erwähnt wird, aber auf der politischen Piazza ist es ein offenes Geheimnis, dass die Parlamentarier nur noch über eines diskutieren – wie es um die Aussichten ihrer Wiederwahl steht.“ Der Reporter berichtet von allerlei hektischen Aktivitäten, vom ständigen Drängen in die Radio- und Fernsehprogramme, von Aufträgen an demoskopische Institute, von kleinlichen Streitereien „unter Genossen“, die sich um denselben Wahlkreis bewerben – alles Dinge, die „nach Neuwahlen riechen“.(Kathimerini vom 26. Oktober)

Die Umfragen

Die demoskopischen Umfragen zeigen , dass die Syriza ihren Rückhalt bei den Wählern seit dem Sommer weiter verstärkt hat. Das Institut für Public Opinion-Studien der Mazedonischen Universität Thessaloniki ermittelt in ihrer jüngsten Umfrage (publiziert in der Kathimerini vom 19. Oktober) für die Syriza einen Vorsprung von 7,5 Prozentpunkte gegenüber der ND. Wichtiger noch: Mit 27,5 Prozent käme die Oppositionspartei derzeit auf 3,5 Prozent mehr als die Regierungsparteien ND (20 Prozent) und Pasok (4 Prozent) zusammen. Und noch interessanter: Unter Berücksichtigung der noch „unentschiedenen“ Wählern (17 Prozent) spricht alles dafür, dass die Syriza bei vorzeitigen Neuwahlen die 30-Prozent-Schwelle klar überschreiten kann.

Die Studie des Thessaloniki-Teams untersucht auch, aus welcher Richtung sich die potentiellen Wähler auf die Syriza zu bewegen. Dass viele aus der ehemaligen Gefolgschaft der linkssozialdemokratischen Dimar stammen, ist kaum erstaunlich. Die linke Opposition hat aber auch rund 30 Prozent der Wähler aufgesaugt, die bei den letzten Parlamentswahlen (im Juni 2012) für die rechtspopulistische Anel (Unabhängige Hellenen) gestimmt haben; desgleichen 13 Prozent der früheren Wähler der neonazistischen Chrysi Avgi und 12 Prozent der orthodoxen Kommunisten (KKE). Bei aller Zurückhaltung gegenüber solchen Wählerwanderungsanalysen dürfte es zutreffen, dass die Syriza zum zentralen Sammelbecken von Wählern geworden, deren Hauptmotiv die Ablehnung der Memorandums-Politik war und ist. Auf der anderen Seite zieht die linke Opposition auch „enttäuschte und erboste Wähler der beiden Regierungsparteien“ an. Nach der Umfrage würde jeder fünfte Pasok-Wähler von 2012 heute Syriza wählen. Dieselbe Bereitschaft äußern überraschenderweise auch 10 Prozent der ND-Wähler von 2012 (was die Demoskopen als Hauptgrund für „die wachsende Differenz zwischen den beiden großen Parteien“ sehen).

Die Syriza und mögliche Koalitionspartner

Während die Erfolge der Syriza bei den ehemaligen ND- und Pasok-Anhängern ihre politischen Hauptgegner direkt schwächen, ist der Wählerzufluss aus den kleineren Oppositionsparteien für die Partei eine zwiespältige Sache: Er legt das Wählerreservoir genau der Parteien trocken, die als Koalitionspartner für eine Regierung Tsipras in Frage kämen, falls die Syriza keine absolute Parlamentsmehrheit erzielen würde (wovon die meisten Beobachter ausgehen). Die Dimar als logischer Wunschpartner für eine linke Koalition liegt bei den Umfragen im Promille-Bereich und wird die nächsten Wahlen nicht überstehen. Auch die Anel, ein möglicher aber nicht wahrscheinlicher Koalitionspartner, rutschte in den letzten Umfragen unter der 3 Prozent-Grenze, womit sie im Parlament nicht mehr vertreten wäre. Die KKE ist ohnehin ein Fall für sich: Sie lehnt jede Mitarbeit in einer „bürgerlichen“ Regierung und sieht in der Syriza nur eine „linke Reserve“ des Kapitalismus und eine „neue Pasok“.

Damit bleiben für die Syriza nur zwei potentielle Koalitionspartner übrig. Das ist zum einen die erst seit März 2014 bestehende Partei To Potami (der Fluss), die von den Medien im politischen Spektrum links der Mitte verortet wird, also dort, wo die Pasok eine klaffende Lücke hinterlassen hat. Der Gründer und Kopf von Potami, der Journalist Stavros Theodorakis, hat eine Richtungsaussage lange vermieden, definiert seine Partei neuerdings aber als „radikales Zentrum“. Potami erzielte bei den Europawahlen im Mai mit 6, 6 Prozent einen Überraschungserfolg, war aber danach in den Umfragen leicht abgeschmiert. Nach der neuen Umfrage der Uni Thessaloniki liegt die Partei jetzt wieder bei 7 Prozent, weil sie es geschafft hat, sowohl rechts als auch links der Mitte zu fischen: Sie vermochte ein Viertel der früheren Dimar-Anhänger wie auch ehemalige Pasok- und Syriza-Wählern zu gewinnen; zugleich aber auch liberale Mitterechts-Wählern zu binden, denen die ND unter Samaras zu rechtslastig geworden ist. Ob To Potami mit der Syriza koalieren würde, ist eine völlig offene Frage. In jedem Fall wäre die Partei von Theodorakis aus Sicht der Sozialisten ein schwer berechenbarer Partner – wenn auch vielleicht der einzige, der nach den Wahlen noch zur Verfügung steht.

Als zweiten Bündniskandidaten die Pasok zu nennen, wäre bis vor einem halben Jahr nicht einmal als schlechter Witz durchgegangen. Aber falls es die Partei – unter dem Namen Elia (Olivenbaum) – überhaupt noch ins Parlament schafft, sind auch Koalitionsverhandlungen mit dem letzten Aufgebot der ehemals stolzen Papandreou-Truppe nicht völlig ausgeschlossen. Aber zweifellos würde die Syriza-Führung es vorziehen, die Überreste der Pasok in Form von Wählern einzusammeln. Im Übrigen wird sie alles tun, eine vorzeitige Diskussion über mögliche Koalitionspartner zu unterbinden, weil dies zu heftigen innerparteilichen Kontroversen führen würde.

Absolute Mehrheit durch doppelte Neuwahlen?

Vorerst gelingt es der Parteiführung, die heikle K(oalitions)-Frage dadurch ersticken, dass sie als Wahlziel eine „autonome Mehrheit“, sprich eine Alleinregierung verkündet. Das klingt angesichts der aktuellen Umfragen ziemlich vermessen. Um an die Schwelle einer absoluten Mehrheit von 150 Sitzen heranzukommen, braucht die Syriza – trotz der 50 Extrasitze, die der stärksten Partei als Bonus zustehen – etwa 35 Prozent der Wählerstimmen. Die sind jedoch nach wie vor ziemlich unwahrscheinlich, wie man auch in der Parteizentrale einräumt. Deshalb spielt man mit einem Szenario, das ziemlich abenteuerlich klingt: Sollten Wahlen im März keine absolute Syriza-Mehrheit erbringen, aber auch keine Konstellation für eine andere Regierung, wären ohnehin Neuwahlen fällig. Und die würde man triumphal gewinnen, weil die Griechen dann unbedingt eine handlungsfähige Regierung wollen.

Die unterstellte Wählerdynamik erscheint durchaus denkbar. Aber wie das Land nach zwei erbitterten Wählkämpfen aussehen würde (und das nach einer gescheiterten Präsidentenwahl, die ja Voraussetzung des ganzen Szenarios ist), möchte man sich lieber nicht vorstellen. In einem klientelistischen System, wo der öffentliche Dienst zu Wahlkampfzeiten praktisch zum Stillstand kommt, dürfte die neue Regierung für den geplanten Neubeginn jedenfalls keine angenehmen Startbedingungen vorfinden.

Das Hauptproblem der Syriza

Damit sind wir beim Hauptproblem der Syriza-Strategie. Und das liegt nicht in der Frage, wie und nach wie vielen Wahlen und mit welchem Wahlrecht eine Alleinregierung möglich wäre. Es ist vielmehr die Frage, wie eine linke Partei in einer so tiefgehenden ökonomischen Krise eine gesellschaftliche Mehrheit gegen die alten, diskreditierten Kräfte organisieren kann, ohne mit falschen Versprechungen zu operieren. In einer solchen Situation ist es von entscheidender Bedeutung, dass man von der Realität ausgeht, also Lage des Landes und der Gesellschaft so beschreibt, wie sie ist, und nicht, wie man sie sich wünscht. Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil die Syriza die ND-Pasok-Koalition – völlig zu Recht – als Regierung der leichtsinnigen Versprechen und gezinkten Erfolgsgeschichten darstellt. Ein linkes Gegenprogramm, das auf ehrlichen Auskünften und nüchterner Bestandsaufnahme der Realität basiert, ist auch und vor allem wichtig, um Enttäuschungen vorzubeugen. Ehrlich währt am längsten. Und unehrlich rächt sich ziemlich schnell. Sollte die Politik einer Syriza-geführten Regierung daran scheitern, dass ihre Versprechen mit der Realität unvereinbar sind, wäre jedwede Perspektive der demokratischen Linken in Griechenland für lange Zeit zerstört.

Ehe wir nach dem Verhältnis von Realitätssinn und Ehrlichkeit bei der Syriza fragen, müssen wir uns klarmachen, wie es um ihre Vertrauenswürdigkeit in den Augen der Wähler steht. In dieser Hinsicht vermitteln die Umfragen, die der Opposition einen klaren Vorsprung vor der Regierung bescheinigen, zugleich eine entschiedene Warnung.

Die aktuelle Umfrage der Uni Thessaloniki zeigt, dass große Teile der Gesellschaft der Syriza genauso misstrauen wie der Regierung. Und zwar speziell in der zentralen Frage, mit der Tsipras im Wahlkampf punkten will: Während 64 Prozent der Befragten nicht an den von der Regierung verkündeten „Ausstieg aus den Memoranden“ glauben, gehen 69 Prozent davon aus, dass auch eine Syriza-Regierung den von ihr versprochenen Ausstieg nicht schaffen kann. Noch eindeutiger sind folgende Zahlen: Nur 10 Prozent sind sich „ganz sicher“, dass Samaras sein Versprechen einlösen kann, aber bei Tsipras sind es sogar nur 5 Prozent.

Das Misstrauen der Wähler als Chance

Diese Glaubwürdigkeitslücke ist ein katastrophaler Befund, den man allerdings auch positiv interpretieren kann: Ein Großteil der griechischen Wähler hat die Regierung der success stories satt, weil sie die Realität viel klarer sehen als die politische Klasse. Aber mit derselben Skepsis werden auch die Grenzen der realen Möglichkeiten einer Syriza-Regierung gesehen.

Die deprimierenden Zahlen enthüllen im Grunde ein großes Potential, das die Opposition für sich nutzen könnte. Aber nur, wenn sie den Wählern statt unglaubwürdiger Versprechen ein schlichtes Angebot machen würde: „Versucht es mit uns, weil wir euch ehrlich kommen.“

Das klingt utopisch. Hat man irgendwo auf dieser Welt von einer demokratischen Wahl gehört, die auf dem Tauschakt „Vertrauen“ (der Wähler) gegen „Ehrlichkeit“ (der Wahlbewerber) beruhte? Und das ausgerechnet in einem politischen System gehen, das sich jahrzehntelang über den klientelistischen Tauschakt „Stimme gegen Pöstchen“ reproduziert hat?

Dem wäre entgegen zu halten: Die griechische Gesellschaft ist an den Punkt gelangt, an dem sich die Fehler des alten System derart akkumuliert haben, dass es sich eben nicht mehr reproduzieren kann. Wann wenn nicht jetzt wäre die Zeit für eine Opposition gekommen, die das Ganze in Frage stellt? Und zwar nicht, indem sie „linke“ Errungenschaften verspricht, für die eine materielle Basis erst zu schaffen wäre, sondern indem sie den Kern des alten Modell, also den Klientelismus attackiert.

Die Syriza als bessere Sozialdemokratie?

Klingt das nicht ziemlich sozialdemokratisch? Sicher doch, aber was soll schlecht daran sein? Eine wirkliche und solide Sozialdemokratie, die gegen populistische Demagogie und klientelistische Versuchungen gefeit ist, wäre ziemlich genau das Projekt, das die griechische Gesellschaft nach dem jämmerlich gescheiterten Projekt namens Pasok nötig hätte . Und das nach dem großen Krisenschock sogar eine Mehrheit finden könnte.

Für viele Syriza-Mitglieder, vor allem auf dem linken Flügel (der sich als „Linke Plattform“ organisiert hat) ist diese Vorstellung natürlich ein Horror. Sie setzen nach wie vor (offen) auf einen „Grexit“ aus der Eurozone und (weniger offen) aus der Europäischen Union. Die Argumente gegen solche linken „Kinderkrankheiten“ hat der Slavoj Zizek zusammengefasst, der mit der griechischen Gesellschaft seit langem vertraut ist. Der prominente slowenische Philosoph, der enge Kontakte mit Alexis Tsipras hat und sich auch ganz gern als dessen intellektueller Guru bezeichnen lässt, sprach Ende Juni in einem Interview mit der Efimerida ton Syntaktion ausführlich über die potentielle Rolle der Syriza in der griechischen Krise. Ich zitiere die wichtigsten Passagen im Wortlaut:

„Etwas erreichen kann man in Griechenland nicht etwa, indem man eine bekloppte linksradikale Revolution ausprobiert und damit scheitert, um hinterher eine nette historische Erinnerung zu haben, im Sinne von: Ach wie schön es damals war. – Nein. In Griechenland haben wir einen korrupten und klientelistischen Staat. Ich weiß, das sich das, was ich sagen werden, verrückt anhört, und das mich gewisse Marxisten dafür kreuzigen werden. Ich glaube aber, dass die Syriza einige wirklich produzierende Kapitalisten finden muss, die diesen Zustand – diesen klientelistischen und parasitären Staat – ebenfalls satt habe. Wir müssen absolute Pragmatiker sein. Vielleicht müsste die Syriza sogar eine glaubwürdige bürgerliche Partei bilden, die Griechenland endlich zu einem stinknormalen Staat machen würde, zu einem Staat, der irgendwie einem normalen liberalen demokratischen Staat ähnelt. Das (Fehlen dieses Staates) stellt für die Syriza ein Hindernis dar, aber es ist zugleich auch eine einmalige Chance. Um es auf gut marxistisch auszudrücken: Die bürgerlichen Parteien sind bekloppt, dass sie dieses Terrain nicht besetzen, und die Bürger wissen das. Natürlich sind nicht alle Syriza-Wähler Linke, das ist mir klar, aber sie sind von den bestehenden (bürgerlichen) Parteien angewidert. Und sie hoffen, dass endlich effektiv regiert wird.“

An dieser Stelle wirft Zizek den EU-Partnern Griechenlands eine heuchlerische Haltung vor: Sie halten Griechenland immer wieder vor, ein korruptes Land zu sein, aber bei Wahlen unterstützen sie dann doch immer die Nea Dimokratia, die nichts anderes ist als die „Inkarnation“ der beklagten Korruption. Deshalb, so Zizek, sollten die Europäer nicht auf die griechischen Stimmen hören, die ihnen mit der Behauptung Angst machen, Tsipras würde auf einen „totalitären Polizeistaat“ zusteuern. In Europa müsse man vielmehr begreifen, dass die Realität der Syriza im Grunde nur eine Politik erlaubt: eine Politik der „Mäßigung“.

Tsipras und seine Partei sind keine Parias mehr

Diese Argumentation ist, abgesehen von ihrer inneren Stringenz, auch deshalb von Belang, weil Zizek sie ganz sicher auch Alexis Tsipras vorgetragen hat. Wie sich der Syriza-Vorsitzende mit der Position seines intellektuellen „Mentors“ auseinandersetzt, können wir nicht wissen. Aber es gibt eine Menge Anzeichen dafür, dass solche realpolitischen Überlegungen in der Parteiführung aufmerksame Zuhörer finden. Das gilt erkennbar auch für die Einschätzungen und Informationen, die Tsipras und seine engeren Berater aus ihren Kontaktgesprächen mit Politikern und Wirtschaftsvertretern auf internationaler Ebene gewinnen.

Diese Kontakte haben sich seit längerem erheblich verdichtet. Das zeigt zugleich an, dass die Syriza mittlerweile – vor allem im EU-Bereich – als ernstzunehmende politische Größe und Tsipras als potentieller griechischer Regierungschef wahrgenommen wird. Seit seinem ersten Gespräch mit Finanzminister Schäuble und seinen Auftritten beim IWF und der Brookings Institution im Januar 2013 hat der Syriza-Chef seine internationalen Reputation und Akzeptanz kontinuierlich ausgebaut. Mit Sicherheit gehört er heute zu den am besten „vernetzten“ Politikern der europäischen Linken .

Dies gilt auch für die Syriza-connections mit der deutschen Politik. Schon aus Anlass der Europa-Wahlen im Mai dieses Jahres schrieb Jens Bastian, einer der kundigsten Griechenland-Beobachter, in dem blog Macropolis: Anders als noch bei den doppelten (Parlamentswahlen vom Sommer 2012 werde Tsipras und die Syriza in Berlin inzwischen viel gelassener gesehen: „Im Lauf der letzten beiden Jahre wurde zwischen Syriza-Vertretern und deutschen Bundesministerien eine ständige Kommunikationsverbindung etabliert und offen gehalten, häufig unter Vermittlung der deutschen Schwesterpartei der Syriza, der Linken.“ Dank solcher Kontakte ist es laut Bastian gelungen, „Missverständnisse auszuräumen, zum Beispiel über Schuldenermäßigungen, und bestimmte politische Positionen zu klären, zum Beispiel über Griechenlands Euro-Zugehörigkeit“. Zudem seien damit „beide Seiten auf eine mögliche Zusammenarbeit vorbereitet, wenn dies nötig werden sollte“.

Sollte dieser „Ernstfall“ einer von der Syriza geführte Regierung eintreten, wird Tsipras „für das Berliner politische Establishment keine unbekannte Größe“ mehr sein. Das gilt auch für die wichtigsten Wirtschaftsexperten der Partei (wie den Abgeordneten und „Schatten-Wirtschaftsminister“ Giorgos Stathakis), die fast schon eine ständige Arbeitsbeziehung bis hinein in die Berliner Regierung haben.

Die Syriza und Europa

Was die „europäische Orientierung“ betrifft, so hat die Syriza-Führung in den beiden von Bastian erwähnten Punkten frühere Unklarheiten restlos beseitigt. Griechenlands Zugehörigkeit zur Euro-Zone wird von keinem Parteisprecher mehr in Zweifel gezogen, selbst die Linke Plattform hat sich zu diesem Thema seit längerem nicht mehr geäußert. Und in der Frage der EU-Mitgliedschaft hat Tsipras seine Partei spätestens mit seiner offiziellen „Kandidatur“ für den EU-Kommissionspräsidenten auf Linie gebracht. Wie er schon letztes Jahr bei einer Veranstaltung der österreichischen Sozialdemokraten erklärte, erstrebt die Syriza Partei ein „offenes, demokratisches und kohärentes Europa“, wobei der erste Schritt zu diesem Ziel „die Stabilisierung der Eurozone“ sei.

Was bedeuten solche europäischen Bekenntnisse für die Vorstellungen über eine Lösung der griechische Schuldenkrise? Aussagen des Typs, dass eine Syriza-Regierung am ersten Tag das „Memorandum“ aufkündigen und alle Zahlungen einstellen werde, gehören der Vergangenheit an und werden auch im nächsten Wahlkampf nicht wieder auftauchen. „Harte“ Verhandlungen ja, aber keine Ultimaten, lautet die Botschaft von Tsipras inzwischen, wobei er als Verhandlungsforum eine gesamteuropäische Schuldenkonferenz vorschlägt. Man muss immerhin anerkennen, dass diese Idee von der Einsicht ausgeht, dass Athen seinen Gläubigern substantielle Konzessionen nur mit Hilfe europäischer Verbündeter abringen kann, zu denen Tsipras auch sozialdemokratische Kräfte zählt. Dennoch ist das Konzept aus heutiger Sicht nicht besonders realistisch.

Forderung nach einem Schuldenschnitt – realistisch und irreal zugleich

Das gilt auch für die Frage aller Fragen: eine tragfähige Lösung für die gigantische griechische Staatsverschuldung. In diesem Punkt sind die Vorstellungen der Syriza zwar ökonomisch realistisch, aber politisch irreal. Die offizielle Position der Partei ist nach wie vor, dass ein Großteil der aktuellen Staatsverschuldung( in Höhe von 177 Prozent des BIP) abgeschrieben werden müsse, um diese auf etwa 100 Prozent des BIP zurückzuführen.

Die Überzeugung, dass dies die Voraussetzung für eine „tragfähigen“ Schuldenlast ist, teilt die Syriza mit prominente Ökonomen (auch innerhalb des IWF), aber auch mit Analysten großer Finanzinstitute wie der Citigroup (siehe EfSyn vom 20. Oktober). Die Operation würde allerdings auf einen „haircut“ bei den griechischen Staatspapieren, die inzwischen überwiegend bei staatlichen und öffentlichen Institutionen liegen (daher spricht man von „Official Sector Involvement“ oder OSI). Das würde bedeuten, dass z.B. die EZB und nationale Zentralbanken zig Milliarden abschreiben müssten. Das macht OSI zu einem hochpolitischen Projekt der explosiven Art, das keine Regierung freiwillig anfassen würde (ob sozialdemokratisch oder nicht).

Ein linkes Programm für umfassende Reformen

Aus diesem Dilemma gibt es für eine Partei, die mit dem Anspruch auftritt, nicht nur die alte Regierung, sondern auch das alte System abzulösen, nur einen Ausweg. Sie muss ein eigenes Programm für umfassende Reformen entwickeln und sich in hartnäckigen Verhandlungen mit den EU-Partnern bemühen, möglichst viel von diesem Erneuerungsprogramm durchzusetzen – und zugleich möglichst viele der „Reformen“ zu verhindern, die nicht zur Überwindung der Krise beitragen oder unzumutbare soziale Folgen haben. Aber die griechische Position in solchen Verhandlungen wird umso besser sein, je deutlicher sie ihre Bereitschaft zu eigenen, überfälligen Reformen demonstriert.

Da solche Reformen vor allem den Klientelstaat bekämpfen und damit den öffentlichen Sektor betreffen müssen, werden sich innerparteiliche Konflikte nicht vermeiden lassen. Zum Beispiel mit bestimmten „Gewerkschaften“, die im Lauf der Zeit zum organischen Bestandteil des korrupten Klientelstaats geworden sind. Deren Repräsentanten, von denen viele seit Beginn der Krise von der Pasok zur Syriza übergelaufen sind, werden jede ihren Besitzstand bedrohende Reform zu torpedieren versuchen.

Es gibt klare Anzeichen dafür, dass Tsipras und seine Berater das Problem erkannt haben. Vor drei Wochen hielt der Syriza-Vorsitzende eine Rede, in der er den „traurigen Zustand des Staates“ auf „Phänomene wie Korruption, Rechtlosigkeit, Schmuggelhandel und Erpressung“ zurückführte: „Der heutige nicht funktionierende und verbürokratisierte Staat ist kein Zufall. Er ist politisch gewollt, weil er Seilschaften und krumme Geschäfte begünstigt.“ Das Publikum, dem Tsipras diese Kritik des Klientelstaates vortrug, war der griechische Unternehmerverband. Es bleibt abzuwarten, ob er ähnlich klare Worte auch gegenüber bestimmten Branchensyndikaten findet.

Postscriptum 1: In der zitierten Rede war Tsipras bemüht, den griechischen Unternehmern klarzumachen, dass eine Syriza-Regierung nicht die von Samaras beschworene Katastrophe wäre. Dabei präsentierte er seinem Publikum ein leicht naives Idealbild des „neuen Unternehmers“, der innovativ ist, Herausforderungen annimmt und seine gesellschaftliche Verantwortung erfüllt. Solche Unternehmer seien für ihn „Mitstreiter“ für „die Neubegründung, Neuordnung und Entwicklung des Landes“.

Postscriptum 2: Diese Rede von Tsipras wurde nur in der linken Efimerida ton Syntakton dokumentiert. In den Wirtschaftszeitungen war sie nicht nachzulesen, auf der Wirtschaftsseite der Kathimerini fand sich nur eine winzige Notiz. Offenbar hat die Rede des Syriza-Vorsitzenden den regierungsnahen Redakteuren nicht gefallen. Auch das zeigt uns an: Es riecht nach Wahlen.


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