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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Verbarrikadierte Demokratie – Schafft sich die Politik ab?
Datum: 21. Oktober 2014 um 10:25 Uhr
Rubrik: Demoskopie/Umfragen, Erosion der Demokratie, Neoliberalismus und Monetarismus, Postdemokratie
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Referat von Wolfgang Lieb auf der Herbstkonferenz 2014 der Evangelischen Akademie Bad Boll unter dem Titel „Kirche in der Demokratie, Demokratie in der Kirche“ am 21. Oktober 2014.
Nach einer Zustandsbeschreibung der Demokratie aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger, wird am Beispiel der Einführung der sog. „Schuldenbremse“ dargestellt, wie die neoliberale Wirtschaftslehre auf Verfassungsrang erhoben wurde. Danach werden weitere Beispiele angesprochen, wie sich die Politik in zentralen Fragen sich hinter Vorfestlegungen verbarrikadiert und sich selbst abschafft.
Als Pfarrer Michalak Ende März dieses Jahres bei mir anfragte, ob ich auf Ihrer Herbstkonferenz unter dem Titel „Kirche und Demokratie“ ein Referat halten könne, hat er mir als Thema, das von dem britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch beschriebene Phänomen der „Postdemokratie“ vorgeschlagen.
Ich habe ihm damals leichtsinnigerweise zugesagt, nicht ahnend wie viel Arbeit da auf mich zu kommen würde, ich habe aber darum gebeten, nicht die Überschrift „Postdemokratie“ zu wählen.
Obwohl ich die Beschreibungen von Colin Crouch über den Niedergang der westlichen Demokratien sehr schätze und vieles teile, mag ich den Begriff Post-Demokratie nicht so sehr, weil „Post“ für alles oder nichts steht, z.B. „Postmoderne“, Postfordimus oder „postfordistischer“ Kapitalismus etc. also für danach oder nicht mehr, aber für was dann? Immer wenn man ein gesellschaftliche Epoche nicht so richtig kategorisieren kann, spricht man gerne von „post-…
Ich spreche lieber konkreter von verbarrikadierter Demokratie, weil der Begriff Barrikade aus meiner Sicht anschaulicher auszudrücken vermag, wie sich in den letzten Jahrzehnten Politik immer mehr selbst eingemauert und sich alternative Entscheidungsmöglichkeiten genommen hat und das Verb „müssen“ und das Adjektiv „alternativlos“ die politischen Reden beherrschen.
Dennoch will ich mich wunschgemäß an den Thesen von Colin Crouch abarbeiten, und versuchen, sie am Beispiel konkreter politischer Entscheidungen zu belegen.
Ich will zunächst eine Zustandsbeschreibung unserer Demokratie aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger versuchen. Danach will ich an Hand der Einführung der sog. „Schuldenbremse“ exemplarisch eine postdemokratische Entwicklung darstellen und Ihnen zum Schluss einige Beispiele geben, bei denen ich die Gefahr sehe, dass sich die Politik in zentralen Fragen selbst abschafft.
Seit Jahren ergeben sämtliche Meinungsumfragen mit geringen Abweichungen das bedenkliche Ergebnis, dass etwa die Hälfte, im Osten sind es sogar über 60 % der Befragten mit dem „Funktionieren der Demokratie“ in Deutschland weniger zufrieden bzw. unzufrieden sind.
Noch negativer sind die Urteile über das Funktionieren der Demokratie in Europa.
Geradezu erschreckend sind die Umfragewerte unter Jugendlichen, sie sind mit der Demokratie „so wie sie in Deutschland besteht“ zu 52,2% eher unzufrieden und zu 6,9% sehr unzufrieden. Besonders unzufrieden sind naheliegenderweise arme Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund oder mit niederem Bildungsabschluss.
Gleichzeitig – und das ist auf den ersten Blick widersprüchlich – hält wiederum durchgängig in allen Umfragen die ganz überwiegende Mehrheit der Befragten die Demokratie für eine gute Regierungsform (Infratest dimap 2013). Nach einer Allensbach-Umfrage halten über 80% unser Grundgesetz für gut und verteidigenswert.
Das Grundvertrauen der Deutschen in die Demokratie als Regierungsform ist demnach ungebrochen.
Die Skepsis gegenüber der Demokratie basiert auf mangelndem Vertrauen in die Politiker. Nach einer Umfrage des IfD Allensbach „Vor welchem Beruf haben Sie besonders viel Achtung“ nennen gerade 6% die Politiker, das ist der zweitschlechteste Wert aller Berufsgruppen.
Den Aussagen der Bundesregierung misstrauen 60 Prozent der repräsentativ befragten Bürger. Den Oppositionsparteien vertrauen sogar 70 Prozent nicht mehr. Auch die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftsvertreter sinkt weiter. Den Aussagen von Unternehmen glauben 60 Prozent der Menschen nicht mehr. Der Finanzbranche misstrauen 78 Prozent.
Noch weit kritischer stehen die Bürger den Parteien gegenüber: Nur 22 Prozent haben Vertrauen in sie als Vermittlungsinstanz zwischen Bürgerinteressen und Politik. Immer mehr Menschen sagen „alle Parteien sind gleich. Es ist egal, wen man wählt“. Auch die Medien als informelle Kontrollinstanz werden mehrheitlich kritisch bewertet: Zwei von drei Bürgern (63 Prozent) haben in deren Wächterrolle wenig oder gar kein Vertrauen. Weit höher im Ansehen stehen dagegen Nicht-Regierungsinstitutionen (58 Prozent) und Bürgerinitiativen (53 Prozent). )
Die genauen Prozentwerte können bei unterschiedlichen Fragestellungen ein wenig voneinander abweichen, aber in der Tendenz stimmen die Umfrageergebnisse überein.
Der Widerspruch zwischen der Skepsis gegenüber der demokratischen Praxis und der Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform zeigt, dass die ganz große Mehrheit der Bevölkerung weder demokratiekritisch oder gar demokratiefeindlich ist, wir haben es eher (noch) mit einer Politik-, Politiker- und Parteienverdrossenheit als mit einer Demokratieverdrossenheit zu tun.
Zur kritischen Haltung gegenüber unserer repräsentativen Demokratie trägt der Eindruck vieler bei, dass die Parlamente immer weniger Entscheidungsspielräume haben. Zwei von drei Bundesbürger sind der Meinung, dass die Wirtschaft heute mehr Einfluss auf wichtige politische Entscheidungen hat als die Parlamente und die gewählten Mandatsträger, und knapp jeder Zweite (46 Prozent) beklagt eine zunehmende Entmachtung der nationalen Parlamente durch die Verlagerung von Entscheidungen auf die europäische Ebene. Die Möglichkeiten der Bürger, auf die Politik Einfluss zu nehmen, werden zudem als sehr gering erachtet.
Eine plausible Erklärung für die skeptische Einstellung gegenüber dem Funktionieren unserer Demokratie mag in dem Auseinanderdriften von Mehrheitsmeinung und politischen Entscheidungen liegen. In vielen zentralen politischen Fragen gehen die Meinungen der Bürgerinnen und Bürger zu den getroffenen politischen Entscheidungen oder Positionen diametral auseinander.
So sind etwa 64 % der Meinung, dass die Rente mit 67 ausgesetzt werden sollte Kaum jemand war der Meinung, dass mit der Lockerung des Kündigungsschutzes neue Arbeitsplätze geschaffen würden. Und schon immer waren drei Viertel der Bevölkerung für den gesetzlichen Mindestlohn.
Fast vier Fünftel der Bundesbürger lehnen ein stärkeres militärisches Engagement Deutschlands ab. Die Agenda 2010 wurde gegen die Zustimmung von zwei Drittel der Deutschen durchgesetzt noch heute leidet die SPD bei Wahlen unter Gerhard Schröders sog. „Reformpaket“.
60% der Bevölkerung sind der Meinung das die allseits gelobten wirtschaftlichen Erfolge nicht bei ihnen ankommen. 69 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind davon überzeugt, dass Einkommen und Vermögen nicht gerecht verteilt sind.
Knapp zwei Drittel der Bevölkerung meinen, dass soziale Gerechtigkeit eher auf dem Rückzug ist und in den letzten drei, vier Jahren abgenommen hat. Eine immer größer werdende Mehrheit ist der Meinung ist, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht und zwei Drittel der Menschen machen dafür die (derzeitige) Politik verantwortlich.
Über alle Schichten hinweg hält es eine deutliche Mehrheit (insgesamt 57 Prozent) für ein großes Problem, wenn der Unterschied zwischen Arm und Reich immer größer wird (Allensbach-Umfrage im Auftrag der INSM).
Wenn die Politik in zentralen Fragen, also etwa der sozialen Sicherheit dauerhaft gegen den Mehrheitswillen regiert, ist die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie nicht weiter verwunderlich.
Je mehr die Menschen das Gefühl bekommen, dass sich die Politik von den Interessen und der Betroffenheit einer Mehrheit in der Bevölkerung entfernt, je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht, um so mehr Menschen versinken in politische Apathie und desto leichter können mächtige Interessengruppen und finanzstarke Wirtschaftsinteressen den Staat zu ihrem Selbstbedienungsladen machen.
Der Verdruss über die Politik spiegelt sich wider in den abstürzenden Mitgliederzahlen der großen immer älter werdenden Parteien – die SPD hat fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Es sinkt die Bindekraft der Volksparteien, und es steigen die Wahlerfolge von Protestparteien.
Die politische Apathie zeigt sich in historisch niedrigen Wahlbeteiligungen. Im September dieses Jahres gingen z.B. in Sachsen weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten an die Wahlurne.
Der Anteil der Nichtwähler wird immer größer. Es ist zu befürchten, dass sich aus dieser Gruppe destruktive Energien entwickeln könnten – weil nämlich Demokratie nicht mehr gut funktionieren kann, wenn ein immer größerer Teil der Gesellschaft nicht mehr dabei mitmacht. Eine Zwei-Drittel Demokratie ist eine Gefahr für den inneren Frieden.
Verdruss über das Funktionieren der Demokratie ist darüberhinaus ein Nährboden für rechtspopulistische oder sogar rechtsextreme Strömungen. Das kann man überall in Europa beobachten.
Was sich als Stimmung innerhalb der Gesellschaft niederschlägt, ist natürlich auch schon längst Gegenstand der Wissenschaft.
So sprechen Politologen von einem Wandel vom „partizipatorischen“, „inputorientierten“ Ideal der „responsiven Demokratie“ hin zu einer output-orientierten Beteiligung der Bürger. Will sagen von einer Entmachtung der Bürger auf der Input-Seite des politischen Prozesses und einer Beschränkung ihrer Rolle auf die Bewertung des politischen Outputs. Man spricht vom Übergang vom Staats- zum Marktbürger, von „democracy without demos“ oder von „leader democracy“. Man analysiert eine Gewichtsverschiebung zwischen Exekutive und Legislative zugunsten der Regierungen.
Ich kann die verschiedenen politikwissenschaftlichen hier nicht weiter ausführen und verweise auf einen Aufsatz von Claudia Ritzi, Gary S. Schaal, in Aus Politik und Zeitgeschichte aus dem Jahr 2009. Dort finden Sie eine recht gute Zusammenstellung der verschiedenen politikwissenschaftlichen Ansätze, APUZ 2-3/2010.
Die am häufgsten diskutierte Beschreibung des Niedergangs der Demokratie hin zu einer „Postdemokratie“ stammt von Colin Crouch (Postdemokratie, Franfurt a.M. 2008).
Mit „Postdemokratie“ will er einen Zustand beschreiben, bei dem die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind, indem sich politische Verfahren und die Regierungen aber zunehmend in eine Richtung zurück entwickeln, die typisch war für vordemokratische Zeiten:
Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, wohingegen der Enthusiasmus der großen Mehrheit für die Demokratie, die Beteiligung der normalen Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung der politischen Agenda, die wirklich ihren Interessen entspricht, abnimmt. Es gibt zwar noch eine formale Fortexistenz demokratischer Institutionen, hinter deren Fassade aber eine weitreichende Selbstaufgabe der Politik stattgefunden hat.
Postdemokratisch bezeichnet Crouch (Zitat) „ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ (Zitat Ende) (Colin Crouch, a.a.O., S. 10)
Es gebe, so Crouch, nur noch einen negativen Aktivismus des Tadelns und sich Beschwerens, bei dem das Hauptziel der politischen Kontroverse darin bestehe, zu sehen, wie Politiker zur Verantwortung gezogen würden, wie ihre Köpfe auf den Richtblock gelegt und ihre öffentliche und private Integrität peinlich genau überprüft werde.
Musterbeispiele für einen solchen negativen Aktivismus, wo der Sturz von Politikern nicht wegen ihres politischen Handelns, sondern wegen ihrer privaten Verfehlungen herbeigeführt wurde, sind die Rücktritte des Freiherrn zu Guttenberg vom Amt des Verteidigungsministers oder von Annette Schavan als Bildungsministerin. Sie mussten nicht etwa deshalb zurücktreten, weil die Mehrheit der Bevölkerung gegen den Militäreinsatz in Afghanistan gewesen ist oder weil die Bildungspolitik gescheitert war, nein, sie mussten ihre Posten räumen, weil Plagiate in ihren lange zurückliegenden Doktorarbeiten nachgewiesen wurden.
Das Prinzip einer aktiven, partizipatorischen Demokratie ist zumindest insofern in eine Krise geraten, als es sowohl für den Bürger, ja sogar auch für den gewählten Abgeordneten immer weniger Möglichkeiten gibt, auf die politischen Prozesse steuernd einzuwirken.
Wenn Sie sich ein wenig zurückbesinnen, dann wird ihnen sicher wieder einfallen, dass keine der zentralen sog. Reformen der letzten Dekade, also weder die Hartz-Gesetze, die Teil-Privatisierung der Rente, die Gesundheitsreformen noch etwa die Föderalismusreform jemals Wahlkampfthemen gewesen sind. Sie wurden in der Hartz-Kommission oder in der Rürup-Kommission und wie die Expertenrunden alle hießen oder oft sogar von privaten Wirtschaftsberatungsgesellschaften oder gleich an den Schreibtischen von Konzernen oder Wirtschaftsverbänden ausgearbeitet. Die Gesetzentwürfe waren schon weitgehend fertig bevor ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete überhaupt ein Wort dazu sagen konnte. Bekannt gewordene Beispiele sind der Entwurf zum Kreditwesengesetz durch eine britische Großkanzlei oder das sog. Sparpaket für die Pharmaindustrie das von Vertretern des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen formuliert wurde.
Es wird das Gerücht kolportiert, dass der damalige Kanzler Gerhard Schröder drei Tage vor Verkündung der Agenda 2010 jedenfalls nicht im Detail gewusst habe, was er am 14. März 2003 vor dem Parlament erklären würde.
Aber diese Expertengremien sind ja nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. In den Medien allenfalls mit Kurznachrichten bedachte Dutzende von Räte oder Groups auf europäischer Ebene sprechen Empfehlungen aus, setzen Standards und Grenzwerte fest, drohen Sanktionen an – alles ohne Diskussion im nationalen Parlament und schon gar nicht in der Öffentlichkeit.
Beispiele gefällig?
Da gibt es etwa den EU-Aktionsplan „CARS 2020“ dort werden z.B. die Grenzwerte für den CO2-Ausstoß von europäischen Autos definiert.
Für die IT-Branche gibt es eine Independent Regulators Group (2008) und einen Body of European Regulators for Electronic Communications (BEREC, 2009). Für den Energiebereich etwa die Regulierungsbehörden CEER (Council of European Energy Regulators, 2003), die ERGEG (European Regulators Group for Electricity and Gas, 2003) und die ACER (Agency for the Cooperation of Energy Regulators, 2007).
Man kann ein Tätigkeitsfeld der Europäischen Kommission nach dem anderen durchgehen, vor allem auch den Bereich der Finanzdienstleistungen – überall werden Entscheidungen getroffen oder Normen festgezurrt, die die Abgeordneten bestenfalls noch pauschal abnicken können.
Da sie auf europäischer Ebene abgestimmt sind, gibt es in den seltensten Fällen eine Chance sie zu verändern, abzulehnen traut man sich solche Vorgaben ohnehin nicht mehr, haben doch viele andere Staaten schon zugestimmt.
Das älteste und grundlegendste Recht des Parlaments, nämlich das Budgetrecht, haben die Parlamente selbst, wenn nicht ausgehebelt, so doch zumindest halbiert, nämlich durch die Verankerung der sog. „Schuldenbremse“ im Grundgesetz und teileweise auch in den Landesverfassungen.
Die Schuldenbremse heißt ganz praktisch, ein weitgehendes Verbot der Kreditfinanzierung von öffentlichen Staatsaufgaben.
Ich will nicht missverstanden werden, ich verteidige keineswegs hohe öffentliche Schulden, aber mit der „Schuldenbremse“ wurde ja kein Konzept zum Schuldenabbau vorgelegt, sondern eine bestimmte ökonomische Lehre, nämlich die „angebotsorientierte“ Wirtschaftstheorie quasi mit Verfassungsrang ausgestattet und eine verfassungsrechtliche Barrikade gegen eine alternative nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik errichtet. Das Parlament, der Souverän beschnitt sich seiner finanzpolitischen Souveränität selbst. Von da an, wurde die „Alternativlosigkeit“ zum unüberwindbaren politischen Argument.
Konjunktursteuerende finanzpolitische Maßnahmen wurden damit weitgehend unmöglich gemacht. D.h. eine keynesianische Wirtschaftspolitik (antizyklische Fiskalpolitik), also eine Erhöhung des realen Sozialprodukts durch Staatsausgabensteigerungen in einer Rezessionsphase wurde auf ein Minimum begrenzt.
An der Einführung und Verankerung der „Schuldenbremse“ in der Verfassung lassen sich die allgemeinen Beschreibungen von Colin Crouch wie durch ein Brennglas betrachten. Nämlich
Ein Grund dafür, dass das gelingen kann, ist, dass die politisch relevanten Themen in den Medien von einer sehr „kleine(n) Zahl außerordentlich reicher Individuen“ (Crouch, a.a.O., S.68) kontrolliert wird, schreibt Crouch.
Doch der Reihe nach:
Die Hypothese einer postdemokratischen Entwicklung kann nur verstanden werden, wenn die wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in den Denk-Kontext genommen werden. Deswegen erlauben Sie mir einen knappen und zugespitzten Rückblick:
Mit den beiden Ölpreis-Krisen 1973 und 1979 ging in Kontinentaleuropa und vor allem in Deutschland ein Leitbildwechsel der Wirtschafts- und Finanzpolitik einher.
Der Keynesianismus, eine in der Nachkriegsphase herrschende und auch praktizierte ökonomische Lehre, wonach – verkürzt gesagt – die Nachfrage der entscheidende Einflussfaktor für die Produktion und die Beschäftigung ist und – unter der Annahme eines grundsätzlich instabilen Marktes – dem Staat bei der Steuerung der Nachfrage eine aktive Rolle in der Konjunkturpolitik zukommt, verlor seine Strahlkraft und seine wirtschaftspolitische Dominanz in Kontinental-Europa.
Mit dem Schlagwort „Globalisierung“ als politischem Hebel setzte sich eine „angebotsorientierte“ ökonomische Lehre durch, wonach im internationalen „Standortwettbewerb“ vor allem die Kosten der Angebotsseite der Wirtschaft über Wachstum und Beschäftigung entscheiden. Crouch nennt den Begriff Globalisierung ein „weitgehend unhinterfragtes Klischee“ (a.a.O., S.46) und sieht darin eher eine Verschleierung der Tatsache, dass die globalen Unternehmen und Finanzstrukturen den nationalstaatlich organisierten Demokratien ihre Interessen aufzwingen wollen.
Hinter der „Globalisierung“ steckte etwa konkret die Drohung mit Kapitalflucht und Standortverlagerung von Unternehmen ins Ausland, sofern nicht die Lohnkosten, die Steuern und die Abgaben im Inland gesenkt würden. Wie sagte doch der Chef von Volvo in den 80-er Jahre: Schweden braucht Volvo, aber Volvo braucht Schweden nicht. Jetzt wo Deutschland mit seinen riesigen Exportüberschüssen in der Kritik steht, hört man von der Verlagerung von Arbeitsplätzen nicht mehr so viel. Im Gegenteil, wir haben vor allem unseren europäischen Nachbarn durch deren Leistungsbilanzdefizite Arbeitsplätze genommen.
Auf finanzpolitische staatliche Interventionen in den Wirtschaftsprozess soll nach dieser Auffassung weitestgehend verzichtet werden. „Starve the Beast“ oder „hungert den Staat aus“ war der Schlachtruf des Thatcherismus und der Reaganomics. Bei uns plädierte etwa der „Vater der Wirtschaftsweisen“ Herbert Giersch für eine bewusste Schaffung von Sachzwängen durch das „Abmagern des Staates“. Der Bertelsmann-Patriarch Reinhard Mohn jubelte 1996 in einem Stern-Interview: “Es ist ein Segen, dass uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang.”
Mit dem sog. Lambsdorff-Papier, dem „Scheidebrief“ für die sozial-liberale Koalition im Jahre 1982 wurde der Grundkonsens einer Sozialen Marktwirtschaft als Errungenschaft eines europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells – in Deutschland auch „rheinischer Kapitalismus“ genannt – aufgekündigt. An dessen Stelle trat das Credo: Der Markt kann alles besser als der Staat, der freie, möglichst unregulierte Wettbewerb ist das beste und effizienteste Steuerinstrument auf allen Politikfeldern, Privatisierung, Deregulierung, Flexibilisierung wurden zu leitenden politischen Parolen. Um die Angebotsseite, also die Unternehmensseite zu stärken, sollen die Löhne, die Sozialabgaben und die Unternehmenssteuern gesenkt werden.
Darunter muss notwendiger Weise auch der Sozialstaat, der den größten Anteil im öffentlichen Haushalt ausmacht, leiden.
Natürlich gibt es wissenschaftliche Differenzierungen innerhalb dieser Glaubenslehre, in ihrer Grundrichtung wird sie auch unter dem Begriff „Neoliberalismus“ zusammengefasst.
Der einzelwirtschaftlich Betrachtungshorizont drang auf alle Politikfelder vor, in die Sozialpolitik (z.B. die Abgaben für die sozialen Sicherungssysteme wurden zu sog. Lohnnebenkosten), in die Wissenschaftspolitik (Stichwort: „unternehmerische Hochschule“), das New Public Management hielt auch in der Kulturpolitik, ja sogar in die Kirchen Einzug.
Mit der „Ökumenische Sozialinitiative“ unter dem Titel „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ vom Frühjahr dieses Jahres haben auch die beiden Kirchenleitungen ihren Frieden mit den neoliberalen Reformen geschlossen. Wirtschaftliches Handeln und soziales Leben würden von den „Triebkräften der Globalisierung“ bestimmt (S. 7). Ein „dramatischer demografischer Wandel“ stelle „unsere sozialen Sicherungssysteme auf eine große Belastungsprobe“ (S. 9). Die „Generationengerechtigkeit“ würde in Zukunft eine wichtige Dringlichkeit bekommen (S. 21). Es wird die Standortdebatte und die Wettbewerbsideologie nachgebetet, wonach „die Nationalstaaten im internationalen Wettbewerb“ stünden (S. 7). Usw. usf.
Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung nannte diesen Prozess in seinem Büchlein „Kein schöner Land“ eine „Verbetriebswirtschaftlichung“ der Gesellschaft.
Es ist nur logisch, dass eine Lehre, die den Staat als aktiven Akteur in der Wirtschaft zurückdrängen will, nicht nur auf Steuersenkungen – natürlich vor allem für die Unternehmen – drängt, sondern darüberhinaus dem Staat finanzpolitische Fesseln anlegen will. Eine „Schuldenbremse“ ist dabei ein effektives Mittel. Die Eindimensionalität der ökonomischen Denkwelt der sprichwörtlichen „schwäbischen Hausfrau“ ist zum herrschenden Weltbild der gesellschaftlichen Eliten geworden.
Die Ergebnisse dieses Leitbildwechsels im Verlauf der letzten drei Dekaden kennen Sie alle: Shareholder Value, der Finanzmarkt als Casino, Schwächung der Gewerkschaften, Stagnation der Reallöhne seit den 90-iger Jahren, Teilprivatisierung der Altersvorsorge, Selbstbeteiligung an den Gesundheitskosten, Zerstörung der Arbeitslosenversicherung durch den Absturz in die Sozialfürsorge von Hartz IV in der Regel nach einem Jahr Arbeitslosigkeit , 43 Prozent atypische Beschäftigung mit Teilzeit, Leiharbeit und Minijobs, Ausbreitung des Niedriglohnsektors, zunehmende Spaltung der Gesellschaft in arm und reich.
Wer einer großen Zahl, ja sogar der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger solche Opfer abverlangt, muss, um Loyalität zu gewährleisten, die öffentliche Meinung in seinem Sinne prägen.
Wie diese Demokratie „von oben“ funktioniert lässt sich gleichfalls an der Einführung der Schuldenbremse gut demonstrieren.
Die „Schuldenbremse“ wurde 2009 sowohl im Bundesrat als auch im Bundestag mit der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit beschlossen. Art. 109 und Art. 115 GG wurden geändert und traten mit dem Haushaltsjahr 2011 in Kraft. Durch Neuregelung wird das Ziel angestrebt, die Nettokreditaufnahme des Bundes auf maximal 0,35% des BIP zu begrenzen und ab dem Jahr 2016 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. (Länder 2020)
Das Vorhaben war zu Beginn der Debatte heftig umstritten, doch dann kam die Finanzkrise. Die staatliche Verschuldung stieg 2009 auf 74,5% gemessen am Bruttoinlandprodukt.
Damit wurde die politische Barriere von 60%, die schon der Vertrag von Maastricht aufstellte, klar gerissen. In ihrer Neujahrsansprache für das Jaher 2009 mahnte die Kanzlerin, dass „wir über unsere Verhältnisse“ lebten. Die Arbeitgeberlobby, die schon immer den Staat zurückschneiden wollte, startete eine regelrechte Kampagne für eine „Schuldenbremse“. „Wer Staatsausgaben kürzt, wird mit Wachstum und Arbeitsplätzen belohnt“. Angeblich würden die Finanzierungskosten für die Unternehmen steigen, weil sich der Staat immer mehr Geld auf dem Kapitalmarkt leihe. Staatsschulden führten zu einem Vertrauensverlust der Anleger. So oder so ähnlich lauteten die Parolen.
Einer der lautstarksten Protagonisten für die „Schuldenbremse“ war die vom Arbeitgeberverband der Metall- und Elektroindustrie mit jährlich mit bis zu 10 Millionen Euro ausgestattete PR-Agentur „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM). In kaum einer Talk-Show fehlte einer ihrer Botschafter oder Kuratoren[1], die dort natürlich nicht als Lobbyisten, sondern als „Experten“ vorgestellt wurden. Von der Bild-Zeitung, über die marktliberalen Wirtschaftsredaktionen von FAZ, Süddeutsche Zeitung und schon gar von den konservativen Blättern des Springer-Konzerns haben schließlich nahezu alle Leitmedien für die „Schuldenbremse“ Stimmung gemacht.
Kritische Stimmen, wie etwa das Mitglied des Sachverständigenrats Peter Bofinger wurden in den Medien allenfalls am Rande erwähnt. Bofingers Warnung, „Die Schuldenbremse gefährdet die gesamtwirtschaftliche Stabilität und die Zukunft unserer Kinder“, wurde nicht mehr gehört. Man kann so weit gehen und sagen, dass im gesamten politischen Entscheidungsprozess keine Auseinandersetzung oder keine Debatte über Positionen stattfand, die dem neoliberalen Standpunkt widersprachen. Crouch spricht von einem „Verfall der Kommunikationsmöglichkeiten“.
Kaum jemand fragte noch danach, wie es zu diesem Schuldenanstieg tatsächlich gekommen ist. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank vom April 2010 waren bis Ende 2009 für die Rettung der Banken (IKB, Commerzbank, HRE, etc.) in den Jahren 2008 und 2009 schon Stützungskosten in Höhe von 98 Milliarden Euro angefallen. Die Ausgaben des Bundes für die im Kampf gegen die Finanzkrise geschnürten Konjunkturpakete hatten ein Volumen von 62 Milliarden Euro.
Es ist ein schlagendes Beispiel für eine gelungene Gehirnwäsche, dass nahezu in der gesamten veröffentlichten Meinung, die „Finanzkrise“ und deren Belastungen für die öffentlichen Haushalte in eine „Staatsschuldenkrise“ umgedeutet werden konnte.
Das ist geradezu absurd.
Der Kapitalismus wäre doch vor die Wand gefahren – wenn ihn die Staaten nicht gerettet hätten. Als wäre ein kompletter Gedächtnisverlust eingetreten, waren plötzlich nicht mehr die Banker oder das Finanzkasino in der Kritik, sondern der Staat und die Politik wurden als die Bösen abgestempelt und nicht zuletzt „Wir“, weil „wir“ angeblich „über unsere Verhältnisse gelebt“ hätten. Statt dass die Politik die Spekulanten abstrafte, straften die Finanzmärkte die Regierungen ab, weil sie „schlecht gewirtschaftet“ hätten.
Aus einer Bankenkrise wurde eine Staatsschuldenkrise. Weil die Staaten den Banken ihre Schulden abgenommen haben. Weil der konjunkturelle Einbruch Milliarden an Steuerausfällen nach sich zog. Und weil die Rezession mit milliardenschweren Konjunkturprogrammen bekämpft werden musste.
Die Umdeutung der Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise, war einer der wichtigsten Hebel, die Schuldenbremse in den Verfassungsrang zu heben.
Mit der Schuldenbremse zahlen letztlich die Steuerzahler die staatliche Verschuldung durch die Finanzkrise ab, sei es durch ihre Steuern, sei es durch Einsparungen bei den Sozialleistungen.
Nebenbei bemerkt, der Umgang mit der Finanzkrise zeigt, wie unerschütterlich der Glaube an die heilbringende Funktion der Märkte ist:
Da hat die Finanzkrise ein eklatantes Versagen „der Märkte“ mit katastrophalen Folgen erwiesen, aber der Politik ging es bei der Krisenbewältigung nur um ein Ziel, nämlich das „Vertrauen der Märkte“ zurückzugewinnen.
Die anonymen, angeblich objektiven, effizienten oder alternativlosen „Märkte“ wurden sofort wieder zur höchsten Instanz erhoben worden: Was kein Parlament schafft, die „Märkte“ schafften es: Sie trieben Regierungschefs aus ihren Ämtern, und setzen ihnen genehme Regierungen ein, sie zwingen Parlamenten drastische Sparbeschlüsse auf, die nicht nur die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verarmen, sondern – noch viel schlimmer – ganze Volkswirtschaften gegen die Wand fahren lassen.
Angela Merkel spricht ganz offen von „marktkonformer Demokratie“ und meint damit nichts anderes, als dass die Politik das zu exekutieren hat, was die „Finanzmärkte“ angeblich verlangen.
Die politische Durchsetzung der „Schuldengrenze“ ist ein Paradebeispiel, wie mächtige wirtschaftliche Interessengruppen, die Politik für ihre instrumentalisieren und die Bürgerinnen und Bürger beeinflussen, ja man muss es sogar manipulieren nennen. Die Logik dieser Politik beruht auf Lobbyarbeit, die nötigen Ressourcen und Macht und nicht auf der klügeren Argumentation (so Crouch in der taz – Nur die Reichen können es sich leisten, Politik auf diese Weise zu „kaufen“ meint Colin Crouch)
Der Neoliberalismus setzt bei weitem nicht so sehr auf freie Marktwirtschaft setzt, wie es seine Theorie behauptet. Stattdessen beruht er auf dem politischen Einfluss von Großkonzernen und Banken (Colin Crouch in Blätter für deutsche und internationale Politik).
„Der Neoliberalismus ist ein Phänomen der großen internationalen Konzerne. Die List ist, dass sie den freien Markt propagieren, aber gleichzeitig diesen Markt beherrschen, so dass es keinen freien Markt gibt. Die großen Konzerne haben eine starke Verbindung zu der Politik, was ja ganz marktwidrig ist. Das ist die Lüge.“)
Die mediale Inszenierung spielte mit der Urangst der Menschen vor Verschuldung, man baute die Drohkulisse der „Globalisierung“ auf und man führte mit geradezu populistischer Rhetorik die moralische Kategorie der „Generationengerechtigkeit“ ein.
Jeder Mensch hat Angst vor Verschuldung. Schon das Wort sagt, wer Schulden hat, hat auch Schuld. Von daher war beim normalen, volkswirtschaftlich nicht geschulten Menschen eine Grundsympathie für einen Schuldenabbau und für das Denken im Horizont der „schwäbischen Hausfrau“ vorhanden, an die die Kampagne für die „Schuldenbremse“ anknüpfen konnte.
Auf den Stimmzetteln der Volksabstimmung zur „Schuldenbremse“ in Hessen stand fett gedruckt: „Gesetz zur Änderung der Verfassung…in Verantwortung für kommende Generationen“ [PDF – 4.8 MB].
Klar, durch die Verschuldung heute vererbt die heutige Generation die Schulden an die kommende. Aber was ist eigentlich mit den Forderungen der Kreditgeber gegen den Staat?
Was nämlich mit diesem moralischen Appell an die Verantwortung für unsere Kinder und Kindeskinder unterschlagen wird, ist die Tatsache, dass jetzt und in allen Zeiten den Staatsschulden Gläubigerpositionen in gleicher Höhe gegenüber stehen. Nehmen diejenigen, bei denen der Staat sich verschuldet, ihre Forderungen (und die Zinsen) mit ins Grab? Sicher nicht, denn dann wären ja auch die Schulden weg. Wahr ist: Auch die Forderungen werden vererbt. Die Frage der Staatsverschuldung kann schon logisch keine Frage der Generationengerechtigkeit sein, da immer Forderungen und Schulden zugleich vererbt werden. Schulden sind also kein Problem zwischen Alt und Jung, sondern zu jedem Zeitpunkt zwischen Arm und Reich.
Es ist eine ziemlich banale Erkenntnis, dass Wenigverdiener weniger sparen und weitaus seltener Staatsanleihen kaufen können als Besserverdiener. 30 % aller Haushalte haben gar kein Erspartes und 10 % sind sogar verschuldet. Die Mittelschicht spart bis zur Schmerzgrenze für das Abtragen ihrer Häuslekredite. Sparen und damit auch Geld in Staatsanleihen anlegen vermögen vor allem die einkommensstarken oberen Perzentile der Haushalte. (Jens Berger, Wem gehört Deutschland? S. 137)
Wenn ein Wohlfahrtsstaat demontiert wird, seine Transferleistungen für Bedürftige gesenkt und die gültigen Anspruchsvoraussetzungen verschärft werden, obwohl der Kuchen größer und der gesellschaftliche Reichtum zunimmt, kann doch schon aus Gründen einfacher Logik weder von sozialer noch von Generationengerechtigkeit die Rede sein. Denn offenbar findet einfach nur eine Umverteilung statt und diese wird in die Zukunft fortgeschrieben.
Vor dem Eingang des Gebäudes des sog. „Bundes der Steuerzahler“ in Berlin läuft eine Schuldenuhr, als ich am letzten Mittwoch im Internet nachgeschaut habe, beliefen sich die Staatsschulden auf über 2,1 Billionen.
Die Gewerkschaft ver.di kam vor einiger Zeit auf die Idee, der Schuldenuhr eine Reichtumsuhr entgegenzustellen. Danach betrug am selben Abend das Nettoprivatvermögen in Deutschland knapp 7,9 Billionen und das reichste Zehntel der Bevölkerung besitzt davon über 5 Billionen. Jens Berger hat in seinem Buch „Wem gehört Deutschland?“ ausgerechnet: Würde man ausschließlich mit dem Vermögenszuwachs der deutschen Millionäre die Staatsschulden zurückzahlen, wäre der Bund nach sechs Jahren und zweieinhalb Monaten schuldenfrei – und die Millionäre wären immer noch Millionäre.
Mit dem moralischen Appell an die Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, ist es gelungen, von der Ungleichheit der Vermögensverteilung innerhalb der heutigen und zugleich auch der künftigen Generationen abzulenken.
(Wir haben es aber mit einer intragenerativen Belastung (also der zwischen Arm und Reich) und nicht mit einer intergenerativen Belastung durch die Staatsverschuldung zu tun.)
Und so lange der Staat das Geld nicht von denen zurückholen darf, auf das er durch den jahrelangen „Steuersenkungswahn“ (Rudolf Hickel) verzichtet hat, bleibt natürlich nur die Lösung, die kleinen Leute via Kürzung des Sozialhaushalts dafür sorgen zu lassen, dass der Staat Schulden abbauen kann.
Wenn denn ein Schuldenabbau durch einen weitgehenden Verzicht auf eine aktive Konjunkturpolitik, rückläufige staatliche Investitionen bei gleichzeitigen Einsparungen bei den Transferleistungen überhaupt erfolgreich sein kann.
Wir können es aktuell vielfach in vielen Ländern beobachten, es stimmt eben gerade nicht, dass der Sparwille der „schwäbischen Hausfrau“ zum Sparerfolg führen muss und gleichzeitig dem Land und seinen Menschen gut tut. Hans Eichel wurde als Bundesfinanzminister „Sparkommissar“ genannt. Der „Eiserne Hans“ nahm sich vor, eisern zu sparen. Die Verschuldungsquote stieg jedoch von 2000 bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahre 2005 von 60 auf 68%.
Wenn die Konjunktur kaputt gespart wird, dann wird trotz ehrenwertem Sparwillen am Ende weniger gespart als wenn die Konjunktur und damit Steuereinnahmen befördert worden wären.
Bei uns ist übrigens durch die Regierungen Kohl und Schröder und ihre ständigen Steuersenkungen zu Gunsten der Wirtschaft und der Bessergestellten bewiesen worden, dass Staatsschulden auch durch Steuersenkungen entstehen. Nicht allein, aber auch damit.
Wir habe gerade letzte Woche zum Abschluss der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) wieder einmal diesen Streit aufflammen sehen. Während die praktisch die gesamte Welt um uns herum zunehmend auf Deutschland Druck macht, dass unsere Regierung angesichts des inzwischen auch bei uns schwachen Wachstums investiert, klammert sich unser Finanzminister an die „Schwarze Null“ im nächsten Jahr.
Wehe wenn die Konjunktur noch weiter einbricht, dann hat der Staat nämlich weniger Steuereinnahmen und Mehrausgaben etwa wegen mehr Arbeitslosen und womöglich gerät die Wirtschaft gar in eine Deflation.
Ich habe nun am Beispiel der Einführung der „Schuldenbremse“ – vielleicht bis zu Ihrem Überdruss – zu zeigen versucht, wie einerseits „Demokratie von Oben“ funktioniert und anderseits Demokratie oder politische Entscheidungsfreiheit verbarrikadiert wird.
Das Vorgehen beim Aufbau solcher Barrikaden ist immer das Gleiche. Man gibt ein paar allgemeine, oftmals als hehre Ziele verpackte und vor allem populistisch eingängige Parolen vor, schafft damit ein unveränderbar erscheinendes Prinzip und wenn dann konkrete politische Entscheidungen anstehen, argumentiert man, dass man dabei sich den unumstößlichen Vorgaben oder Zwängen unterordnen müsse.
Die Politik schafft sich damit auf zentralen Feldern selber ab. Die Demokratie wird hinter die von der Politik aufgebauten Barrikaden eingesperrt.
Die als gewichtiges Argument für die Einführung der „Schuldenbremse“ schon genannte Barriere, der Euro-Stabilitätspakt, wurde mit dem Ziel begründet, für einen „stabilen Euro“ zu sorgen. Wer könnte sich schon gegen eine stabile Währung aussprechen.
Dass damit eine souveräne und vor allem aktive Finanzpolitik der europäischen Staaten zur Überwindung gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte eingeschränkt, ja sogar unmöglich wird, wurde nicht gesagt. Man hat schlicht geleugnet, dass mit dem Maastricht-Vertrag ganz Europa ein Verzicht auf makroökonomische Politikinstrumente auferlegt und auf eine „Sparpolitik“ festgelegt wurde, mit der dann nachfolgend Einschnitte in den Wohlfahrtsstaat – genannt „Strukturreformen“ – als unumgänglich erklärt werden konnten. In nahezu jeder Haushaltsdebatte seit 1992 wurde die Einhaltung des Maastricht-Vertrages als nicht mehr in Frage zu stellende Begründung für die Kürzung von staatlichen Leistungen (vor allem im Sozialbereich) herangezogen.
Zum Glück – könnte man sagen – ist der Stabilitätspakt von den meisten europäischen Ländern nicht eingehalten worden. Wäre er in der Finanz- und Wirtschaftskrise eingehalten worden, hätten keine defizitfinanzierten Konjunkturprogramme aufgestellt, keine Kurzarbeiterzuschüsse bezahlt werden können oder es hätten keine Schulden für Rettungsschirme aufgenommen werden können und wir wären mit dieser Prinzipientreue vermutlich in einer Katastrophe gelandet.
Man muss aber nicht auf die europäische Ebene zu gehen, um den Rückzug der Politik festzustellen. Nehmen wir die Wissenschaftspolitik. In fast allen Länderhochschulgesetzen wurde die „entfesselte“ oder „unternehmerische“ Hochschule festgeschrieben. Unter dem Banner der Freiheit bzw. der Autonomie wurden die Hochschulen statt den „Gesetzen“ des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, den anonymen „Gesetzen“ des Wettbewerbs auf dem Wissenschaftsmarkt (Stichwort: Drittmitteleinwerbung) und des Wettbewerbs auf dem Ausbildungsmarkt (Stichwort: ehemals Einwerbung von Studiengebühren) unterstellt. Das Parlament ist allenfalls noch der Zahlmeister, der „Zuschüsse“(!) an die Hochschulen.
Auch die im europäischen Vertragsrecht festgeschriebene Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit wurde mit der Freiheit von Unternehmen und gewerblich Selbständigen und mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer begründet. Wer wollte diesem Pathos der Freiheit schon etwas entgegensetzen. Freiheit ist ja immer gut.
Es ging aber eigentlich nur um die Einführung der Dominanz liberaler Wirtschafts(freiheits)rechte, mit denen nach ihrer vertraglichen Verankerung auch mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofs die nationale Politik aus übergeordnetem Recht gezwungen war, nationale Standards am Arbeitsort etwa bei Arbeits-, Qualifikations- und Sozialvorschriften, bei Sicherheitsstandards, Gesundheits- und Umweltschutzbestimmungen abzubauen. Von einem Ausbau der sozialen Rechte hat man wenig bemerkt.
Mit der gesetzlich und europarechtlichen Verankerung der Unabhängigkeit der deutschen Bundes- und der Europäischen Zentralbank kommt – man mag das für richtig oder falsch halten – das Misstrauen gegen die Politik geradezu institutionell zum Ausdruck. Hier wurde eine finanzpolitische vierte Gewalt eingeführt.
Oder nehmen Sie das Regime der Troika, also von EU-Kommission, IWF und EZB:
Ohne auch nur den geringsten Gedanken darüber zu verschwenden, was das noch mit Demokratie zu tun hat, wurde verlangt, dass Griechenland und Italien eine „Techniker-Regierung“ (so etwa das Handelsblatt und Bloomberg) mit einem nichtpolitischen Finanzexperten als Regierungschefs brauchten. Und dann wurde eben Loukas Papademos – 8 Jahre lang EZB-Vize – griechischer Ministerpräsident und in Italien wurde der Technokrat und ehemalige EU-Kommissar, Mario Monti, eingesetzt. Gerade so als gäbe es in der Ökonomie nur eine einzige Lösung, die von einem Techniker wie ein Modul in die Politik einzufügen wäre.
Man muss sich nur einmal das Schreiben der EU-Kommission an den italienischen Ministerpräsidenten über die Sparauflagen durchlesen, das in der Zeitung La Republica abgedruckt wurde [PDF – 388 KB]:
Wie ein Befehlsempfänger von einer Besatzungsmacht soll danach die italienische Regierung berichten, ob, wann und wie sie weitere Sparmaßnahmen ergreift und in den Regionen umsetzt, die Privatisierung vorantreibt, das Renteneintrittsalter auf 67 anhebt, die Schuldenbremse in die Verfassung aufnimmt, die Mehrwertsteuer und die Grundsteuer erhöht, die Schulen reformiert, mehr Wettbewerb unter den Universitäten und Studiengebühren einführt, den Kündigungsschutz lockert, die Arbeitslosenversicherung kürzt, den öffentlichen Dienst privatisiert und dort Arbeitsplätze abbaut usw. usf. und leistungsbezogene Besoldung einführt, die Wasserversorgung reformiert, die Kapitalisierung der Unternehmen stärkt (Zulassung von „Heuschrecken“), die Justiz reformiert, die Zahl der Parlamentarier verkleinert und die Regierung effizienter macht.
Egal wie sich das Parlament zusammensetzt und egal wer Regierungschef ist, es gibt ausschließlich noch die Aufgabe, umzusetzen, was die Exekutivkomitees der Finanzmärkte, nämlich die EU-Kommission und der IWF befehlen, durchs Parlament zu peitschen und den Sparbeschlüssen dadurch noch ein demokratisches Mäntelchen zu verpassen.
Oder nehmen wir ein ganz aktuelles Beispiel für eine mögliche Selbstabschaffung der Politik oder von demokratischen Entscheidungen: Das transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP.
In diesem Abkommen sind angeblich mit privaten Anwälten besetzte Schiedsgerichte vorgesehen, vor denen Firmen Staaten verklagen können, auch dann, wenn sie durch demokratisch beschlossene Regeln Profite einbüßen könnten.
Es soll ein Investitionsschutz festgeschrieben, also „eine Art Grundrecht auf ungestörte Investitionsausübung etabliert werden“ schreibt Heribert Prantl und fügt hinzu „ich befürchte, dass hier Rechtsstandards, womöglich auch Grundrechtsstandards geschleift werden.“
Und er gibt ein Beispiel:
„Eine Firma aus dem Ausland will viel Geld investieren und findet bestimmte Rechtszustände vor. Sollte nun etwa der Bundestag auf die Idee kommen, die Umweltschutzvorschriften zu verschärfen oder bestimmte Arbeitsschutzrechte arbeitnehmerfreundlicher zu gestalten, kann der Investor argumentieren, dass dies seine Investitionen in einem unvorhergesehenem Maße beeinträchtigt. Und dann soll er, so ist es vorgesehen, gegen die neuen Gesetze Klage erheben können. Und über diese Klagen soll dann ein privates Schiedsgericht entscheiden – und den Staat gegebenenfalls zu Milliardenzahlungen verurteilen können.
Das ist ein Eingriff in die Gesetzgebungshoheit, ein Eingriff in die Souveränität, ein Anschlag auf die parlamentarische Demokratie.“
Einen Vorgeschmack, wie das künftig laufen könnte, bieten die Klagen der AKW-Betreiber auf insgesamt 15 Milliarden Schadenersatz, weil die Regierung und Bundestag den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen haben und damit die Gewinne aus der Stromproduktion ihrer Reaktoren weggebrochen sind.
Dabei sind die meisten AKWs schon längst abgeschrieben und waren reine Gelddruck-Maschinen und im Übrigen ist völlig offen, wer die Kosten für den Rückbau der AKWs oder für die sichere Endlagerung trägt.
Ich will hier mit den Beispielen abbrechen. Ich denke auch Sie könnten aus Ihrem Erfahrungsbereich noch eine Vielzahl von Beispielen anführen, wie und wo sich die demokratisch legitimierte Politik aus ihrer Verantwortung zurückgezogen hat.
Auch wenn Sie vielleicht einen solchen Eindruck gewonnen haben: Mit meinem Referat, wollte ich nicht etwa ein Klagelied über den Niedergang der Demokratie anstimmen, sondern ich wollt Sie anstacheln, darüber ins Gespräch zu kommen, wie und womit wir unsere Demokratie wieder mit mehr Leben erfüllen könnten.
Zu viele Menschen vertrauen immer noch darauf, dass die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Medien nicht manipulativ mit ihnen umgehen. Sie glauben, dass in der Regel stimmt, was man ihnen sagt. Sie können sich nicht vorstellen, dass sie systematisch in die Irre geführt werden.
Ich habe in meinem Referat beispielhaft aufzuzeigen versucht, dass das leider ein Irrtum ist.
Folglich sollten wir uns nicht die Schlafmütze des „deutschen Michels“ über Augen und Ohren ziehen, nein, wir sollten wachsam sein und schon gar nicht sollten wir alles glauben, was man uns glauben machen will.
Es ist wichtig, skeptisch zu sein. Wieder zweifeln zu lernen müsste zu einer Tugend werden.
Wenn es Menschen gelänge, hinter die Kulissen zu schauen, dann merkten sie: Was die Meinungsführer sagen, stimmt oft nicht oder widerspricht der eigenen Wahrnehmung. Was die Meinungsführer empfehlen, ist oft erfolglos, und was sie an egoistischer Ideologie fördern, widerspricht der Lebenserfahrung.
Skeptiker, Zweifler, Kritiker in dieser Gesellschaft sind auf gleichgesinnte Partner angewiesen. Zweifeln lernen kann man zwar alleine. Aber ohne Partner und Mitstreiter ist es ausgesprochen mühsam. So wie sich die Propagandisten der herrschenden Meinung in einem informellen Netzwerk gegenseitig stützen, so brauchen auch die Skeptiker ein Netz gegenseitiger Informationen und Hinweise.
Ein wichtiger Partner für die Zweifelnden und für das Gespräch über Alternativen könnten dabei die Kirchen sein.
Sie können sich dabei gewiss sein, dass sie zumindest die latente Sympathie der Mehrheit demokratisch und sozial gesinnter Menschen hinter sich haben…
[«1] Kuratoren und Botschafter u.a.: Hans Tietmeyer, Paul Kirchhof, Oswald Metzger, Silvana Koch-Mehrin etc. Hans Barbier, Florian Gerster, Michael Hüther, Otmar Issing, Jürgen Stark, Roland Berger, Arnulf Baring, Bernd Raffelhüschen, thomas Straubhaar Dagmar Schipanski, Lothar Späth. Am Anfang Wolfgang Clement und jetzt wieder als Kuratoriumsvorsitzender.
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