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Titel: Akademisierung in der Wissensgesellschaft – Wahn oder Notwendigkeit?

Datum: 9. Oktober 2014 um 8:41 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Chancengerechtigkeit, Hochschulen und Wissenschaft
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So lautet das Thema über das ich heute auf der 8. Wissenschaftskonferenz der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mit dem ehemaligen Berliner Senator für Wissenschaft und Forschung, Professor George Turner, in Haltern am See ein „Streitgespräch“ führe.
Im letzten Jahr begann erstmals mehr als die Hälfte eines Altersjahrgangs ein Studium. Der sprunghafte Anstieg der Studienanfängerquote in den letzten Jahrzehnten ging zu Lasten der betrieblichen Berufsausbildung. Seit einiger Zeit hat deshalb eine Debatte über einen „Akademisierungswahn“ und über die Krise der beruflichen Bildung eingesetzt.
Es gibt eine hohe Plausibilität für die These, dass die hohe Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aus dem Ineinandergreifen von beruflicher und akademischer Bildung resultiert. Ist die deutsche Bildungspolitik mit der steigenden Zahl von Studierenden und dem Rückgang der beruflichen Bildung also auf dem Holzweg?
Hierzu meine Thesen, an denen ich mich in der Diskussion orientieren werde. Von Wolfgang Lieb

I.

Die These vom Akademisierungswahn betrachtet Bildung vor allem aus der Perspektive des Arbeitsmarktes, genauer des Fachkräftebedarfs, andere wichtige Bildungsziele werden ausgeklammert. (So auch ausdrücklich die Empfehlungen des Wissenschaftsrats [PDF])

Solche gleichfalls wichtige Ziele sind z.B.:

– das in nahezu allen Landesverfassungen enthaltene Individualrecht auf eine seiner Begabung entsprechende Ausbildung oder etwa die Berufswahlfreiheit nach Art. 12 Grundgesetz,

– die soziale Funktion von höherer Bildung: Ein höherer Bildungsabschluss geht in aller Regel einher mit einem höheren Einkommen und größerer
Arbeitsplatzsicherheit, häufigerer Vollzeitbeschäftigung, längerer Erwerbstätigkeit, mit interessanteren Tätigkeiten mehr Verantwortung und Abwechslung im Beruf, mit einem besseren Gesundheitszustand, einer längeren Lebenserwartung, höherer Lebenszufriedenheit, höherem ehrenamtlichen Engagement, stärkerem politischen Einfluss,

Kurz: ein hoher formaler Bildungsabschluss ist für alle Bereiche des öffentlichen und sozialen Lebens von großer Bedeutung.

– In Deutschland wird viel über „Chancengerechtigkeit“ als Fluchtpunkt aus sozialer Ungerechtigkeit geredet, in kaum einem anderen vergleichbaren Land hängt Bildung aber so stark vom sozialen Hintergrund der Familien ab. So lange viele begabte junge Menschen ihr Potential für höhere Bildung nicht ausschöpfen können, hat man nicht genug Bildungsangebote.

– Debatten über eine „Akademikerschwemme“ treten periodisch immer wieder auf. Die Motive sind oft: Angst vor Statusverlust, Standes- und Elitedenken, angeblicher Niveauverlust („Nicht jeder gehört auf die Uni“), Überforderung der Hochschullehrer in der Massenuni.

– Deutschland ist im OECD-Vergleich nicht etwa ein Bildungsaufsteiger-, sondern ein Bildungsabsteigerland. Nur 19% der jungen Erwachsenen bis 34 sind höher gebildet als ihre Eltern, ein knappes Viertel hat einen niedrigeren Abschluss.

– Jeder der über den Akademisierungswahn klagt, muss sich fragen lassen: Welchen Bildungsabschluss würden Sie sich für Ihr Kind wünschen?

II.

Der Trend zu akademischen Ausbildungen ist kein „Wahn“, also keine Fehlbeurteilung der Wirklichkeit, sondern höhere formale Bildung zahlt sich in Euro und Cent aus:

– OECD: Akademiker verdienen in Deutschland 74% mehr als Menschen ohne Studium. (Die Schere hat sich sogar geöffnet (2000 lag die Differenz bei 45%) [PDF]).

– Die Erwerbslosenquote von Akademikern liegt mit 2,4% nicht nur fast dreimal niedriger als die allgemeine Arbeitslosenquote, sie ist auch nur halb so hoch wie die Quote von Arbeitnehmern mit einer Sekundarausbildung (5,3%). (Bei Erwachsenen ohne einen Abschluss im Sekundarbereich = 13%).

– Auch der Beschäftigungsgrad von Akademikern ist deutlich höher: 88% der Erwachsenen mit Tertiärabschluss, 78% mit einem Abschluss des Sekundarbereichs und nur 57% der Erwachsenen ohne Abschluss des Sek-Bereichs waren im Erhebungsjahr 2012 beschäftigt.
Handwerk hat keineswegs nur „goldenen Boden“ 70% der Niedriglohnbezieher haben einen beruflichen Abschluss (Bosch/Weinkopf/Kalina 2009, 14)

Von einem „akademischen Proletariat“ kann (jedenfalls noch) keine Rede sein.

– Dieses Auseinanderklaffen ist umso bedenklicher, als die Möglichkeit sich hochzuarbeiten in Deutschland sehr gering ist.

– Gäbe es einen Mangel an beruflich gebildeten Fachkräften wirklich, so hätten sich nach allen Gesetzen der Ökonomie die Lohnunterschiede nicht so weit auseinanderentwickeln dürfen.

– So lange die Unterschiede in der Bezahlung, bei den Karrierechancen, bei der beruflichen Rangordnung und bei der gesellschaftlichen Wertschätzung so groß sind, wie derzeit, ist es hohles Pathos wenn die Bundesbildungsministerin von der „Gleichwertigkeit“ von beruflicher und akademischer Bildung redet.

III.

– Es gibt eine hohe Plausibilität für die These, dass die hohe Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aus dem Ineinandergreifen von beruflicher und akademischer Bildung resultiert. Macher, Planer und Erfinder können auf „Augenhöhe“ miteinander kommunizieren.

– Der Bedarf an Fachkräften mit den jeweiligen Abschlüssen lässt sich nur schwer voraus schätzen. Ich erinnere mich noch gut an Debatten in den neunziger Jahren in der Kultusministerkonferenz, wonach 25% der Medizinstudienplätze eingespart werden sollen. Nicht einmal im staatlichen Bereich der Lehrerausbildung gibt es zuverlässige Prognosen.

– Laut WR hat sich der Anteil von Beschäftigten in wissensintensiven Berufen von 1993 bis 2007 von knapp 27 auf knapp 31%, um ein Siebtel erhöht (S. 30) Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat für 2012 auf Grundlage neuer Berufsklassifikationen einen Anteil von 40,8 % der Beschäftigten in wissensintensiven Berufen ermittelt.

– Selbst aus der Perspektive des Fachkräftebedarfs ist der Anstieg der Studienanfängerquote auf etwa die Hälfte (53,2%) eines Altersjahrgangs kein Grund zur Panikmache. Entscheidend für den Arbeitsmarkt ist die Absolventenquote akademischer Bildung und diese liegt derzeit (leider) bei nur 31% eines Altersjahrgangs.
Betrachtet man noch die Schwundquoten vor allem bei Akademikerinnen (u.a. Kindererziehung, Teilzeitarbeit) so ist ein „Akademikerüberhang“ äußerst überschaubar.

Im Gegenteil: Gegenwärtig besteht in 10 der 16 von der Bundesagentur für Arbeit festgestellten Mangelberufen ein Bedarf an Akademikern.

– Wer einen vermeintlichen Bildungsnotstand im Bereich der beruflichen Bildung durch einen noch größeren Bildungsnotstand im Hochschulbereich beseitigen möchte, läuft Gefahr eine totale Bildungskatastrophe auszulösen.

– Wer den Rückgang der Nachfrage nach einer beruflichen Ausbildung beklagt, sollte nüchtern die Fakten analysieren:

+ Es gab einen Reputationsverfall der beruflichen Bildung. (BBIB-Befragung unter Jugendlichen: „Bäcker gleich dumm, ungebildet, arm, anspruchslos, gering geachtet“, so das Image unter jungen Leuten)

+ Dass im letzten Jahr nur noch weniger als die Hälfte eines Altersjahrgangs in der beruflichen Bildung ankommt hat auch damit zu tun, dass von den 816.000 von der Bundesagentur für Arbeit als „ausbildungsreif“ eingestuften Bewerber nur 530.700 einen Ausbildungsplatz bekommen haben. Jeder Dritte Jugendliche ging bei der Suche leer aus.
Insgesamt befanden sich 2013 noch 256.600 Berufsanfänger im sog. Übergangsbereich.

+ Es muss Gründe haben, dass ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen unbesetzten Ausbildungsplätzen und Ausbildungsabbrüchen besteht: Befragung der DGB-Jugend: Viele Betriebe sind nicht „ausbildungsreif“

+ Die Aufstiegschancen sind rückläufig, der Anteil von Akademikern unter den Führungskräften ist in den letzten 3 Jahrzehnten von 30,0 auf 42,8% gestiegen (IAQ)

– Das Jammern über zu wenig beruflich Auszubildende wäre glaubwürdiger,

+ wenn mehr Ausbildungsverträge angeboten würden und mehr Betriebe ausbilden würden

+ wenn die Ausbildungsbedingungen attraktiver würden

+ wenn die Betreuung besser würde

+ wenn die Bezahlung besser würde

+ wenn die Chancen für Jugendliche mit Haupt- und Realschulabschluss verbessert würden (die Hälfte der Ausbildungsberufe sind faktisch für Hauptschulabsolventen abgeschottet)

+ wenn sich Wirtschaft und Politik stärker um die Qualifizierung von 2,2 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 34 (= 15% dieser Altersgruppe) ohne abgeschlossene Berufsausbildung kümmern würden

+ wenn die Wirtschaft Angebote für einen Wechsel in die berufliche Ausbildung (z.B. Verkürzung der Ausbildungsdauer) für die große Zahl an Studienabbrechern machen würde


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