Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Der lange Weg der Eindämmung – ein Weg wohin?
Datum: 24. September 2014 um 10:21 Uhr
Rubrik: Europapolitik, Länderberichte, Medien und Medienanalyse
Verantwortlich: Jens Berger
Im Konflikt um die Ukraine ist es ruhiger geworden. Was verspricht diese Ruhe, was wird, was kann sie halten? Der Russland-Kenner Kai Ehlers[*] analysiert für die NachDenkSeiten die jüngsten Entwicklungen, wirft einen kritischen Blick auf deren Kommentierung in den deutschen Medien und ordnet die Politik des Westens in einen breiteren geostrategischen Kontext ein.
Eine Waffenruhe zwischen den ukrainischen Konfliktparteien wurde vereinbart, sogar die Einrichtung eines dreißig Kilometer breiten waffenfreien Puffers. Die streitenden Parteien ziehen ihre Einheiten hinter diesen Puffer zurück. Das umkämpfte Assoziierungsabkommen zwischen EU und Ukraine wurde von beiden Seiten unterschrieben, soll aber erst 2015 in Kraft treten; aus Rücksicht auf Russland, heißt es, das sonst gezwungen würde, eine bisher nicht bestehende Zollgrenze gegenüber der Ukraine zu errichten. Tatsächlich gilt der Schutz eher der Ukraine, deren Handel durch Errichtung einer Zollgrenze zu Russland sonst einbräche.
Aber weiter: Der ukrainische Präsident Poroschenko hat einen Plan durch das von ihm zuvor bereits aufgelöste Parlament gebracht, demzufolge den aufständischen Teilen der Ukraine zunächst für drei Jahre besondere Autonomierechte, Selbstverwaltung und sogar das Aufstellen eigener Polizeieinheiten zugebilligt werden soll; den an Kämpfen im Osten des Landes Beteiligten wird darin eine Amnestie zugesagt, sofern sie sich nicht schwerer Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung schuldig gemacht hätten. An die Stelle des Bürgerkriegs soll nach Poroschenko‘s Willen am 28./29. Oktober des Jahres die Neuwahl des Parlaments treten und der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur im Osten und im Süden des Landes in Angriff genommen werden.
Die EU schließlich brachte neue Sanktionen gegen Russland auf den Weg, die aber ausgesetzt wurden, um, wie es heißt, Russland die Chance zu geben seinen Friedenswillen unter Beweis zu stellen.
Das alles klingt nach Friedensabsichten, zumindest nach Kriegsmüdigkeit. Wie gern möchte man solchen Meldungen vertrauen können.
Aber zugleich sickern durch die verschiedensten Kanäle Nachrichten in diesen Friedensraum, die das pure Gegenteil beinhalten: Die Waffenruhe wird trotz Friedenspuffer gebrochen. Beide Seiten verdächtigen sich gegenseitig die Waffenruhe lediglich für eine Neuaufstellung ihrer Streitkräfte zu nutzen. Poroschenko bittet in den USA gar öffentlich um Waffenlieferungen und erhält entsprechende Zusagen. NATO-Staaten führen über das schon durchgeführte See-Manöver vor Sewastopol seit Mitte September ein weiteres Manöver in der Westukraine durch. Parallel zur Verschiebung des Assoziierungsabkommens verspricht der scheidende Kommissionspräsident der Europäischen Union, José Baroso, wider besseres Wissen der Ukraine eine Mitgliedschaft in der EU. Auch ohne formelle Unterschrift sind die von EU und IWF aufgestellten Privatisierungs- und Sparanforderungen schon längst ins Programm der Regierung Jazenjuk eingegangen. Poroschenkos Zugeständnisse an die Aufständischen werden von einer Phalanx nationalistischer Hardliner kategorisch abgelehnt – angefangen bei dem nach rechts außen gerückten Premier Jazenjuk, über Julia Timoschenko bis hin zu dem offenen Rechten Oleh Liashko und den Kämpfern des „Rechten Sektors“. Die nationalistischen Hardliner beider Seiten, Freiwillige wie angeworbene Söldner sind nicht gewillt, der Entspannungslinie zu folgen, gleich ob von Poroschenko oder von Putin gefordert. Sie verfolgen weiter ihre Eskalationsstrategien. Ob diese Konfrontation in einen parlamentarischen Wahlkampf und eine Stabilisierung der innenpolitischen Situation der Ukraine, zumindest eine demokratische Fassade überführt werden kann oder ob doch die Waffen entscheiden, ist vollkommen offen.
Und schließlich: trotz Meldungen, dass die „russischen Besatzer“ – die seit Monaten als Gespenst durch die Medien marschieren – begonnen hätten sich aus der Ukraine zurückzuziehen, werden die soeben von der EU beschlossenen neuerlichen Sanktionen zwar aufgeschoben, ihre Anwendung und weitere zukünftige Verschärfung wird jedoch angedroht, falls Russland nicht von seinem „Aggressionskurs“ Abstand nehme. Die öffentliche Kampagne gegen die von Russland angeblich ausgehende „Bedrohung der Zivilisation“ geht mit unverminderter Heftigkeit auf allen Ebenen weiter.
Hören wir exemplarisch für diesen generellen Tenor die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (vom 19.09.2014) mit einem Artikel, der sich selbst als Programm eines friedlichen Lösungsweges verstanden wissen will:
Unter der Überschrift „Funktioniert die Eindämmung? Der Westen geht in der Ukraine den langen Weg des Systemwettbewerbs“ war begleitend zu den Minsker Waffenstillstandsverhandlungen und Poroschenkos allerneuestem Friedensplan, gestützt auf den scheidenden polnischen Außenminister Sikorski zu lesen, Kiew und Brüssel hätten sich „unterworfen“; das „Argument der Gewalt“ habe sich durchgesetzt. Die Aussetzung des Assoziierungsabkommens, ebenso wie der „besondere Status“ für die Ost-Ukraine sei eine „schleichende Legalisierung der von Russland geschaffenen Tatsachen“, sei ein „doppeltes Zurückweichen“ der EU und der Ukraine vor der Gewalt Russlands. Nun gehe es darum aus diesen Tatsachen die Konsequenzen zu ziehen. Entsprechende Perspektiven seien auf der Konferenz „Yalta European Strategy“[1] deutlich geworden. Dort habe Poroschenko, ausgehend von der Krim, von einer „Rückeroberung der verlorenen Gebiete“, die er noch im August verfolgt habe, Abstand genommen und habe stattdessen erklärt, dass die Ukraine die Einwohner der Krim „auf lange Sicht“ für sich gewinnen könne, weil sie ihnen „als europäische Nation das bessere Leben bieten werde als Russland.“
Soweit die neue Friedensperspektive. Klingt harmlos, weniger harmlos klingen die daran geknüpften Schlüsse, die dieser Einleitung folgen:
„Damit diese Rechnung aufgeht“ schreibt die FAZ nämlich weiter, „sind mehrere Voraussetzungen nötig. Zunächst muss der militärische Konflikt ‚eingefroren‘ werden. Dann muss die verbliebene Ukraine mit ihrem Kurs auf Europa in den kommenden Jahren zum Erfolgsmodell werden. Deutsche Fachleute reden von einem ‚Schaustück‘, das bis ins Donbass und auf die Krim und vielleicht bis nach Moskau strahlt. Schließlich muss der Westen bereit sein, Russland lange, vielleicht sehr lange, durch Wirtschaftssanktionen von neuer Aggression abzuschrecken.“
Das „Einfrieren“, heißt es dann weiter in der FAZ, sei schon im Gange. Der Konflikt um die „europäische Grundentscheidung“ scheine durch die Verschiebung des Abkommens vorläufig entschärft. Bleibe noch „der Streit ums Gas“. Manches erinnere an Rezepte des Kalten Krieges; dann wörtlich: „Wo ein ‚Rollback‘ nicht möglich ist, soll ‚Containment‘ Niederlagen abwenden. Kompromiss und Härte sollen Hand in Hand gehen, zuletzt soll die Strahlkraft des westlichen Modells entscheiden. Fehlt am Ende nur eines: ein Plan für den Fall, dass Putin es nicht dazu kommen lässt und weiter auf Panzer setzt.“
Damit ist klar: Nicht Russland, Putin ist also der Gegner. Zu diesem Programm passen Veröffentlichungen in „Spiegel online“, so z.B. vom Donnerstag, 11. 09.2014. Unter der Überschrift „Wenn Putin stürzt“ wird dort offen über die Möglichkeit eines Regime Changes in Russland spekuliert:
„Im Frühjahr war ich Zeuge der Unterhaltung eines ukrainischen Offiziers mit einem westlichen Diplomaten,“ schreibt Spiegel-Online-Redakteur Benjamin Bidder: „Der Ukrainer hatte eine Bitte: Der Westen solle helfen, Putin zu stürzen. Der Diplomat sagte: ‚Wir werden es versuchen‘. Wahrscheinlich wollte er den Ukrainer nicht vor den Kopf stoßen. Die Frage stellt sich aber schon: Soll der Westen auf ein Ende der Ära Putin hoffen? Könnte er es beschleunigen, durch Druck und Sanktionen?“
Zwar beantwortet Bidder die selbst gestellte Frage mit einem ‚Nein‘, dies allerdings erst, nachdem er die von Russland ausgehende Gefahr noch einmal in schwärzesten Farben ausgemalt hat: Russlands Wirtschaft zu ruinieren, erscheine nicht schwer. Putin habe selbst durch seine verfehlte Politik dafür gesorgt. Dazu kämen politische Probleme. Auf Massendemonstrationen 2011 habe Putin mit mehr Zensur und Prozessen gegen die Opposition reagiert. Jetzt herrsche Ruhe, aber die Missstände gebe es noch immer. Zweifellos finde Putin zurzeit Zustimmung im Lande. Aber es gehöre nicht viel Fantasie dazu, sich Putins politisches Ende auszumalen.
Putin sei unterwegs auf einem “Highway to hell” zitiert Bidder die “Welt”. Freuen könne sich darüber aber nur, wer ignoriere, dass die größte Atommacht der Welt ihren Nachbarn auch ohne Putin das Leben zur Hölle machen könne. Auch Revolution sei keine realistische Perspektive. Es bleibe nur die Wahl zwischen lauter schlechten Alternativen. „Die Nato muss über Aufrüstung diskutieren, allein schon, um sich zu wappnen für das, was nach Putin kommen könnte.“
Nach solchen Reden folgt nur noch der Schlußsatz: Der Westen müsse aber auch „möglichst bald wieder auf Moskau zugehen, reden und Kompromisse anbieten. Nicht, weil Putin das verdient hätte, sondern weil eine Isolation Russlands mehr Probleme schafft, als sie lösen würde.“
Visionen dieser Art, die den aktuellen Konflikt um die Ukraine durch eine Kombination von „Eindämmung“ und Regimewechsel lösen wollen, sind jedoch weder auf dem Mist eines FAZ-, „Spiegel-online“- oder „Welt“-Redakteurs gewachsen, noch auf dem anderer vergleichbarer Multiplikatoren, sondern – bedauerlich, es wieder und wieder sagen zu müssen – auf dem des US-Strategen Sbigniew Brzezinski, des ehemaligen Sicherheitsberaters des US-Präsidenten Carter. Brzezinski ist nach wie vor Stichwortgeber für die Politik des Weißen Hauses und seiner Propaganda-Apparate im Ausland, die für die „Demokratisierung“ der Sowjet-Nachfolgestaaten bekanntlich jährlich immer wieder Milliarden ausgeben.
Im bisher letzten seiner Bücher zur Globalstrategie der USA „Strategic Vision. Amerika and the crisis of global power“ (Basic Books, New York) entwirft Brzezinski, unter dem für ihn neuen Leitgedanken, dass die USA das Geschäft des Weltpolizisten nicht mehr allein schultern könnten, exakt das Muster des von FAZ, Spiegel, Welt und anderen jetzt übernommenen Szenarios: Das Herausbrechen der Ukraine aus dem russischen Einflussbereich durch Anschluss an die EU, ihre Modernisierung im Geiste und im ökonomischen Schlepptau des Westens, genauer des atlantischen Bündnisses, mit dem Ziel über eine „modernisierte“ Ukraine am Ende auch die ebenso „modernisierten“ Kräfte Russlands als Bündnispartner für die notwendige Erneuerung der westlichen Allianz zu gewinnen – gegen die „chinesische-indische Bedrohung“, gegen die Gefahr des „political awakewning of people“ und aktuell zu betonen, gegen die Gefahr eines wachsenden Terrorismus – dies alles aber bitte ohne Putin. Putin steht in Brzezinskis Augen nach wie vor für den rückständigen Teil Russlands. Mit Russland – ja, heißt diese Perspektive, aber mit einem schwachen Russland, das bereit ist, sich den USA als Juniorpartner zu unterwerfen.
Auf der letzten „Sicherheitskonferenz“ in München im Februar 2014 forderte Brzezinski in diesem Sinne unisono mit US-Außenminister John Kerry eine „Renaissance des atlantischen Bündnisses“, wurde der Kiewer Maidan überschwänglich als demokratische Erneuerung zum Sturz Janukowitsch‘s begrüßt und unterstützt, wurde die „neue Verantwortung“ von Joachim Gauck, von Ursula von der Leyen, von José Baroso und anderen Vertretern Deutschlands und der EU willig aufgenommen.
In „strategic vision“ heißt es dazu nach längeren Konkretisierungen zu den demokratischen Ansätzen, die Brzezinski heute in einem Russland ohne Putin sieht, schlicht und unmissverständlich: „Eine Ukraine, die Russland nicht feindlich gegenübersteht, sondern ihm in ihrem Zugang zum Westen etwas voraus ist, hilft sicherlich Russland zu ermutigen auf seinem Weg zum Westen in Richtung auf eine mögliche lohnende Zukunft.“
Dass die Rechnung einer solchen „Demokratisierung“ der Ukraine mit „Strahlkraft“ auf Moskau, wie sie Brzezinski beschreibt und wie sie die Parteigänger der von ihm skizzierten Politik neuerdings der deutschen Öffentlichkeit als Lösung der Ukrainischen Krise anbieten, schon jetzt ein Märchen ist, lässt sich mit wenigen Zügen zeigen:
Ein „Einfrieren“ wird es schon deswegen nicht geben, weil – wie schon oben angedeutet – den tatsächlichen Vorgängen in der Ukraine zu entnehmen ist, dass die radikalen Kräfte in der Ukraine die „Legitimierung“ der jetzt entstandenen Situation durch Neuwahl des Parlamentes nicht akzeptieren werden. Sie wollen die Entscheidung: Die ukrainischen Nationalisten bestehen auf Rückgewinnung der Krim, auf Ukrainisierung der Ukraine; die Radikalen im Donbass bestehen auf Abtrennung „Neurusslands“ als eigenständigem staatlichem Gebilde.
Ein „Erfolgsmodell“ wird die Ukraine unter dem Diktat der Assoziierungsvereinbarungen allenfalls für die kleine Gruppe der Privatisierungsgewinnler werden, die von dem – ungeachtet der angeblichen Verschiebung des Abkommens – bereits jetzt in Gang gesetzten umfassenden Privatisierungsprogramm profitieren, konkret gesprochen, von dem Verkauf nationalen Eigentums an ausländische Geldgeber oder mit ihnen verbundener Oligarchen. Der Bevölkerung dagegen werden die Lasten eines Sparprogramms auferlegt, das zu einschneidenden Verschlechterungen der Lebensqualität führen wird, wie sie aus anderen IWF-Reformländern und Objekten der EU-Austeritätspolitik bekannt sind. Milliardenkredite der EU werden die zu erwartenden sozialen Verwerfungen nicht auffangen, sondern verschärfen, besten Falles verschleppen und zudem die EU an ihre Grenzen führen.
„Nach Moskau strahlt“ auf absehbare Zeit sicher nicht etwa ein ökonomischer Aufschwung, sondern sein pures Gegenteil aus. Das Modernisierungsgefälle verläuft nicht von der Ukraine nach Moskau abwärts, sondern umgekehrt von Moskau in die Ukraine hinunter. Auf der Krim ist das bereits heute erkennbar, wo sich das Lebensniveau für die dort lebenden Menschen – allen Anpassungsproblemen zum Trotz – durch russische Förderungsprogramme spürbar verbessert, z.B. durch höhere Renten, durch Modernisierung der sozialen und sonstigen Infrastruktur, auch wenn diese Förderung die russische Föderation aktuell stark belastet. Aus dem Donbass und dem Süden der Ukraine flüchten die Menschen nicht nur vor den Bomben nach Russland, sondern auch vor dem aktuellen Zusammenbruch der ukrainischen Wirtschaft und vor den bedrückenden Perspektiven einer für die Zukunft zu erwartenden Verelendung durch Arbeitslosigkeit und der zu erwartenden Senkung des allgemeinen Lebensniveaus.
„Lange, vielleicht sehr lange, Wirtschaftssanktionen“ schließlich wird Russland vermutlich eher durchstehen als die EU. Dies zu bemerken, wird manch einen der sanktionsfreudigen Akteure gleich auf zwei falschen Füßen erwischen, weil sie sich kein Verständnis davon erarbeitet haben, worin sich Russland, aller bisherigen Kapitalisierung zum Trotz, von der EU oder auch den USA unterscheidet – nämlich durch seine dreifach gestaffelte Autarkie. Das sind Naturschätze, Öl, Gas, Kohle, Erze, Land, Wasser, Wald usw. in einem gewaltigen territorialen Raum, das ist „soziales Kapital“, um einen Begriff der US-Ökonomin Elinor Ostrom in ihrer Theorie der Commons zu benutzen, einer nach wie vor bestehenden Tradition der in Russland so genannten ergänzenden individuellen und gemeinschaftlichen Zusatzversorgung in breiten Kreisen der Bevölkerung und das ist drittens die Staffelung durch die Vielvölkerkultur in einem differenziert gegliederten Raum mit angrenzenden neuen Bündnismöglichkeiten bei den Newcomern der Globalen Ordnung, China, Indien, Zentralasien, Kaukasus und anderen. Die Herausbildung einer Eurasischen Union wird sich letztlich von niemandem aufhalten lassen. Sie bildet sich aus einem gewissermaßen natürlichen Raum.
Ihre historisch gewachsene, in Krisenzeiten auch in früheren Jahrhunderten immer wieder bewährte Autarkie hat dem neuen Russland schon 1998 nicht nur über die Krise geholfen, sondern die Krise hat eben diese Kräfte aktiviert. Durch die Krise erhielt die heimische Produktion – die agrarische wie auch die industrielle – einen erkennbaren Schub. Russland löste sich vom IWF-Kredit-Tropf; von einem Monat auf den anderen gab es wieder Waren aus heimischer Produktion auf dem russischen Markt. Ein ähnlicher Prozess kommt zurzeit durch die Sanktionen des Westens in noch weit größerem Umfang in Gang. Das Motto: Sanktionen machen uns erst recht stark. Kapital kehrt ins Land zurück. Eigene Produkte statt Importware kommen auf den Markt. Neue Handels- und Wirtschaftswege werden erschlossen.
Das alles läuft selbstverständlich nicht ohne zeitweilige Einbußen und Krisenerscheinungen, jedoch mit dem absehbaren Ende einer Stärkung der Eigenständigkeit Russlands, das sich gegen Angriffe von außen zusammenschließt wie es sich unter dem Druck äußerer Bedrohungen in der Geschichte immer wieder zusammengeschlossen hat – ganz im Gegensatz zum Westen, dessen Sanktionspolitik schon jetzt zu Differenzen zwischen der EU und den USA, sowie innerhalb der EU führt und ganz zu schweigen davon, dass das „atlantische Bündnis“ als Ganzes und darüber hinaus die 28 heterogenen Staaten der EU die geforderten „langen, vielleicht sehr langen Wirtschaftssanktionen“ unbeschadet tragen könnten. Im atlantischen Bündnis fällt die Last auf die EU, in der EU fällt sie auf die schwächeren Staaten. Das muss, wenn eine solche Politik wirklich durchgeführt würde, notwendig zu Spannungen und Machtverschiebungen führen, zwischen den USA und der EU zum einen, innerhalb der EU zum anderen.
So oder so muss eine dauerhafte Sanktionspolitik aber Verengungen der politischen Bewegungsfreiheit im russischen wie im westlichen Raum nach sich ziehen. Das kann weder im Interesse Russlands, noch der EU, noch sonst eines Landes sein – besten, genauer gesagt, schlimmsten Falles liegt es im Interesse der scheidenden Weltmacht USA.
Aber auch auf dieser generellen globalen Ebene wird am Konflikt um die Ukraine schließlich Folgendes sichtbar: In einer Welt, in der die Völker nach neuen Wegen des Zusammenlebens, nach einer neuen Organisation des Sozialen suchen, in der die zurückliegende Systemteilung von Staatskapitalismus oder Privatkapitalismus überwunden werden kann; in einer Welt der nachholenden Nationenbildung, in der sich die Entkolonialisierungsprozesse des letzten Jahrhunderts im komprimierten Schnellgang noch einmal, jetzt am Erbe der Sowjetunion wiederholen, und angesichts des Übergangs aus der unipolaren in eine multipolare Ordnung ist eine Politik der Schwächung Russlands durch „Eindämmung“ oder gar der Versuch, in Russland einen Regimewechsel nach dem Muster der Ukraine herbeiführen zu wollen, diametral gegen den erkennbaren Strom der Geschichte gerichtet, in dem Russland stabilisierende Rolle Eurasiens zufällt. Solche Versuche können daher, wenn sie denn gelingen, nur zu einer Destabilisierung des eurasischen Raumes führen. Das wäre gleichbedeutend mit Krieg.
Perspektive im Sinne einer friedlichen Zukunft der globalen Gesellschaft hat allein die Förderung kooperativer Strukturen, gewollt und getragen vom einzelnen Menschen, der sich in selbstbestimmter Gemeinschaft organisiert. Diese zukünftige Form der Gesellschaft deutet sich heute in der Herausbildung autonomer föderal miteinander verbundener Regionen an, die sich zu einer Weltordnung zusammenfinden, welche die bestehenden und neu herangewachsenen Großregionen auf gleicher Augenhöhe in gegenseitigem Nutzen verbindet und stärkt. „Eindämmungen“ machen nur im Geiste einer solchen Gegenseitigkeit Sinn, dann sind sie aber schon keine Eindämmungen mehr, sondern Rücksichtnahmen und gegenseitige Stützung. Alles andere läuft auf eine Selbstzerstörung menschlicher Kultur hinaus.
Siehe zu den Fragen der Autarkie u.a.:
Kai Ehlers, Kartoffeln haben wir immer. Überleben in Russland zwischen Supermarkt und Datscha, Verlag Horlemann, Bad Honnef, 2010
[«*] Kai Ehlers ist Journalist, Publizist und Schriftsteller. Sein Spezialgebiet ist die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des post-sowjetischen Raumes. Viele seiner Artikel sind auf der Seite Kai-Ehlers.de nachzulesen.
[«1] Die Konferenz „Yalta european Strategy“ wurde 2004 von dem Ukrainischen Oligarchen Victor Pintschuk gestiftet. Die 11. Konferenz fand vom 11. –13. September 2014 in Kiew statt. Sie ist – in kleinerem Format – der jährlich in München stattfindenden „Sicherheitskonferenz“ vergleichbar, wird auch von einer ähnlichen Klientel besucht. Auf der Liste der Agenda finden sich außer den Ukrainischen TeilnehmerInnen wie Pintschuk selbst, wie Petro Poroschenko, Vitali Klitschko, Julia Timoschenko bis hin zu dem Rechtsaußen Oleh Liashko und neben einer ganzen Phalanx von westlichen Medienvertretern, Vertretern des Harvard-Zweiges des IWF und westlichen „Sicherheitstrukturen“ solche Vertreter wie der polnische Präsident Alexander Kwasniewski, der zusammen mit dem Erweiterungskommissar der EU, Stefan Füledie Begrüßungsworte sprach. Bemerkenswert außerdem Joschka Fischer (Fischer & Company), Wesley Clark (Ex-NATO-Kommandeur), Javier Solana (Ex-NATO-Chef), Dominique Strauss-Kahn (Ex-Direktor des IWF), Wolfgang Ischinger (Organisator Münchner Sicherheitskonferenz), José Manuel Baroso (Kommissionspräsident der EU), Tony Blair (Ex-Premierminister Großbritanniens), Timothy Snyder (Historiker, Organisator der Kiewer Konferenz „Thinking together“ im Mai 2014), Martin Schulz, Elmar Brok, Valdis Dombrowski (EU-Parlamentarier) und andere..
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=23377