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Titel: Die NATO dehnt sich aus und nicht Russland
Datum: 22. September 2014 um 10:57 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Interviews, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Über die Ukraine wird zurzeit viel gesprochen und publiziert. Putin bedrohe mittels seiner Einflussnahme in der Ukraine Europa, sei Aggressor, wolle Russland vergrößern etc. pp. Doch was ist dran an der „russischen Aggression“ – und welche Verantwortung trägt auch „der Westen“ wofür? Jens Wernicke sprach hierzu mit dem renommierten Friedensforscher Daniele Ganser.
Herr Ganser, im deutschen Blätterwald hat es – im Kontext der Situation in der Ukraine – in den letzten Wochen und Monaten regelrechte Kampagnen zum Thema einer vermeintlichen Bedrohung der EU und des Westens durch russische Großmachtbestrebungen und russischen „Imperialismus“ gegeben. Wie bewerten Sie als NATO-Kenner und Friedensforscher die aktuelle Situation?
Ich sehe das anders. Ich glaube nicht, dass Russland Westeuropa bedroht oder erobern möchte. Das stimmt nicht. Es kommt in der Geschichte immer sehr darauf an, wo man die Schnittstelle legt, ob man mit der Annexion der Krim anfängt, oder mit der Vorgeschichte, etwa dem Sturz von Janukowitsch im Februar 2014, oder mit der Vorgeschichte der Vorgeschichte, also beispielsweise dem Entscheid der NATO 2008, die Ukraine und Georgien in das Militärbündnis zu integrieren.
Für mich liegt die Wurzel des jetzigen Konfliktes in diesem Entscheid der NATO, der war gefährlich und falsch. Der US-Botschafter hatte schon damals erkannt, damit trete man auf einen „rohen Nerv“ der Russen. Die USA wussten also, dass dies Moskau sehr irritieren würde. Trotzdem hat die frühere US-Botschafterin bei der NATO, Victoria Nuland, aktiv am Sturz der Regierung Janukowitsch mitgewirkt. Nuland, das ist übrigens jene, die mit dem wenig schmeichelhaften Zitat „Fuck the EU“ bekannt geworden ist.
Nach dem Sturz von Janukowitsch und der Installierung des NATO-freundlichen neuen Präsidenten Poroschenko hat Putin dann sehr schnell reagiert und mit Truppen die Krim und den Osten der Ukraine übernommen. Dies verdeutlicht: Die Russen wollen nicht, dass die NATO sie umzingelt, sie wollen nicht, dass die Ukraine in die NATO aufgenommen wird.
Wie meinen Sie das, die NATO umzingele Russland?
Als die DDR mit der BRD vereint wurde und damit das vereinte Deutschland entstand, was gut und richtig war, mussten die Russen ihre Truppen aus der DDR abziehen, weil die DDR ja in die NATO wechselte. Gorbatschow hat das damals möglich gemacht. Für diese friedliche Transition sollte man Gorbatschow dankbar sein. Er hat aber immer wieder erklärt, man habe die DDR nur geräumt, weil die USA den Russen versprachen, die NATO keinen Zentimeter weiter nach Osten auszudehnen. Doch dieses Versprechen wurde in den folgenden 25 Jahren immer wieder gebrochen. Gorbatschow selber sagte 2009, als die NATO Albanien und Kroatien aufnahm, man habe die Russen über den Tisch gezogen [1].
Putin sieht das ebenso und traut weder der NATO noch den USA. Und das kann man gut verstehen, wenn man auf einer Landkarte einmal die Ausdehnung der NATO in den letzten Jahren anschaut. Und auch Gorbatschow sieht das kritisch: „Daran haben sich die Amerikaner nicht gehalten und den Deutschen war es gleichgültig. Vielleicht haben sie sich sogar die Hände gerieben, wie toll man die Russen über den Tisch gezogen hat”, erklärte er. Das habe schließlich dazu geführt, “dass die Russen westlichen Versprechungen nun nicht mehr trauen” würden.
Russlands Verhalten war also nicht nur folgerichtig, sondern sogar vorhersehbar?
Nun, ich denke John Mearsheimer, Professor in Chicago, hat recht, wenn er sagt, der Westen trägt die Hauptschuld am Krieg in der Ukraine, weil er die NATO immer weiter ausdehnt. Mearsheimer hat das gut so zusammengefasst: „Man stelle sich die Empörung in Washington vor, wenn China ein mächtiges Militärbündnis schmiedete und versuchte, Kanada und Mexiko dafür zu gewinnen“ [2].
Quelle der Originalgrafiken: siper.ch
Wer alles hat in der Ukraine denn welcherlei Einfluss auf die Entwicklung und Eskalation der Situation genommen: die NATO, die EU, andere? Und warum?
Das ist leider alles sehr undurchsichtig. Natürlich sind die Spitzenpolitiker Obama, Merkel und Putin sichtbar, auch der Sturz von Janukowitsch ist deutlich, und der Aufstieg von Poroschenko. Aber die Details liegen noch im Dunkel.
Zum Beispiel wissen wir nicht, wer die Sniper waren, die auf dem Maidan sowohl Demonstranten wie auch Polizisten erschossen und dadurch das Land ins Chaos gestürzt haben, was natürlich jenen Gruppen half, die Janukowitsch stürzen wollten. Urmas Paet, der Aussenminister von Estland, hat damals mit Catherine Ashton telefoniert, das Gespräch wurde abgehört und veröffentlicht, Paet hat gesagt: „Es gibt ein immer stärker werdendes Verständnis, dass hinter den Scharfschützen nicht Janukowitsch sondern jemand von der neuen Koalition war.“ Ashton sagt darauf: „Ich denke wir müssen das untersuchen. Ich meine, ich habe das nicht mitbekommen, das ist interessant, mein Gott!“ Paet sagt darauf: „Es diskreditiert bereits die neue Koalition.“ Später haben Paet und Ashton abgestritten, dass es dieses Gespräch gab. Aber ich denke, man müsste zumindest untersuchen, ob das Gespräch nicht doch echt ist. Dann müsste man prüfen, ob tatsächlich die neue Koalition, also Poroschenko, Klitschko, Jazenjuk mit den Scharfschützen in Verbindung stand. Wenn dies der Fall war, dann hätten wir einen inszenierten Regierungssturz mit verdeckter Kriegsführung. Aber wie gesagt, das ist alles noch sehr undurchsichtig.
Das trifft übrigens auch auf den Abschuss von MH17 am 17. Juli zu. Wer war’s? Wir wissen es nicht. Aber klar ist, dass gewisse Gruppen aktiv an der Gewaltschraube drehen und die Eskalation suchen. Das ist für mich als Friedensforscher eindeutig. Nur wissen wir nicht genau, wer diese Gruppen sind und was sie wollen.
Daniele Ganser: Die NATO dehnt sich aus und nicht Russland
Wie kommt es, dass von all dem in unseren Medien kaum die Rede ist? Wieso geht die NATO offenbar so eindeutig als Sieger aus der aktuellen „Propagandaschlacht“ hervor? Und gelingt es ihr offenbar, massenweise Desinformationen zu verbreiten?
Nun, die NATO hat in verschiedenen Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz befreundete Journalisten, welche immer im Sinne der NATO schreiben. Das nennt man Information Warfare. Das ist Teil des Krieges. Nur geht es hier um die „Heimatfront“: Die Bürger zu Hause vor dem Bildschirm oder vor der Zeitung. Das überlässt man natürlich nicht dem Zufall. Seit Vietnam haben die USA gelernt, dass die Heimatfront ganz wichtig ist. Daher verfolgt man die einfache Technik: Den Gegner, in diesem Fall Putin, dämonisieren, Chaos schüren und die eigene Gewalt verdecken und Spuren verwischen.
Können Sie konkrete Namen nennen, ich meine, Namen von Journalisten, die hier eindeutig parteiisch sind?
Nein, ich möchte keine Namen nennen. Einzelfiguren sind nicht zentral, sie können ersetzt werden. Es geht um das System der Kriegspropaganda, das wir leider auch bei uns erleben. Jeder Leser soll sich, wenn er einen Text liest, selber die Frage stellen: Wird hier der Krieg oder der Frieden gefördert? Wird hier der Gegner dämonisiert oder wird auch seine Sicht des Konfliktes dargelegt? Wird Gewalt als Lösung gepriesen? Wir wissen ja aus dem Privatleben: Es gibt immer zwei Perspektiven in jedem Konflikt. Das gilt auch für die Ukraine.
Und wie ist die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der NATO denn konkret organisiert? Wie muss man sich das vorstellen? „Sonderrechte“ für gewogene Berichte? Privilegierte Reisen an die Front oder besonderer, vorrangiger, schnellerer Zugang zu Informationen?
Ja, in etwas so läuft das. Zuckerbrot und Peitsche. Das Zuckerbrot sind die Privilegien. Die Peitsche die Drohung mit redaktioneller Isolation etc. wenn man nicht auf Linie ist. Das funktioniert. Man kann mit Fug und Recht feststellen, dass es eine Art „NATO-Netzwerk“ in den Medien gibt. Kritische Fragen zum 9/11-Bündnisfall sind völlig tabu. Auch bei der Ukraine ist es wieder dasselbe, pro NATO, anti Putin.
Sie können das einfach erkennen, wenn Sie beobachten, wie der Spiegel, die NZZ, die Süddeutsche, die FAZ, Newsweek, CNN sowie ZDF und ARD fast alle in die gleiche Kerbe hauen: In fast jedem Bericht zur Ukraine ist Putin der Böse. Die NATO-Osterweiterung wird praktisch nie erwähnt. Die Hintergründe des Regierungssturzes in Kiew werden nicht ausgeleuchtet. Als ich Pro7 und Sat1 Anfang September ein Interview gab und die NATO-Osterweiterung kritisierte, die schickten damals extra einen Kammermann nach Basel während des NATO-Gipfels in Wales, erhielt ich danach den Bescheid, man habe das Interview leider doch nicht senden können wegen der rasanten Entwicklung im Laufe des Tages. NATO-Kritik hat keinen Platz in den Massenmedien der NATO-Länder.
Noam Chomsky hat das „Manufacturing Consent“ genannt, also das Herstellen von Zustimmung, Zustimmung zum Krieg am Ende. Es ist immer dasselbe Muster: Zuerst Empörung, dann Dämonisierung, dann der Ruf nach Krieg um „das Böse“ auszurotten, wobei man später feststellt: Mit Gewalt und Bomben hat man noch nie die realen Probleme des menschlichen Zusammenseins konstruktiv gelöst. Die Kriegspropaganda schadet daher sehr. Frances Stonor Saunders hat schon vor Jahren das interessante Buch verfasst „Who paid the piper?“. In dem zeigt sie, wie die CIA Medienleute im Kalten Krieg auf beiden Seiten des Atlantiks gekauft hat.
Auch unsere Armee, die Bundeswehr, wird ja sehr geschickt – und wahrheitswidrig – als „Verteidigungsarmee“, die im Ausland nur Frieden stifte, inszeniert. Und auch die NATO hat in der Öffentlichkeit das Image eines demokratischen „Verteidigungsbündnisses“ mit dem Ziel, Frieden und Sicherheit auf der Welt zu gewährleisten. Wer ist aber „die NATO“ eigentlich ganz konkret? Und wie kommen ihre Entscheidungen innerhalb der NATO zustande; auf welchem wie gearteten demokratischen Weg?
Die NATO ist ein gefährliches Militärbündnis, ein Wolf im Schafspelz. Sie hat Afghanistan bombardiert – und Chaos hinterlassen. Sie hat Libyen bombardiert – und Chaos hinterlassen. Ich hoffe nicht, dass nun noch die Ukraine folgt.
Ich hab in meinem Buch zu den NATO-Geheimarmeen die NATO über einen Zeitraum von vier Jahren untersucht. Sie ist absolut nicht demokratisch, gibt keine Auskünfte zu den Gladio-Geheimarmeen und versteckt sich hinter dem Militärgeheimnis. Und: Die USA führen die NATO an. Deutschland muss da oft einfach Befehle ausführen.
Nach 9/11 hat die NATO auf Bestreben der USA den Bündnisfall ausgerufen und gesagt, auch Deutschland müsse nun am Hindukusch kämpfen. Danach töteten Deutsche Afghanen, obschon man zuvor mit den Afghanen eigentlich nie Probleme gehabt hat.
Daniele Ganser: Die NATO und ihre Geheimarmeen
Wenn die NATO also in einer Pressemitteilung verkündet, „today, we declare that cyber defence is part of NATO’s core task of collective defence”, dann meint dieses “Wir”, welches da handelt und das hier ja auch über Krieg und Frieden in Deutschland beziehungsweise innerhalb der deutschen Außenpolitik entscheidet, wen jetzt genau…?
In erster Linie die USA, aber dann auch alle anderen NATO-Mitglieder, aber nicht unbedingt die Bürger in den NATO-Ländern. Und auch nicht unbedingt die Intellektuellen. Die nationalen Parlamente wagen es zudem kaum, der NATO zu widersprechen, oft sind die Politiker auch nicht über deren undemokratischen Strategien wie beispielsweise die Gladio-Geheimarmeen oder die Strategie der Spannung informiert oder blenden Phänomene wie Angriffskriege ohne UNO-Mandat ganz bewusst aus.
Nur ganz wenige Politiker stellen mitunter kritische Fragen zu den NATO-Kriegen oder den NATO-Geheimarmeen. Diese Fragen werden dann aber von der Exekutive mit Verweis auf die militärische Geheimhaltungspflicht nicht oder nur oberflächlich beantwortet. Sowohl die Bürger wie auch die Parlamente in den 28 NATO-Staaten haben leider zunehmend aufgehört, kritisch über die NATO zu diskutieren und ihre dunkle Seite zu durchleuchten. Wir wollen den Balken in unserem Auge nicht sehen. Dabei ist die Bilanz der NATO wirklich trostlos. Sie ist tief in der Gewaltspirale verstrickt, und wenn sie nicht mehr weiter weiß, fordert sie noch mehr Rüstungsausgaben.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Daniele Ganser (Dr. phil.) ist Schweizer Historiker, spezialisiert auf Zeitgeschichte seit 1945 und Internationale Politik. Seine Forschungsschwerpunkte sind Friedensforschung, Geostrategie, verdeckte Kriegsführung, Ressourcenkämpfe und Wirtschaftspolitik. Er unterrichtet an der Universität St. Gallen (HSG) zur Geschichte und Zukunft von Energiesystemen und an der Universität Basel im Nachdiplomstudium Konfliktanalysen zum globalen Kampf ums Erdöl.
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