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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Hinweise des Tages
Datum: 3. September 2014 um 9:16 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
Verantwortlich: Jens Berger
Hier finden Sie einen Überblick über interessante Beiträge aus anderen Medien und Veröffentlichungen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (OP/WL/JB)
Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:
Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.
Anmerkung JB: Nachdem sich nun in den letzten Tagen beide Seiten der Lüge bezichtigten und auch die Medien immer häufiger mit den Begriffen Wahrheit und Lüge jonglieren, ist es an der Zeit, sich frei nach Sokrates einzugestehen, dass wir nur wissen, dass wir nichts wissen. Die wohl einzige verlässliche Quelle aus dem Kriegsgebiet stellt die Beobachtermission der OSZE dar. Und die hat nach eigenen Aussagen „keine Hinweise auf die Präsenz von russischen Truppen auf ukrainischem Boden“. Dass in der Politik ein Jeder sein Süppchen kocht und zur Not auch auf selbst fabrizierte Falschmeldungen zurückgreift, ist bekannt. Hochgradig ärgerlich ist jedoch, dass die Medien ihrer Rolle nicht gerecht werden, und solche Meldungen nicht zurückhaltend oder gar kritisch bewerten, sondern vielfach als Fakten darstellen.
Dazu auch: Who’s Telling the ‘Big Lie’ on Ukraine?
Official Washington draws the Ukraine crisis in black-and-white colors with Russian President Putin the bad guy and the U.S.-backed leaders in Kiev the good guys. But the reality is much more nuanced, with the American people consistently misled on key facts, writes Robert Parry. […]
Yet, the once-acknowledged – though soon forgotten – reality was that the crisis was provoked last year by the European Union proposing an association agreement with Ukraine while U.S. neocons and other hawkish politicos and pundits envisioned using the Ukraine gambit as a way to undermine Putin inside Russia. […]
And now there’s the curious case of Russia’s alleged “invasion” of Ukraine, another alarmist claim trumpeted by the Kiev regime and echoed by NATO hardliners and the MSM.
While I’m told that Russia did provide some light weapons to the rebels early in the struggle so they could defend themselves and their territory – and a number of Russian nationalists have crossed the border to join the fight – the claims of an overt “invasion” with tanks, artillery and truck convoys have been backed up by scant intelligence.
One former U.S. intelligence official who has examined the evidence said the intelligence to support the claims of a significant Russian invasion amounted to “virtually nothing.” Instead, it appears that the ethnic Russian rebels may have evolved into a more effective fighting force than many in the West thought. They are, after all, fighting on their home turf for their futures.
Quelle: Consortiumnews.com
Anmerkung AM: Es ist gut und wichtig, Vorschläge dafür zu machen, wie die Konfliktparteien aus der Spirale der Eskalation aussteigen können, auch wenn die Konstellation so aussieht, als seien die handelnden Personen nicht mehr willens und nicht mehr fähig, vernünftig zu denken. Siehe die neueste Einlassung der designierten Außenbeauftragten der EU, Federica Mogherini, die öffentlich erklärt, in Russland keinen strategischen Partner der EU mehr zu sehen.
Eine kritische Anmerkung zum Dossier: Meines Erachtens überschätzen die Autoren die Eigenständigkeit und die Einheitlichkeit des Handelns der Europäischen Union. Die EU ist als Ganzes eng mit den Interessen der USA und der NATO verbunden. Die Europäische Union erscheint im Ukraine-Konflikt häufig als eine Art Vorfeldorganisation von NATO und USA. Soweit es eigenständige Positionen gibt, werden diese von besonderen Koalitionen innerhalb der EU konterkariert. Siehe zum Beispiel von der Absicht Großbritanniens, zusammen mit Polen und den baltischen Staaten in der militärischen Konfrontation aktiver zu werden.
Dazu: Kreml will Aufzeichnung von umstrittenem Gespräch Putin-Barroso publik machen
Der russische Präsidialstab hat sich bereit erklärt, die Aufzeichnung des umstrittenen Telefongesprächs zwischen Präsident Wladimir Putin und EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso publik zu machen. „Es kommt darauf an, alle Missverständnisse aus dem Weg zu räumen“, hieß es in einem am Dienstag veröffentlichten Schreiben von Russlands EU-Botschafter Wladimir Tschischow an Barroso.
„Ich weiß, dass die Administration des russischen Präsidenten sowohl eine schriftliche als auch eine Audioaufzeichnung des Gesprächs hat. Sollten Sie (Barroso) keine Einwände haben, würde der Kreml die Aufzeichnung des Telefonats in den nächsten zwei Tagen zur Verfügung stellen“, betonte Tschischow.
Quelle: Ria Novosti
Anmerkung JK: Ob die Menschen, die auf dem Maidan für Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie gekämpft haben auch nur ahnen konnten, dass die Ukraine nun dem gleichen gnadenlosen Austeritätsdiktat wie Griechenland, Spanien und Portugal unterworfen wird? Selbstredend, dass die Vermögen der Oligarchen unangetastet bleiben werden.
Gabor Steingart im Handelsblatt Morning Briefing: „“Die Ukraine-Krise lässt Barack Obama am heutigen Dienstag in die estnische Hauptstadt Tallinn reisen. Dort trifft er die drei baltischen Präsidenten sowie Estlands Regierungschef, um ihnen die Solidarität der Nato zu versichern. Man wird das Gefühl nicht los, das Navigationssystem des US-Präsidenten ist nicht ganz funktionstüchtig: Der Mann, den Obama treffen muss, sitzt im Kreml, nicht in Tallinn.“
Anmerkung Orlando Pascheit: Herbert Prantl ist ein wesentlicher Grund, die SZ zu lesen. Und Joachim Gauck ist vielleicht – um es milde zu formulieren – zu verknöchert, um seinem in der Jugend verinnerlichten Russenhass und seine allzu simple Vorstellung von Freiheit und anderem noch einmal zu reflektieren. Vielleicht konnten wir es noch verschmerzen, dass von diesem Präsidenten keine Impulse ausgehen, um den politischen Mainstream aufzurütteln, aber in dieser komplexen Situation ist er der falsche Präsident. Gauck mag an diesem Tag die Erwartungen der polnischen Regierung erfüllt haben, und die Auffassung der polnischen Regierung ist gutes Recht, aber dies war nicht der Tag, um im Übersoll die Erwartungen von Regierungen im Übersoll zu erfüllen. Es war ein Tag, der ganz dem Frieden gewidmet sein sollte. – Wolfgang Lieb ist neben dem Inhaltlichen bereits auf die verräterische Sprache Gauck eingegangen. Ich fand diese Rede einfach herzlos – wie beredt war doch das Schweigen Brandts!
Anmerkung WL: Das ist ja eine ganz neue Rolle für einen Bundespräsidenten, der Präsident als Minenspürhund für die Regierungspolitik, der keine Rücksicht auf diplomatische Gepflogenheiten, auf gute Beziehungen zum Ausland, auf den inneren Zusammenhalt mehr nehmen muss. Gauck soll also aussprechen, was sich die Regierung nicht traut. Er soll also der eigentliche Regierungssprecher sein.
Und weil man ihn ja angeblich aus Respekt vor dem Amt nicht kritisieren darf, bleiben seine Aussagen unkommentiert im Raume stehen.
Anmerkung Orlando Pascheit: Leider hat die Welt nicht die Courage, diese Meldung mit der Lieferung von Waffen an die irakischen Kurden zu verbinden und sich darüber Gedanken zu machen. Sie reiht an diese Meldung nur den Bericht über die Debatte im Bundestag zur Waffenlieferung. Kein Wort darüber, dass heute gelieferte Waffen sehr viel schneller die Seiten wechseln – manchmal mit den daran ausgebildeten Soldaten. Noch ausweichender der Spiegel, der spekuliert: “Allerdings sind in dem kurzen Video nur die Hüllen der Raketen zu sehen, ob sich darin tatsächlich noch die Flugkörper befinden, ist nicht zu erkennen. Ebenso ist unklar, ob die Raketen noch einsatzfähig wären und die Miliz überhaupt über die nötige Technik und Expertise verfügt, um diese dann einzusetzen. Die Raketen sind nur mit einer speziellen Startvorrichtung abzufeuern.” Wie kann man den Witz dieser Meldung so verkennen, über die sich weitaus fruchtbarer und furchtbarer spekulieren ließe.
Eine ganz andere Alternative zu Waffenlieferungen zeigt Andreas Zumach auf:
Feige Ersatzhandlung
Die Lieferung von Waffen ist ein ungeeignetes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen: In der Geschichte der internationalen Konflikte seit Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es hierfür kein erfolgreiches Beispiel. Hingegen zahlreiche Fälle – insbesondere aus dem Irak und seiner Nachbarschaft -, in denen gelieferte Waffen von den unmittelbaren oder mittelbaren Empfängern zur Führung von Kriegen, zu Völkermord und Vertreibung genutzt wurden. Über die Art von Waffen, die die Peschmerga bereits aus dem Westen erhalten haben und nun auch aus Deutschland bekommen sollen, verfügen die IS-Milizen längst. Es droht ein monatelanger Stellungs- und Abnutzungskrieg mit vielen Toten und Verwundeten auf beiden Seiten – wobei die IS-Milizen wahrscheinlich das größere Reservoir an todesbereiten Kämpfern haben – bei fortgesetzten Übergriffen der IS-Milizen gegen die Zivilbevölkerung. Waffenlieferungen an die Kurden sind lediglich eine feige Ersatzhandlung. Ein effektiver Schutz der im Irak bedrohten Menschen ließe sich – wenn überhaupt – nur gewährleisten durch eine robust ausgerüstete und mit einem Mandat des Sicherheitsrates versehene UNO-Truppe, möglichst unter Beteiligung von Soldaten aller fünf Vetomächte.
Doch vor der Forderung nach einer robusten UNO-Truppe scheuen sich nicht nur die Befürworter von Waffenlieferungen an die Kurden in den westlichen Regierungen, sondern auch (ehemalige) Pazifisten, die – wie zum Beispiel Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck – jetzt ebenfalls für Waffenlieferungen plädieren. Nicht zuletzt, weil sie dann auch die Frage einer Beteiligung von Bundeswehrsoldaten an dieser UNO-Truppe konsequenterweise mit Ja beantworten müssten. Der Schutz der irakischen Zivilbevölkerung vor der akuten Bedrohung durch die IS-Milizen durch eine UNO-Truppe ist aber nur die unmittelbare Priorität. Wer die IS-Milizen nachhaltig aus Irak und Syrien vertreiben will, muss endlich ihre finanzielle, militärische und logistische Unterstützung aus den mit dem Westen verbündeten Staaten Saudi-Arabien, Katar und Türkei unterbinden. Und den politisch-sozialen und ideologischen Nährboden austrocknen, auf dem der IS seinen Nachwuchs rekrutiert.
Quelle: taz
Passend dazu: “Islamischer Staat”: Vom Terror zum Kalifat – Wie der asymmetrische Krieg wieder symmetrisch wird
Die Bürgerkriege in Libyen und Syrien haben dies besonders gezeigt. Sie strahlen folgenschwer in die benachbarten Regionen aus. Von der Levante über Nordafrika bis zur Sahelzone ist ein gigantischer Gewaltmarkt entstanden, in dem Schmuggel, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel die einträglichsten Geschäftszweige sind – und mithin auch lukrative Einnahmequellen für Gruppen mit ganz großen Zielen. Die „New York Times“ hat jüngst errechnet, dass allein im Jahr 2013 rund 66 Mio. US-Dollar von europäischen Regierungen an verschiedene Al-Qaida-Gruppen gezahlt worden sind. Das Geld wird allerdings nie als Lösegeld deklariert, sondern als humanitäre Hilfe. Die Öffentlichkeit erfährt davon in der Regel nichts. Das Geschäft wird über Mittelsmänner abgewickelt. Und auch Al Qaida überlässt die Drecksarbeit der Entführung europäischer Bürger meist spezialisierten Verbrecherbanden, die für den Job einen festen Betrag erhalten – aber natürlich weit weniger als das in zähen Verhandlungen erzielte Lösegeld. Mit dem so eingenommenen Geld unterhält man die Gruppe, kauft Waffen, zahlt Schmiergeld usw.
Der „Islamische Staat“ hat dies nur zum Teil nötig. Sein Startkapital dürfte von der Arabischen Halbinsel stammen; danach hat man sich unter anderem mit Entführungen und Anschlägen nach oben gearbeitet und seine kriminellen Fähigkeiten und Mittel diversifiziert. Aber auch davon hat man sich inzwischen zu einem guten Teil emanzipiert, denn der Landgewinn in den ehemaligen Hoheitsgebieten Syriens und Iraks befördert die Unabhängigkeit und den Spielraum durch die Übernahme ganzer moderner Waffenarsenale, Geldhäuser und Industrieanlagen der alten Regime.
Mit der territorialen Expansion und der überall wehenden schwarzen Fahne als Zeichen der Eroberung und des Sieges stößt die islamistische Miliz nun in eine ganz neue Dimension des „Terrors“ vor. Je größer sie selbst wird und je stärker und vielseitiger ihre Bewaffnung, desto mehr steigt die Tendenz zum symmetrischen Krieg – mit Grenz- und Frontverläufen, der Entvölkerung ganzer Landstriche durch Flucht und Vertreibung sowie verlustreicher Kämpfe durch den Einsatz schwerer Waffen. IS steht damit in der Tradition der Zeloten aus der Zeit Christi, die neben den Einzeltaten und gezielten Anschlägen auch schon die direkten Kämpfe mit dem Militär suchten.
Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik
Anmerkung Orlando Pascheit: Leider gibt Ulrike Herrmann zur Gefährlichkeit von Deflation nur die übliche Lehrbuchauffassung wieder: “Eine Deflation ist gefährlich, weil sie kaum zu stoppen ist, sobald sie einmal eingesetzt hat. Es entsteht ein fataler Teufelskreis: Die Kunden verschieben ihre Käufe, weil alle hoffen, dass die Waren noch billiger werden. Da der Umsatz stagniert oder gar sinkt, investieren die Firmen nicht mehr – und die Wirtschaft schrumpft weiter.” Herrmann verkennt, dass eine Deflation nicht das eigentliche Problem ist, sondern ein anderes, grundlegenderes signalisiert: Eine unterausgelastete Wirtschaft mit hoher Arbeitslosigkeit (gemeint ist die Eurozone als Ganzes). Als ob irgendjemand im siebten Jahr der griechischen Rezession kühl abwartet, bis die Preise weiter fallen. Bei der beobachteten krassen Sanierung der Staatsfinanzen und schweren Eingriffen in die Kaufkraft durch Lohn- und Rentenkürzungen und Abbau anderer sozialen Leistungen (Troika) wird die Binnennachfrage massiv reduziert. Kleine und mittelgroße auf heimischen Märkten operierende Firmen gehen dabei massenhaft pleite. Die Arbeitslosigkeit steigt und die Nachfrage bricht weiter ein. Um die Produktivitätskapazitäten der Wirtschaft auszulasten, müssen die überlebenden Unternehmen die Preise senken und die Arbeitnehmer könnten letztlich vielleicht sogar eine Lohnsenkung akzeptieren usw. Die Troika-Instanzen haben inklusive der Regierung der stärksten Volkswirtschaft, Deutschland, haben die hohe Arbeitslosigkeit bisher mit strukturellen Faktoren erklärt, wie Behinderungen auf den Produkt- und Arbeitsmärkten, die die Schaffung neuer Stellen und den Zugang von Jugendlichen und Arbeitslosen erschweren. Die Wende, die Draghi vollzieht, ist eine Umdeutung der Arbeitslosigkeit als Folge der eingebrochenen Gesamtnachfrage. – D.h. allerdings nicht, dass bei Anhalten der hohen Arbeitslosigkeit nicht eine strukturelle Arbeitslosigkeit entsteht, was für die betroffenen Volkswirtschaften katastrophale Folgen hätte. Die längere Arbeitslosigkeit lässt die Beschäftigten wichtige Qualifikationen verlieren, die sie selbst bei anspringender Konjunktur nicht mehr in die jetzt nachgefragten Jobs bringt (Hysterese-Effekt). Bei Jugendlichen ohne Berufspraxis dürfte dieser Effekt besonders groß sein wie die mangelhafte Ausbildung bei anderen.
Ergänzende Anmerkung JB: Leider vergisst die liebe Kollegin Herrmann, dass es für Mario Draghi auch ein sehr weitreichendes Motiv gibt, das relativ wenig mit „linker“ Politik zu tun hat. Bei einer anhaltenden Deflation ist es für die Schuldner nun einmal schwerer, ihre Verbindlichkeiten pünktlich und in voller Höhe zu bedienen. Die Schulden bleiben nun einmal (inkl. Zinsen) von der Geldaufwertung unberührt, dafür sinken jedoch mit dem Preisniveau auch die Einnahmen, aus denen die Schulden bedient werden müssen. In der momentanen Situation, in der die Banken mit nur sehr geringen Eigenkapitalanteilen sehr hohe Kredite vergeben haben, wäre dies eine brandgefährliche Situation, die womöglich in der nächsten Finanzkrise enden könnte. Draghi ist also nicht unbedingt ein „Linker“, sondern vor allem ein sehr rationaler Vertreter der Bankeninteressen, was in diesem speziellen Kontext jedoch kein Nachteil sein muss.
Anmerkung Orlando Pascheit: Zentraler Satz in diesem Beitrag von Bernd Lange, SPD-Europaabgeordneter und seit 2014 Vorsitzender des Handelsausschuss und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie, ist: “All diesen Chancen zum Trotz sind wir Sozialdemokraten nicht um jeden Preis bereit, ein Abkommen abzuschließen. Wir haben klare Positionen bezogen und rote Linien gezogen. Diese sind für uns entscheidend, wenn es um die Frage geht, ob wir ein fertig verhandeltes Abkommen unterstützen oder ablehnen.” Unwillkürlich stolpere ich über den Indikativ dieser Aussage: Nicht etwa “sollten wir Sozialdemokraten” sondern “sind wir Sozialdemokraten”. Sollten wirklich die Sozialdemokraten im EU-Parlament oder gar auch im Bundestag oder in der Regierung diese Auffassung teilen? Man wird sehen.
Passend dazu: Handelspolitik gegen politische Freiheit
Ob es sich um die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der EU und den USA (TTIP), das kurz vor dem Abschluss stehende Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) oder um das Abkommen zum Handels- mit Dienstleistungen (TISA) dreht, welches zeitgleich zwischen der EU und den Regierungen von 23 Ländern verhandelt wird, auf die mehr als zwei Drittel des globalen Handels mit Dienstleistungen entfallen: alle diese Abkommen haben vor allem das Ziel, die Freiheit von Regierungen, zu regieren, einzuschränken – und dies weit über die Amtszeit der gegenwärtigen Regierungsvertreter hinaus.
Selbstverständlich spielen bei all diesen Abkommen längerfristige geopolitische Überlegungen eine wichtige Rolle. Geht es für die „alten“ Wirtschaftsmächte auf beiden Seiten des Atlantiks doch darum, den wachsenden Einfluss insbesondere der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) einzudämmen. Daher sind sowohl die USA als auch die EU bestrebt, technische und regulatorische Standards festzuschreiben, die den Interessen „ihrer“ transnationalen Unternehmen zugutekommen, bevor die neuen Wirtschaftsmächte stark genug sind, ihrerseits die „Regeln des globalen Spiels“ in und außerhalb der WTO zu definieren. Im Kern aber handelt es sich beim TTIP und vor allem bei TISA darum, politische Regulierungen auszuhebeln, die heute oder in der näheren Zukunft die Gewinne von transnationalen Unternehmen und deren Anteilseignern respektive die Renditen von institutionellen oder privaten Geldgebern schmälern könnten…
Fragt sich nur, wieso Unternehmen mit Sitz in den USA oder in der EU zukünftig eine deutlich höhere Investitionssicherheit brauchen. Sind nicht beispielsweise die rechtlichen Rahmenbedingungen für Investitionen in Deutschland ein wesentlicher Grund dafür, weshalb ausländische Investoren schon heute mehr als die Hälfte der Aktien an den 30 Unternehmen des Deutschen Aktienindex halten?
Es geht wohl eher darum, durch die Androhung von millionenschweren Entschädigungszahlungen Regierungen langfristig daran zu hindern, von ihrer demokratischen Freiheit Gebrauch zu machen – um beispielsweise bestimmte Sektoren der Wirtschaft unter öffentliche Kontrolle zu stellen oder um bereits eingeleitete Privatisierungsmaßnahmen wieder rückgängig zu machen. TTIP und Co. sollen dafür sorgen, dass jede „sozial-ökologische Wende“ auch in Zukunft ausgeschlossen bleibt.
Quelle: WSI Mitteilungen [PDF – 78,4 KB]
Quelle: Sozialpolitik aktuell.de [PDF – 141 KB]
Hinweis: Auch diesen Monat wieder viele interessante Dokumente und Studien auf Sozialpolitik aktuell in Deutschland.
Ergänzender Hinweis unseres Lesers J.A. auf einen User-Kommentar: “Morgen kommen dann wieder Jubelmeldungen, wie gut es Deutschland geht, wie sehr die Einnahmen des Staates sprudeln und im Subtext wie unnötig es ist, die armen Reichen mit Dingen wie Vermögenssteuer etc. zu behelligen, wo diese doch das Geld so sehr für das Zocken an der Börse und das Erzeugen von Blasen aller Art benötigen (beispielsweise einer wunderschön-schillernden Immobilienblase in Berlin).”
Anmerkung Orlando Pascheit: Nun ist Bernd Ulrich ganz gewiss nicht der Lieblingsjournalist der NachDenkSeiten. So fordert er z.B. zu einem neuen Nachdenken auf und formuliert: “Zu einer neuen Ehrlichkeit würde auch das Eingeständnis gehören, dass der Westen sich mit Entwicklungen konfrontiert sieht, die er nicht vorausgesehen, die er unterschätzt oder schlicht noch nicht verstanden hat. Und sosehr man sich hier auch selbst kritisieren kann und soll, so offenkundig ist doch auch: Unglücklicherweise ist der Westen nicht an allem Schuld, leider hat er nicht die Macht, allein durch Selbstverbesserung die Welt zu verbessern.” In dieser Ehrlichkeit fehlt allerdings ein klares Bekenntnis dazu, dass der Westen viele Probleme, mit denen er heute zu kämpfen hat, selbst verursacht hat. Auch ist es fast peinlich, dass ein intelligenter Mann wie Ulrich, noch nicht mitbekommen hat, was amerikanische Wissenschaftler nachgewiesen haben, dass die Interpretation der US-Regierung betreffs des Giftgasangriffes in Syrien nicht stimmt. Keiner weiß bis heute, ob Assad oder Djihadisten verantwortlich sind. – Dennoch ist der Text lesenswert, um sich an seinen Aussagen und Fragestellungen abzuarbeiten.
Anmerkung AM: Das ist ein interessanter und wichtiger Beitrag. Kritisch anzumerken wäre:
Anmerkung Orlando Pascheit: Byung-Chul Han beleuchtet einen interessanten Aspekt des Neoliberalismus und sein Beitrag ist lesenswert, aber ganz so neu ist seine These nicht, zumindest für Ökonomen, die sich für Politik interessieren. Kern der neoliberalen Arbeitsmarktpolitik seit Schröder ist das Prinzip das “Fordern und Fördern” der Arbeitslosen, wobei die Ausweitung des Forderns das Fördern immer mehr verdrängt. Letzteres geschieht oft mit dem Hinweis auf die knappe Kassenlage. Aber auch weltanschaulich macht das Fordern das Fördern überflüssig – mit einem Wort: Selbstverantwortung bzw. mit der Individualisierung aller Lebenslagen. Auf der untersten Ebene geht es darum, dass ein jeder Arbeit bekommt, sofern er denn will, sofern er bereit ist jede Arbeit zu jedem Preis zu verrichten. Sicherlich sehr verkürzt, aber in der Tendenz richtig. (Natürlich stehen unserem Volumen an Unterbeschäftigung schon rein statistisch nicht genügend offene Stellen gegenüber) Auf einer anderen Ebene versuchen bereits Eltern ihre Kinder in der von Han beschrieben Weise auf Hochleistung zu trimmen. Zufällig habe ich heute mit einem Vater gesprochen, dessen Sohn sein Maschinenbaustudium abgebrochen hat und auf Wirtschaftsingenieur umgestiegen ist. Meine Frage nach dem Studium des Sohnes brachte den Vater gänzlich aus der Fassung. Es war eindeutig Scham. Welchem Druck setzt dieser Vater seinen Sohn mit dieser Haltung aus. Es wird ein ewiger Makel sein, dass sein Sohn “nur” den Wirtschaftsingenieur anstrebt, weil er technisch vielleicht nicht so begabt war. – In den USA reduziert sich der Grundsatz des Neoliberalismus kurz auf: “Jeder ist seines Glückes Schmied.”
Vor allem aber übersieht der Nichtökonom Han die repressive Ausbeutung nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern den zunehmenden Druck auf bzw. Umgehung von Arbeitnehmerrechten in den alten Industrienationen, der auf ein Zurück in die repressive Phase weist. Siehe z.B. den Film über die Praktiken eines Lars Larsen, den Chef des Dänischen Bettenlagers. Dennoch ist die Unterscheidung Hans zwischen der setzenden, repressiven Macht, die häufig auf Gewalt zurückgreift und der systemerhaltenden Macht, die im neoliberalen Regime sich sogar als Freiheit gibt, interessant. Denn letztlich bedeutet damit der Rückgriff auf dem alten Modus der repressiven Macht in den modernen Volkswirtschaften, dass Unterdrückung wie auch die Unterdrücker wieder sichtbar werden und damit die Chance einer Revolution.
Leserbrief eines Nutzers der NachDenkSeiten an die SZ: Sehr geehrte Redaktionsmitglieder der Süddeutschen Zeitung, einer der Intensiv-Beitragsschreiber hat die von Ihnen nun eingeführte Veränderung der Kommentarfunktion sehr höflich kommentiert: sie habe ein Geschmäckle von Bevormundung. Nachdem Herr Wüllner sich vor kurzem in eine Debatte eingeschaltet hat, mit der Androhung, er werde von seinem Hausrecht Gebrauch machen und den Blog schließen, hatte ich bereits die dunkle Vorahnung, es würden bald Maßnahmen einer verschärften Zensur erfolgen. Dass selbst die Diskussionen der Vergangenheit nun nicht mehr zugänglich sind (oder liegt da ein technisches Problem vor?), zeigt bereits, mit welcher Rigorosität man die neu ersonnene Maulkorbpraxis zu treiben gedenkt. Dass die Redaktion nun vorschreiben will, zu welchen Themen eine Diskussion gestattet wird, entspricht einer zugespitzten zum direkten Zensurinstrument instrumentalisierten Form des Agenda-Setting. Und die Verlagerung der Diskussion in Richtung sozialer Netzwerke schließt automatisch diejenigen aus, die aus Gründen der Datensicherheit von diesen Formen öffentlicher Selbstdarstellung – aus zumindest nachvollziehbaren Gründen – Abstand halten. – Übrigens fiel es mir in der Vergangenheit bereits auf, das es nicht immer nur die polemisch prononcierten Beiträge mit parodistisch-satirischem Zungenschlag waren, die von Ihnen herausgefiltert wurden. Einige meiner fundiertesten Kommentare, auf die ich auch etwas mehr Zeit als üblich verwandt habe und die durchaus auch einen gewissen Aufklärungs- und Informationswert hatten, wurden ebenfalls abgefangen, während zur selben Zeit harmlose Danksagungen an andere Kommentatoren – sei´s für informative Links, sei´s für besonders scharfsinnige Beiträge – mühelos den informationellen Schlagbaum passieren konnten. – Viele der Leser haben sich immer wieder massiv beklagt, dass die SZ mehr und mehr zur Hauspostille der Atlantik-Brücke zu verkommen drohe und statt die selbstständige Meinungsbildung der Leser durch seriös recherchierte Informationen zu fördern, zunehmend in indoktrinierender Form aktiv werde. Jetzt holen Sie zu einem informationsstrategischen Rundumschlag aus, mit dem Sie viele der Ihnen noch verbliebenen kritischen Leser vertreiben werden. Anschließend können Sie dann zufrieden verkünden, wie hoch der Anteil der konsentierenden Leserschaft ist und in politisch brisanten Fragen können sie dann einen allgemeinen Sinneswandel (zugunsten des von Ihnen lancierten Standpunkts) verkünden. Ich würde Sie bitten, ihre Maulkorbstrategie (denn – im Klartext – handelt es sich um nichts anderes) noch einmal zu überdenken. Leider mache ich mir wenig Hoffnung, dass Sie zurzeit in dieser Angelegenheit noch zu reflektierender Überprüfung bereit sind , da die resolute Entschlossenheit, mit der Sie derzeit sich bemühen, die (verlorene) Meinungsführerschaft über die eigensinnigen Leser wiederzuerlangen, solche Vehemenz angenommen hat, das Sie sogar bereit sind dafür die Abwanderung vieler Leser in Kauf zu nehmen. Für mich waren die Kommentar-Blogs der eigentlich interessante Teil, während die Artikel der SZ häufig durch fehlende Objektivität und durch ihren allzu durchsichtig tendenziösen Charakter einer Aufforderung an den Leser gleichkamen, sich geistig von den redaktionellen Meinungsführern an die Hand nehmen zu lassen. – Fast könnte ich melancholisch werden, wenn ich an die Zeiten zurückdenke, da die Süddeutsche Zeitung noch den Ruf eines seriös recherchierenden, investigativen, um objektive Darstellung bemühten Publikationsorgans genoss, das einen wichtigen Beitrag leistete zur allgemeinen, dem Mündigwerden der Bürger dieses Landes dienenden Aufklärung und Selbstaufklärung. Wir reden so viel von unseren Werten, doch die Maxime “Sapere aude!” wird nun offenbar von den Mitarbeitern der SZ für wertlos erachtet. Mit Immanuel Kant fragt man sich, ist es Feigheit oder Trägheit? Mit freundlichem Gruß
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=23102