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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Drei Buchbesprechungen von Achim Truger aus der FR
Datum: 26. Februar 2006 um 8:25 Uhr
Rubrik: Finanzen und Währung, Rezensionen, Soziale Gerechtigkeit
Verantwortlich: Albrecht Müller
Heribert Prantl, studierter Jurist und Historiker, hat sich in seinem beruflichen Leben schon als äußerst vielseitig erwiesen. Er arbeitete zunächst als Richter und Staatsanwalt, bevor er Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung in München wurde. Heute ist der mehrfach preisgekrönte Journalist dort Leiter des Innenressorts. Mit “Kein schöner Land” hat Prantl nun eine Streitschrift zur Verteidigung von sozialer Gerechtigkeit und Sozialstaat gegen die neoliberalen Radikalreformer vorgelegt.
Angesichts der immer noch bestehenden unglaublichen Übermacht der Deregulierer und Sozialstaatskritiker in Wirtschaft, Politik und Medien ist eine solche Streitschrift einerseits hoch willkommen. Sie birgt andererseits jedoch auch erhebliche Risiken. So besteht die Gefahr, angesichts berechtigter moralischer Empörung die ökonomische Analyse zu vernachlässigen. Oder umgekehrt vor lauter abstrakter ökonomischer Analyse die moralischen Hintergründe und individuellen Betroffenheiten auszublenden. Heribert Prantl vermeidet beide Risiken mit Bravour. Er hat mit seinem Buch ein kleines Kunstwerk geschaffen.
In nüchternen Worten ist der Inhalt schnell zusammengefasst. Prantl geht es um soziale Gerechtigkeit im Sinne der Verringerung von Ungleichheit und der Herstellung gleicher Lebenschancen für alle durch den Sozialstaat. Er stellt fest, dass diese soziale Gerechtigkeit schon seit langem auf dem Rückzug ist. Nach Ansicht der herrschenden Debatte sei dieser Rückzug ökonomisch notwendig, um die Wirtschaftskrise zu überwinden. Dagegen argumentiert Prantl, die Zunahme der Ungleichheit sei nicht nur ökonomisch kontraproduktiv, sondern gefährde überdies die Demokratie als solche. Als Lösungsvorschläge unterbreitet er unter anderem die Sicherung der Finanzierung des Sozialstaates über entsprechende Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen sowie eine offensive Bildungs- und Familienpolitik.
Dass der Autor dies schreibt ist richtig und wichtig. Viel bemerkenswerter ist allerdings die Art, in der er es schreibt. Wortgewaltige Attacken gegen die Protagonisten der Reformdebatte wechseln sich ab mit klugen Hintergrundanalysen und alternativen Handlungsvorschlägen. Prantl versteht es, individuelle Betroffenheiten durch mitfühlende Analyse von Einzelschicksalen zu verdeutlichen. Geschickt arbeitet er die unglaubliche Divergenz von allgemein akzeptierten Gerechtigkeitsnormen in Grundgesetz und Länderverfassungen einerseits und der Missachtung dieser Normen in der praktizierten Politik andererseits heraus. Auch die Einseitigkeit und ökonomistische Verengung der deutschen Reformdebatte wird ausführlich thematisiert.
Die Wirkung auf die Leser ist erstaunlich. Sie werden klug und lehrreich unterhalten. Die Lektüre erzeugt Mitleid mit den Opfern von Sozialstaatsabbau und Ausgrenzung sowie Wut gegen die Verhältnisse. Sie stellt die zugrunde liegenden politischen und wissenschaftlichen Mechanismen bloß. Anders als viele andere kritische Analysen lässt sie Mitleid und Wut aber nicht in Resignation münden. Indem die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit als allgemein akzeptierte größte Selbstverständlichkeit dargestellt und mit einleuchtenden politischen Vorschlägen verbunden wird, wird die Wut zum gerechten Zorn. Dadurch wird die Hoffnung auf politische Gestaltbarkeit wieder geweckt.
Selbstverständlich können nicht immer alle von Prantl vorgenommenen Analysen und Lösungsvorschläge restlos überzeugen. So kann man seine Darstellung der demografischen Probleme durchaus als etwas überdramatisiert empfinden. Ebenso muss man bezweifeln, ob die von ihm positiv bewertete “duale Einkommensteuer”, also die steuerliche Privilegierung aller Kapitaleinkommen, tatsächlich ein Mehr an Verteilungsgerechtigkeit bedeuten würde.
Trotz dieser Kritikpunkte hat Heribert Prantl mit seiner sprachmächtigen Streitschrift eine echte Meisterleistung vollbracht. Kein Zweifel: Eines der besten und lesenwertesten Bücher in der aktuellen deutschen Reformdebatte.
Vier Wirtschaftsjournalisten haben mit “Wir kündigen!” ein Buch geschrieben, das den Menschen in Deutschland neue gedankliche Impulse geben soll. Dagmar Deckstein (Süddeutsche Zeitung), Peter Felixberger (Online-Magazin changeX), Michael Gleich (freier Journalist und Buchautor) sowie Wolf Lotter (brand eins) nehmen den Mund jedenfalls ziemlich voll: Laut Klappentext wollen sie Klartext reden und Leitbilder einer mutigen Zukunft entwerfen. Stagnation, “Reformhuberei” und Wortfälschung wollen sie bekämpfen und so den Aufbruch in eine bessere Gesellschaft befördern.
Geschehen soll dies über die optimistische Neu-Interpretation der “wichtigsten Schlüsselbegriffe in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft”. Wie in einem kleinen Handwörterbuch haben die Autoren 26 ihrer “Schlüsselbegriffe” mit einer neuen Interpretation versehen, der dann jeweils einige erläuternde Seiten folgen. Beispiele für solche Begriffe sind etwa Arbeit, Freiheit und Gleichheit.
Halten die Autoren, was sie versprechen? Nicht im Mindesten; das Buch ist über weite Strecken ein Dokument gedanklichen Scheiterns. Der Stil ist meist großspurig und ausschweifend, die Argumentation polemisch und widersprüchlich. Wirtschaftspolitisch sind die geäußerten Vorstellungen naiv und zumindest implizit marktradikal. Demokratisch legitimierte Politik und Politiker werden zutiefst skeptisch beäugt.
Dabei ist der Ansatz, den gegenwärtig weit verbreiteten Pessimismus und die in der Reformdebatte geschürte Zukunftsangst kritisch zu hinterfragen, zunächst durchaus vernünftig. Auch können Tipps, wie man mit Ängsten umgeht oder eine optimistischere Sicht der Dinge entwickelt, individuell hilfreich sein. Plumpe Stammtischpolemik
Aber werden die angeblich “schillernden bis verluderten” Schlüsselbegriffe bisher wirklich von den “Angstdebatten der Besitzstandsbewahrer” geprägt? Kann man Deutschland im Ernst als “quasifeudalistischen Föderalstaat” bezeichnen? Sind die Gewerkschaften tatsächlich eines der “inzwischen nutzlosesten Produkte der industriellen Gesellschaft”? Wie solch plumpe Stammtischpolemik mit dem im Buch viel beschworenen Geist der Aufklärung vereinbar sein soll, bleibt das Geheimnis der Autoren. Eher scheint es, die Autoren selbst sind den von ihnen angeprangerten gnadenlosen Vereinfachern auf den Leim gegangen. Lässt sich – jenseits aller Polemik – so etwas wie ein theoretischer Entwurf aus den Begriffsdefinitionen herauslesen? Da wäre die Betonung des Modebegriffs “Komplexität” die dem simplifizierenden “linearen Denken” entgegengesetzt wird. Dem mechanistischen “Entweder oder” das systemische “Sowohl als auch”. Allerdings wird die Unterscheidung methodisch nicht konsequent durchgehalten, sondern da eingesetzt, wo es opportun erscheint. Wenn die Autoren sich zum x-ten Male selbst widersprechen, ist das wohl kein logischer Fehler, sondern Ausdruck höherer Komplexität.
Und die zugrunde liegende Wirtschaftstheorie? Sie wird eigentlich nirgends offen thematisiert. Allerdings wird auch so schnell klar, welche Vorstellungen das Buch prägen. Die Nützlichkeit freier Entfaltung der Individuen auch auf den Märkten wird überhöht. Gleichzeitig wird staatlicher Einfluss in Form von Regulierung und Umverteilung fast überall als schädlich verunglimpft. Obwohl die Autoren sich doch eigentlich kritisch von der Reformdebatte absetzen wollten, haben sie in Wirklichkeit die theoretische Basis ihrer marktradikalsten Protagonisten komplett übernommen. “Handeln statt Jammern”
Naiv bis zynisch ist, in welche individuellen Handlungsempfehlungen dies mündet. Die freien, unsagbar optimistischen und aktiven Individuen nehmen ihr Leben beherzt selbst in die Hand. Wenn es keinen Arbeitsplatz mehr gibt, macht man sich halt selbständig oder entdeckt, dass Geld nicht alles und abhängige Beschäftigung sowieso unfrei ist. Wenn es keine Kitas gibt, jammert die berufstätige allein erziehende Mutter nicht, sondern organisiert sich in Eigenregie mit anderen Betroffenen eine private Kinderbetreuung.
Man muss es so hart sagen: Die Autoren haben eines der dümmsten und schlechtesten Bücher der aktuellen deutschen Reformdebatte geschrieben.
Hans Tietmeyer hat mit seinem Buch “Herausforderung Euro” einen ausführlichen Rückblick auf die Entstehungsgeschichte der gemeinsamen europäischen Währung vorgelegt. Wie kaum ein Zweiter in Deutschland scheint Tietmeyer aufgrund seines beruflichen Werdegangs dafür prädestiniert: Den Weg zur Europäischen Währungsunion (EWU) hat er von Anfang an mitgestaltet – in der entscheidenden Phase in den 90er Jahren sogar sehr maßgeblich als Präsident der Deutschen Bundesbank. Allerdings ist Tietmeyer alles andere als ein neutraler Zeitzeuge. Der mittlerweile 74-jährige Ökonom war Zeit seines beruflichen Lebens ein äußerst einflussreicher Marktliberaler – und er ist es noch.
Schon seit Ende der 60er Jahre als Abteilungsleiter im Bundeswirtschaftsministerium konnte er seine radikalen Ideen politisch einspeisen. 1982 gehörte er als Mitautor des so genannten Lambsdorf-Papiers, das maßgeblich zum Auseinanderbrechen der sozial-liberalen Koalition beitrug, zu den Wegbereitern der Kohl-Regierung. Einer anschließenden Tätigkeit als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium folgte 1990 sein Wechsel in den Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank, deren Präsident er von 1993 bis 1999 war. Seit dem Jahr 2000 ist Tietmeyer nun Vorsitzender des Kuratoriums der “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft”. Diese Initiative hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Politik mit marktradikalen Vorschlägen zu versorgen und den aus Sicht der Geldgeber mangelnden Reformwillen der Bürger zu stärken.
Vor diesem biographischen Hintergrund sind Tietmeyers wirtschaftspolitische Überzeugungen wahrlich keine Überraschung. Schließlich hat man es mit einem der Urheber der deutschen Radikalreformdebatte zu tun: Vehement tritt er für die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB), die unbedingte Einhaltung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und ansonsten für die Deregulierung und Flexibilisierung vor allem der Arbeitsmärkte ein.
Besonders informativ oder gar anregend ist Tietmeyers Rückblick nicht gerade. In stellenweise trockenstem Bürokratendeutsch lässt er seine persönlichen Eindrücke Revue passieren. Zwar schildert er häufig recht ausführlich das Zustandekommen zentraler Einigungen auf europäischer Ebene. Dabei nennt er viele prominente Namen und politische Motive der beteiligten – vor allem deutschen und französischen – Akteure. Spektakuläre Enthüllungen sind jedoch nicht dabei. Eher ist das Ganze eine ausführliche Lern- oder Erinnerungshilfe für all diejenigen, die das in der damaligen Tagespresse geschilderte entweder noch nicht kennen oder aber vergessen haben. Den zahlreichen Fotografien kann man auf jeden Fall entnehmen, dass Hans Tietmeyer fast immer und überall dabei war.
Dennoch kann die Lektüre von Tietmeyers Werk in einem eher indirekten Sinne nützlich und sehr aufschlussreich sein. Mit riesigem Selbstbewusstsein und der größten Selbstverständlichkeit werden dort unglaubliche wirtschaftspolitische Einseitigkeiten geäußert und zentrale wirtschaftstheoretische Streitpunkte unter den Teppich gekehrt. Dass die deutsche Bundesbank auf dem gesamten Weg zur EWU mit ihrer Fixierung auf die Preisstabilität der eigentlich dominierende Akteur war, wird zudem mehr als deutlich. Aus Tietmeyers Sicht gab es letztlich immer schon die “stabilitätsorientierte” Bundes(bank?)republik und seltsame andere Länder wie Frankreich, die aus unerfindlichen Gründen eine unverantwortliche Weichwährungspolitik betrieben. Dass häufig eine große Mehrheit von internationalen Ökonomen die “Stabilitätsorientierung” der Bundesbank gesamteuropäisch für makroökonomisch schädlich hielten, ist offenbar kaum der Rede wert.
Tietmeyers Buch verdeutlich damit eindrucksvoll das Ausmaß des Sieges und der politischen Gestaltungsmacht marktradikaler Ideologien in Deutschland wie Europa. Nach der Lektüre ist umso klarer, dass der Schlüssel zu mehr Wachstum und Beschäftigung in der Überwindung des marktradikalen Dogmas und in einer entsprechenden institutionellen Reform von EZB und Stabilitäts- und Wachstumspakt liegt.
Achim Truger
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