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Titel: Der Überfall auf den Antikriegstag

Datum: 2. September 2014 um 8:35 Uhr
Rubrik: Aufrüstung, Gedenktage/Jahrestage, Militäreinsätze/Kriege
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Am Tag, an dem vor 75 Jahren die deutsche Wehrmacht auf Befehl Hitlers Polen überfallen hat, haben der Bundespräsident, die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag diesen Antikriegstag „überfallen“. Joachim Gauck heizte den Konflikt in der Ukraine an. Kanzlerin Merkel setzt die neue Militärdoktrin durch, wonach „militärische Interventionen“ als Möglichkeit für politische Lösungen gelten. Das Parlament findet sich damit ab, bei der deutschen Unterstützung einer Kriegspartei mit Waffen nur noch Beifall klatschen zu dürfen. Der Überfall auf Polen, wäre ein Gedenken wert gewesen, wie Kriege verhindert werden könnten, statt dass Reden gehalten werden und Entscheidungen getroffen werden, mit denen Kriegs- und Waffeneinsätze legitimiert werden. Von Wolfgang Lieb.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Heute vor 75 Jahren begann hier auf der Westerplatte der Zweite Weltkrieg. Mehr als 110 Millionen Menschen standen unter Waffen, fast 60 Millionen kamen um. Mehr als 60 Staaten waren in diesen Krieg verwickelt, in einem Waffengang, der erst nach sechs Jahren endete und mit dem Völkermord an den Juden eine bis dahin unbekannte Grausamkeit und Menschenverachtung erreichte.“

So lauten die Einleitungssätze der Rede von Bundespräsident Joachim Gauck auf der Gedenkfeier zum deutschen Überfall auf Polen.

Der Zweite Weltkrieg „begann“ – sagt Gauck – vor 75 Jahren. Er begann, so könnte man aus der Formulierung ableiten, wie ein Fußball-Spiel oder wie eine Feier zum Herbstanfang „begann“.

Nein, Herr Bundespräsident, am 1. September 1939, also vor 75 Jahren nahm das deutsche Marineschiff „Schleswig Holstein“ den polnischen Militärposten auf der Westerplatte unter Beschuss und zur gleichen Zeit bombten deutsche Bomber auf Polen.

Nein, Herr Bundespräsident, da „begann“ nicht der Zweite Weltkrieg, sondern die deutsche Armee hat auf Befehl Hitlers („Seit fünf Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen“) mit dem Überfall auf Polen die Katastrophe ausgelöst, deren Ausmaß Sie in den nachfolgenden Sätzen auflisteten.

Einen solchen Einstiegssatz in eine Gedenkrede auf den „deutschen Überfall auf Polen 1939“, nenne ich eine Verharmlosung, nein, eine Verschleierung der historischen Wahrheit.

Das ist nicht nur Sprachklauberei, nein, hinter dieser Sprache steckt Gesinnung. Genauso unhistorisch und die Wahrheit verschleiernd wie mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geht nämlich Joachim Gauck auch mit dem gegenwärtigen Krieg in der Ukraine um:

„Wie irrig der Glaube, die Wahrung von Stabilität und Frieden habe endgültig Vorrang gewonnen gegenüber Machtstreben. Und so war es ein Schock, als wir mit der Tatsache konfrontiert wurden, dass am Rande von Europa wieder eine kriegerische Auseinandersetzung geführt wird. Eine kriegerische Auseinandersetzung um neue Grenzen und um eine neue Ordnung. Ja, es ist eine Tatsache: Stabilität und Frieden auf unserem Kontinent sind wieder in Gefahr.
Nach dem Fall der Mauer hatten die Europäische Union, die NATO und die Gruppe der großen Industrienationen jeweils besondere Beziehungen zu Russland entwickelt und das Land auf verschiedene Weise integriert. Diese Partnerschaft ist von Russland de facto aufgekündigt worden. Wir wünschen uns auch in Zukunft Partnerschaft und gute Nachbarschaft. Aber die Grundlage muss eine Änderung der russischen Politik und eine Rückkehr zur Achtung der Prinzipien des Völkerrechts sein.
Weil wir am Recht festhalten, es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzen wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen. Und deshalb stehen wir ein für jene Werte, denen wir unser freiheitliches und friedliches Zusammenleben verdanken. Wir werden Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten lassen sich in diesen Grundfragen nicht auseinanderdividieren, auch nicht in Zukunft.
Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Die Geschichte lehrt uns aber auch, dass aus unkontrollierter Eskalation eine Dynamik entstehen kann, die sich irgendwann der Steuerung entzieht. Deshalb strebt Deutschland – wie die ganze Europäische Union – nach einer deeskalierenden Außen- und Sicherheitspolitik, die Prinzipienfestigkeit mit Kompromissfähigkeit, Entschiedenheit mit Elastizität verbindet – und die imstande ist, einer Aggression Einhalt zu gebieten ohne politische Auswege zu verstellen.“

So analysiert der Bundespräsident also die gegenwärtige Lage in der Ukraine und die politische Haltung der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten.

Herr Bundespräsident,
war eigentlich die „Osterweiterung“ der Europäischen Union (Siehe die Entwicklung hier), war die Erweiterung der Nato um Staaten des früheren Warschauer Paktes, also um Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, zusätzlich kamen noch die Sowakei, Slowenien, Albanien und Kroatien hinzu ausschließlich Ausdruck des „Glaubens (an) die Wahrung von Stabilität und Frieden“?

Waren die Nato-Pläne für eine Raketenschild – stationiert in Polen und Tschechien – nicht zumindest auch „Machtstreben“?

Die Behauptung, dass seit dem „Fall der Mauer…die Europäische Union, die NATO und die Gruppe der großen Industrienationen“ Russland auf verschiedene Weise „integriert“ hätten, ist schlicht eine Verfälschung der Geschichte. Wo ist auf russische Belange eingegangen worden? War diese „Partnerschaft“ nicht mehr als einseitig, nach dem Motto „Und willst Du nicht mein Partner sein…..“?

Warum ortet Joachim Gauck die Ukraine „am Rande Europas“ an? Gehört Russland nicht auch zu Europa? Sprach Gorbatschow, dem Deutschland die friedliche Einigung zu verdanken hat, nicht von einem „gesamteuropäischen Haus“, das Russland einschloss? Wer in Westeuropa oder in den USA hat für dieses Haus auch nur einen Plan entworfen?

Wer hat eigentlich in der Ukraine mit einer „kriegerischen Auseinandersetzung“ begonnen? Wie und durch wen wurde in Kiew, in der Westukraine, eine „neue Ordnung“ durchgesetzt? Warum wollte eigentlich der Osten in der Ukraine an der alten „Ordnung“ festhalten?

Ist die Voraussetzung von „Partnerschaft und guter Nachbarschaft“ wirklich nur einseitig auf der Grundlage einer „Änderung der russischen Politik“ möglich?

Verlangt „Partnerschaft“ nicht Gleichberechtigung und Rücksichtnahme auf die Interessen des Partners? Setzt „gute Nachbarschaft“ nicht gegenseitige Hilfsbereitschaft voraus?

Von einem Bundespräsidenten, dem es um historische Wahrheit ginge, die ja bekanntlich im Krieg immer zuerst stirbt, hätte man – zumal am Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs – erwarten dürfen, dass er Antworten auf solche Fragen sucht.

Nicht so Joachim Gauck – er analysiert gerade nicht die historische Entwicklung der Situation in der Ukraine und das dazugehörige politische Umfeld. Er redet zwar von einer „deeskalierenden Außen- und Sicherheitspolitik“, er entwickelt aber keinen einzigen Gedanken dazu. Im Gegenteil, er eskaliert den vorhandenen Konflikt:
„Wir werden Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen.“

Das heißt doch im Klartext: Wir werden politisch, wirtschaftlich und militärisch auf Konfrontation gehen

Parallel dazu:

Am Vorabend, an dem an den Überfall auf Polen und an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gedacht wird, beschließt die Bundesregierung einen Tabubruch und entscheidet, Waffen in ein akutes Krisen-, genauer gesagt, Kriegsgebiet zu liefern.

Man kämpft also nicht mehr selbst, man lässt kämpfen – in diesem Fall die Kurden.

Deutschland ist damit Kriegspartei, zumindest Finanzier und Unterstützer einer Kriegspartei in einem Krieg geworden. Der Bundestag, der vor einer Beteiligung an einem kriegerischen Einsatz eigentlich zustimmen müsste, darf am „Antikriegstag“ nachträglich nur noch Beifall klatschen. Die Kritiker haben ein paar Minuten Redezeit.

Bundeskanzlerin Merkel hat an diesem Gedenktag an einen Krieg mit Millionen von Toten die neue deutsche Militärdoktrin durchgesetzt, „militärische Interventionen“ Deutschlands, also Krieg, als Möglichkeit für politische Lösungen zu betrachten. Und auch für Waffenlieferungen in Kriegsgebiete ist ein Präjudiz geschaffen.

Wie der Bundespräsident in Polen hat auch die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung im Bundestag keinen einzigen Gedanken dafür aufgewandt, wie es historisch zu den Gräueltaten der Terrorgruppe IS kommen konnte, die nun durch deutsche Waffen in der Hand von Kurden bekämpft werden sollen.

Wie wird der Bundestag entscheiden, wenn die kurdische PKK vom Nato-Partner Türkei mit Waffengewalt einen eigenen Kurdenstaat verlangt? Stoßen dann deutsche Panzer auf deutsche Panzerabwehrwaffen?

Was haben Kriegsgedenktage für einen Sinn, wenn nicht darüber nachgedacht wird, wie es zu einem Krieg gekommen ist?

Zugegeben, die Kriege in der Ukraine und im Irak sind schon im Gange, wenn aber die Katastrophe schon eingetreten ist und wenn es schon um die Einhaltung von Menschenrechten und um die Verhinderung von weiteren Massenmorden gehen soll, warum hat dann die Bundesregierung nicht den geringsten Versuch unternommen, sich bei der Entscheidung für Waffenlieferungen um ein völkerrechtlich abgesichertes Mandat durch die Vereinten Nationen zu bemühen. Warum stützt man sich bei seinen Entscheidungen für eine militärische Unterstützung nur auf Entscheidungen einiger anderer Länder oder der Militärorganisation Nato und nicht auf eine Mandatierung durch die Völkergemeinschaft in der UN.

Wer das Völkerrecht verteidigen will und wer die Menschenrechte durchsetzen will, der darf sich nicht einfach nur auf aus der Aktualität entsprungene politische Abwägungen stützen – und seien sie noch so moralisch begründet -, er muss auf die Institutionen des Völkerrechts und zur Einhaltung der Menschenrechte setzen und daraus sein Vorgehen legitimieren. Alles andere ist die Rückkehr zum Faustrecht.

Der Überfall auf Polen wäre ein Gedenken wert gewesen, wie Kriege verhindert werden könnten. Stattdessen wurden Reden gehalten, mit denen Kriegs- und Waffeneinsätze legitimiert werden. Das nenne ich einen Überfall auf den Antikriegstag.


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