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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Bildungsreformen ohne Verbesserungspotential
Datum: 24. April 2007 um 8:15 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Chancengerechtigkeit, Soziale Gerechtigkeit
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
An allen Ecken und Enden wird das deutsche Bildungssystem „reformiert“. Ziel sei, so die einhelligen Verlautbarungen der Politik, eine Erhöhung der Chancengleichheit. Tatsächlich jedoch ist mit Chancengleichheit längst nicht mehr, wie einst, die soziale Emanzipation einer Klasse, sondern lediglich noch die Wettbewerbsmobilmachung von Individuen gemeint. Mit der Konsequenz, dass Ungleichheit im Zuge solcher Maßnahmen nicht etwa ab-, sondern vielmehr hinter dem politisch wie sozial blinden Konstrukt vermeintlicher „Leistungsgerechtigkeit“ verschleiert, modernisiert und ausgebaut wird. Ein Beitrag von Jens Wernicke.
Die Aussage, Bildung und Wissen seien für das individuelle Durchkommen in der heraufdämmernden „Informationsgesellschaft“ immer wichtiger, ziert mittlerweile alle programmatischen Texte zur Bildungspolitik. Jürgen Rüttgers wird hierbei das geflügelte Wort zugeschrieben, dass „Bildung die soziale Frage des 21. Jahrhunderts“ sei.
Mit solchen Aussagen und Konzepten werden jedoch de facto vor allem eine Neubewertung des Bildungssystems innerhalb des gesellschaftlichen Ensembles sowie eine Neujustierung der staatlichen Bildungsfinanzierung kolportiert.
Ganz im Sinne der Politik und Konzepte der Weltbank und anderer transnationaler Akteure zielen solche Aussagen auf eine Reformagenda, die den Staat letztlich zukünftig auf die Aufgabe einer Stärkung der Grundbildung beschränkt, wohingegen die gehobenen Bildungssegmente mehr und mehr durch private Eigenbeteiligung marktförmig erschlossen werden sollen.
Diese Reformziele sind schon deshalb problematisch, weil sie in letzter Konsequenz auf eine Kompensation jeglicher Sozialpolitik durch Bildungspolitik hinausläuft. Unter dem Deckmantel der Etablierung von „mehr Chancengleichheit“ im Bildungssystem findet eine „Modernisierung von Auslesemechanismen“ statt.
Chancengleichheit als Legitimationsfigur für soziale Ungleichheit
Die aktuellen „Verbesserungen“ im Bildungssystem folgen stets der Prämisse, dass, wenn an einer Stelle mehr ausgegeben, so an einer anderen mehr eingespart werden muss. Diese apolitische Grundhaltung, welche die Frage der gesellschaftlichen Ressourcenverteilung auf eine Umverteilung innerhalb einzelner Politikbereiche degradiert, hat unter anderem zur Folge, dass (auf der einen Seite) Studiengebühren eingeführt und an den Hochschulen weiter gekürzt werden kann, während (auf der anderen Seite) KiTas ausgebaut und mehr in Grundbildung investiert werden sollen. In diesem Sinne werden durch sie auch keine neuen Bildungsressourcen geschaffen, sondern lediglich bereits bestehende umverteilt: Im unteren Bildungsbereich wird perspektivisch womöglich weniger, im oberen hingegen umso mehr “selektiert”.
Mit echter „Chancengleichheit“ hat das wenig gemein. Tatsächlich wird dieser Begriff seit etwa Mitte der 90er Jahre politisch nicht nur inflationär gebraucht, sondern mehr und mehr uminterpretiert und zugleich in einen neuen sozialpolitischen Kontext gerückt.
In einer sehr treffenden Formulierung kritisierte die ehemalige NRW-Ministerin für Bildung und Wissenschaft, Gabriele Behler (SPD), Tagung zum Thema “Chancengleichheit” die Karriere dieses Begriffes im Verhältnis zur gesamten Geschichte ihrer Partei: ”Die Forderung nach Chancengleichheit im Bildungswesen war in den Anfängen der Arbeiterbewegung ein zentrales Instrument, über den
Diese Aussage verdeutlicht, dass es dem politisch momentan hegemonialen Begriff der „Chancengleichheit“ längst nicht mehr um die soziale Emanzipation einer Klasse sondern vielmehr um die Wettbewerbsfähigkeit von Individuen geht. Frei nach der Devise: In den KiTas werdet ihr alle unterstützt, wenn ihr hiernach in den Bereichen der höheren Bildung versagt, es nicht an die Hochschulen schafft etc., habt ihr eure „gleichen Chancen“ nicht hinlänglich genutzt.
In letzter Konsequenz läuft dies auf eine Begriffsumkehrung hinaus: In der Modernisierungsterminologie wird „Chancengleichheit“ dazu benutzt, um soziale Ungleichheit, Staats- und Sozialabbau zu legitimieren. Denn Ungleichheit ist ebenso Voraussetzung wie auch ständiges Resultat der Marktkonkurrenz, für welche die Individuen durch ein zu optimierendes Bildungssystem „ausgestattet“ werden sollen. Soziale Unterschiede werden durch solcherlei „Modernisierungen“ als „Leistungsunterschiede“ verschleiert und entpolitisiert.
Zunehmende Selektion im Hochschulbereich
Und tatsächlich zeigen die aktuellen Umgestaltungen im Hochschulwesen, dass fast jeder politische Impuls derzeit in Richtung einer solchen Verschärfung von Auslesemechanismen – nebst zunehmender Privatisierung – geht.
Jens Wernicke ist Mitglied im SprecherInnenrat der StipendiatInnen der Rosa-Luxemburg-Stiftung und war zuletzt im Vorstand des freien zusammenschlusses von studentInnenschaften (fzs) e.V. aktiv.
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