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Titel: Wenn Kapitalismuskritik zu kurz greift

Datum: 18. Juli 2014 um 13:54 Uhr
Rubrik: Ideologiekritik, Wichtige Debatten
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Anlässlich des zweiten Todestages des Kapitalismuskritikers Robert Kurz würdigt Götz Eisenberg heute auf den NachDenkSeiten dessen Werk und Leben. Der Artikel „Der Sieg der Ökonomie über das Leben“ enthält fraglos sehr interessante Denkanstöße und lädt förmlich zur Debatte ein. Dennoch ist er auch exemplarisch für einen Teil der Kapitalismusmuskritik – die vorkapitalistische Vergangenheit wird verklärt und der Kapitalismus für Fehlentwicklungen in Haftung genommen, für die er monokausal gar nichts kann. Doch wer die Zukunft besser gestalten will, sollte die Fehler und Schwachstellen des Kapitalismus lieber ohne ideologische Scheuklappen analysieren. Ein Debattenbeitrag von Jens Berger

Wenn man Robert Kurz liest, könnte man glatt zu dem Schluss kommen, dass die vorkapitalistische Zeit ein – wenn auch mit Makeln behaftetes – Paradies auf Erden war. Der Mensch war mit seiner Tätigkeit in Harmonie vereint, nicht ein ausbeuterisches kapitalistisches System, sondern der Wechsel der Jahreszeiten und die sinnstiftende Aufgaben bestimmten den Tagesablauf. Arbeit wurde nicht als „Arbeit“ wahrgenommen, man produzierte überwiegend für den eigenen Bedarf und da der Bedarf Grenzen hatte, wusste man auch, wenn es „genug“ mit der Arbeit ist. Wer ohne materielle Wünsche glücklich ist und die Arbeit Arbeit sein lässt, hat natürlich auch Zeit für Müßiggang und lebt im Einklang mit der Natur. Das liest sich schön, zu schön um wahr zu sein.

Der Mythos von der heilen vorkapitalistischen Zeit

Mit Ausnahme von Naturvölkern, die auf dem Niveau von Jäger- und Sammlerkulturen ein recht primitives Leben führten, war das Leben in der vorkapitalistischen Zeit jedoch ein wenig anders. Je nach Periode waren rund 90% der europäischen Bevölkerung leibeigene Bauern, denen nicht viel mehr als ihre primitive Kleidung gehörte. Man ernährte sich von Brei, Brot, Hülsenfrüchten und Dünnbier und erreichte nur in Ausnahmefällen ein Alter, mit dem man heutzutage an die Rente denken kann. Der Tod war regelmäßiger Begleiter. Kein Wunder, dass man da „enthemmt“ feierte, wenn man denn einmal die Möglichkeit hatte.

Dafür, dass man Land bestellen „durfte“, das inklusive der Produktionsmittel und den Hütten in denen man lebte fast ausnahmslos dem Adel oder dem Klerus gehörte, musste man Frondienste leisten – heute würde man das wohl als „Miete“ bezeichnen. Es ist richtig, dass diese „Miete“ je nach Region bis ins frühe 19. Jahrhundert in Naturalien bezahlt wurde und das universelle Tauschmittel „Geld“ in diesem Bereich erst vergleichsweise spät Einzug hielt. Doch dies macht die Sache auch nicht besser. Die Produktionsmenge war nämlich nicht durch die dafür investierte Arbeitszeit, sondern durch vorgegebene – natürliche – Grenzen beschränkt. Wer mitsamt zehnköpfiger Familie nur einen einzigen Morgen karges Land zu bestellen hatte, war natürlich in bestimmten Jahreszeiten bereits nach wenigen Stunden mit seiner Arbeit durch – jedoch nicht deshalb, weil er den Müßiggang bevorzugt, sondern weil er schlichtweg keine produktive Tätigkeit mehr finden konnte. Im Schnitt arbeitete ein Bauer im Spätmittelalter aufs Jahr gerechnet genau so viel oder wenig wie ein Arbeitnehmer in unserer spätkapitalistischen Zeit.

Natürlich gab es nicht nur Bauern, sondern auch den Adel und den Klerus und – vor allem in Städten – Handwerker und Arbeiter. Wesentlich besser als den leibeigenen Bauern ging es den freien Handwerkern und Arbeitern jedoch auch nicht. Wer beispielsweise als freier Lohnarbeiter in einem Bergwerk arbeitete, verdiente gerade einmal so viel, um die Miete und die Grundnahrungsmittel für seine Familie erwirtschaften zu können, um dann meist bereits im Alter von unter 40 Jahren zu sterben – Nässe, Kälte und Unterernährung waren nun einmal auch Bestandteile dieses vermeintlichen Paradieses. Ist dies die „Schönheit“, die nach Kurz durch die Marktwirtschaft aus der Welt verschwunden ist?

Kein Kapitalismus ohne Nachfrage

Ökonomisch ist diese Zeit vor allem durch eine nahezu komplett fehlende Nachfrage gekennzeichnet. Bauern hatten in der Regel kaum Geld, um sich Güter zu kaufen, die über die absolute Minimalversorgung hinausgingen. Arbeiter und Handwerker mussten den Großteil ihres Lohns für Grundnahrungsmittel und Miete ausgeben. Lediglich Adel, Klerus und einige wenige Händler, Handwerksmeister und – wie wir sie heute nennen würden – Akademiker hatten Geld, um sich vergleichsweise teure Manufaktur- und Fernhandelsgüter leisten zu können. Und wo es keine Nachfrage gibt, gibt es auch kein Angebot. Wo es keinen Markt gibt, gibt es keinen Anreiz mehr Güter zu produzieren. Wo es keinen Anreiz zur Produktion gibt, gibt es keinen Anreiz zur Investition und wenn es keine Investitionen gibt, dann bleibt Geld auch Geld und wird nicht zu Kapital. Angefangen bei den frühen Hochkulturen bis ins vorindustrielle Europa gab es keinen Kapitalismus, da es keine nennenswerte Arbeitsteilung gab und die Besitzer von Geld schlichtweg keine echte Möglichkeit hatten, ihr Geld zu investieren. Dies wiederum war eine direkte Folge der Massenarmut und keinesfalls ein herbeigesehnter Naturzustand.

Dennoch gab es auch in diesen Zeiten die negativen Nebenwirkungen, die mit dem Wachstum einer Zivilisation einhergehen. Man denke nur an den Binnenkolonialismus, der noch heute durch Ortsnamen, die auf -rode, -reuth oder -rath enden, sichtbar ist. Vor allem das Hochmittelalter mit seinem milden Klima hat dafür gesorgt, dass die wachsende Bevölkerung nicht mehr mit dem vorhandenen Ackerbauland ernährt werden konnte. Der Mensch tat, was der Mensch in solchen Situation tut. Er erschloss neues Land und holzte dafür die Wälder um, die Europa seit Jahrtausenden geprägt hatten. Europa veränderte sein Gesicht. Wo einst noch Laubwälder standen, wuchsen bald schon Getreide oder Monokulturen aus Nadelholz, das für den frühen Bergbau benötigt wurde. In Einklang mit seiner Natur lebte der Mensch auch in vorkapitalistischen Zeiten nicht. Eine kleine Eiszeit, Seuchen wie die Beulenpest und der Dreißigjährige Krieg setzten der Expansion jedoch schon bald ein Ende und der Europäer konnte über lange Zeit das Bevölkerungswachstum abfedern. Dieser Verzicht auf Expansion war jedoch nicht freiwillig – er war schlicht nicht nötig, da die Population so massiv geschrumpft war.

Der Kapitalismus betritt die Bühne

Der große Zeitenwechsel zwischen der vorkapitalistischen und der kapitalistischen Zeit war historisch gesehen eher ein Zufall. Zahlreiche Faktoren – auf die ich hier nicht näher eingehen will – führten im 18. Jahrhundert dazu, dass im eigentlich eher kargen Nordengland aus der Agrarrevolution, in der die landwirtschaftliche Produktion zum ersten Mal in der Geschichte nennenswert gesteigert werden konnte, eine industrielle Revolution werden konnte. Englische Arbeiter und Bauern, die für damalige Verhältnisse im internationalen Vergleich Spitzenverdiener waren, wurden zum wohl weltweit historisch erstem kaufkräftigen Massenmarkt. Die Kombination aus hohen Löhnen und einer nennenswerten Nachfrage (das erstere bedingt das letztere) führte zum Paradigmenwechsel. Nun gab es erstmals einen Grund, die Produktivität zu steigern und in Produktionsmittel zu investieren. Der Kapitalismus war geboren und sollte schon bald seinen Schrecken als Manchester-Kapitalismus verbreiten.

Wenn man Kapitalismuskritiker wie Robert Kurz liest, muss man glauben, dass dieser Frühkapitalismus noch heute fortlebt. Doch das ist nicht der Fall. Der Kapitalismus ist eine durchweg dynamische Wirtschaftsform. Seinen inneren Frieden wird er dabei nie finden können, da es stets zwei divergierende Interessen gibt. Der Kapitalismus kann nur dann funktionieren, wenn es eine stabile Nachfrage gibt, die im Idealfall von Jahr zu Jahr wächst. Eine stabile und vielleicht sogar wachsende Nachfrage gibt es jedoch in Friedenszeiten nur dann, wenn die Masse der Bevölkerung – und dies sind nun einmal die Arbeitnehmer – wachsende Reallöhne bekommen. Da Löhne für die Kapitalseite Kosten sind, setzt man seitens der Arbeitgeber jedoch alles daran, diese Grundvoraussetzung eines funktionierenden Kapitalismus außer Kraft zu setzen. So paradox es klingt – die größten Feinde des Kapitalismus sind die Kapitalisten.

Nun leben wir jedoch nicht mehr in früh-, sondern – so liest man – in spätkapitalistischen Zeiten. Angestoßen durch die Arbeiterbewegung hat die Politik den Kapitalismus über die Jahrzehnte hinweg gezähmt. Die Soziale Marktwirtschaft und der Sozialstaat waren und sind die Stellschrauben, mit denen die Gemeinschaft verhindern konnte, dass der Kapitalismus nicht nur Angst und Schrecken verbreitet, wie er es in seiner „Jugendzeit“ als Manchester-Kapitalismus getan hat. Leider haben wir als Gesellschaft diese Lektion verlernt.

Ungelöste Probleme und falsche Adressaten

Doch wenn heute die „Schönheit der Welt schwindet“, so ist dies auch und vor allem eine Folge des Fortschritts. Ohne Agrarrevolution und medizinischem Fortschritt wären wir auf der Welt immer noch wenige hundert Millionen Menschen. Es gäbe mehr Platz und – ja – mehr Schönheit. Kann man das aber dem Kapitalismus anlasten? Kann man – wie Kurz es stellenweise zelebriert – jede Fehlentwicklung seit 1760 auf den Kapitalismus schieben? Man kann, wenn man es sich sehr einfach machen will. Doch dann läuft man Gefahr, den Begriff „Kapitalismus“ zu einer großen Sammeltonne zu machen, in die man alles hineinschmeißt, was einem an der Welt nicht gefällt. Analytische Schärfe seiht anders aus. Und dabei bleiben die entscheidenden Fragen immer noch nicht beantwortet.

Selbstverständlich muss man sich die Frage stellen, ob es in einer hochproduktiven Gesellschaft „nötig“ ist, dass es auf der einen Seite Armut gibt und auf der anderen Seite die Arbeitszeiten und -bedingungen immer noch stark an den Manchester-Kapitalismus erinnern. Und natürlich müssen auch bei jedem aufmerksamen Beobachter die Alarmglocken schrillen, wenn man beobachtet, wie heutzutage der Kapitalismus von interessierter Seite wieder „verjüngt“ werden soll und sämtliche Errungenschaften der letzten Jahrzehnte Stück für Stück wieder abgeschafft werden. Diese – nennen wir sie „neoliberalen“ – Entwicklungen sind jedoch im eigentlichen Sinne der Bedeutung nicht kapitalistisch, sondern anti-kapitalistisch, da sie die tragende Säule des Kapitalismus, die stetige Nachfrage, angreifen.

Kapitalismuskritik? Ja! Aber bitte fundiert!

Die Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte mag Robert Kurz sogar Recht geben. Der Kapitalismus, von dem man glaubte, man habe ihn gezähmt, entwickelt sich momentan in seine wilde Urform zurück. Kritik ist hier nicht nur wichtig und richtig, sondern zwingend notwendig. Man sollte jedoch aufpassen, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, denn nicht alles im Kapitalismus „war“ schlecht.

Erst durch die ökonomische Logik – wie Kurz es pejorativ formuliert – konnte eine derart hoch arbeitsteilige Warenwirtschaft entstehen, in der auch Güter wie Breitbandantibiotika, Personal Computer und Mikrowellenherde entwickelt und – zumindest in den Industriestaaten – auch von breiten Massen genutzt werden können. Dies ist freilich nur durch eine dauerhaft hohe Massenkaufkraft möglich.

Natürlich sind derlei zivilisatorische Fortschritte theoretisch auch ohne ein Wirtschaftssystem denkbar, das vom Wunsch getrieben ist, über Investitionen Rendite zu erzielen und damit das Geld zu mehren. Hier setzt Robert Kurz ja auch mit seinem Werk an. Zweifelsohne – die Welt braucht Utopien und Visionen und dies ist Kurz auch hoch anzurechnen. Man sollte dies jedoch nicht mit einer fundierten Kapitalismuskritik verwechseln. Die meisten seiner Kritikpunkte haben erstaunlicherweise gar nichts mit dem Kapitalismus als solchem, sondern mit den Auswüchsen des Kapitalismus zu tun. In puncto Umweltverschmutzung muss sich der Kapitalismus beispielsweise nicht hinter seinem zeitweilig größten historischen Konkurrenten, dem „real existierende Sozialismus“, verstecken. Es ist nicht das Wirtschaftssystem, sondern die Politik, die die Leitplanken wirtschaftlichen Handelns bestimmt. Ein echter Schutz der Umwelt, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und ein Leben im Einklang mit dem „inneren Ich“ sind in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem möglich, wenn die Gemeinschaft es denn will und die Politik die dafür nötigen Leitplanken setzt. Im Umkehrschluss bedeutet die – wie auch immer konkret ausgestaltete – „Überwindung“ des Kapitalismus noch lange nicht, dass ein post-kapitalistisches System uns in ein Paradies führt.

Das Ziel einer besseren Zukunft können wir nur dann ernsthaft in Griff nehmen, wenn wir die Vergangenheit und die Gegenwart klar und ohne ideologische Scheuklappen analysieren. Mit zu kurz gedachter Kapitalismuskritik erweisen wir der nötigen Analyse jedoch einen Bärendienst.


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