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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Der SPIEGEL des „fröhlichen Biedermeiers“
Datum: 15. Juli 2014 um 9:44 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Innen- und Gesellschaftspolitik, Medien und Medienanalyse, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Die SPIEGEL-Titelgeschichte von dieser Woche „Wir sind wieder…wer?“ ist gleichsam ein Spiegelbild der Befindlichkeit der Spiegel-Redaktionslinie: Man nutzt die schwarz-rot-gold unterlegte nationale Fußballeuphorie, um das eigene Bild einer „entkrampften Nation“ zu malen, in der „fröhliches Biedermeier, kühler Nationalismus, egoistische Schonhaltung“ herrsche.
„Egoistisch“ sei die „Schonhaltung“, die eigenen Soldaten zu schonen. So wird die mangelnde Unterstützung für Gaucks (Steinmeiers und von der Leyens) Forderung nach einem stärkeren (militärischen) Engagement in der Welt durch die Deutschen kritisiert. Innenpolitisch seien die Deutschen „weitgehend saturiert“, sie würden von der Großen Koalition „gepampert“. Nur Außenpolitisch fehle ihnen die Orientierung, hier fehle ein Bundestrainer der eine klare Linie findet.
Der „szenische Essay über Deutschland“ ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich der SPIEGEL selbst zum „fröhlichen Biedermeier“ degradiert hat. „Wir“ als Fußball-Weltmeister müssten nur noch in der Außenpolitik unsere eigenen Soldaten nicht mehr schonen. Von Wolfgang Lieb.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Boulevard-Journalismus lebt von der Personalisierung. Auch in dem SPIEGEL-Essay werden ziemlich beliebig herausgegriffene Menschen mit ein paar Bemerkungen eingefügt, mit Zitaten, mit denen man – ohne selbst Farbe bekennen zu müssen – die eigenen Botschaften verstecken kann: „Wir sind ein unheimlich gutes Volk“, lässt man eine – natürlich einen Bikini tragende – 61-Jährige aus dem Strandkorb auf Sylt verkünden.
Übergangslos wird dann eingeflochten, dass Merkel bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Landung in der Normandie „wie eine Anführerin der Welt“ wirkte. Es gebe ein „neues Deutschlandgefühl“: „Leichtigkeit und Bedeutung“ – eben wie das Spiel der Nationalmannschaft im Halbfinale gegen Brasilien.
Bildlich untermalt wird dieses neue Deutschlandgefühl mit Fotos, bei denen die deutschen Kicker die gedemütigten Brasilianer trösteten und wo ein deutscher Soldat am Rande eines Militäreinsatzes notleidende afghanische Kinder beglückte.
„Unserem Land geht es so gut, alles ist so schön und neu hier auch bei uns zu Hause in Weimar“, zitiert der Spiegel einen Ossi der natürlich gerade in der Gourmetabteilung des Berliner KaDeWe sitzt, um die redaktionelle Botschaft zu verkünden, dass „insgesamt die Einheit geglückt“ sei und die Deutschen „Deutsche geworden“ seien.
Ein Albaner vom Münchner Viktualienmarkt darf den Zitatlieferant für die deutschen Tugenden abgeben:…“Die Argentinier machen immer so viele Kreuzzeichen, vier-, fünfmal hintereinander, das muss man auch mögen, so was haben die Deutschen halt nicht. Die machen mehr, was zu tun ist. Da wird nicht gebetet auf dem Platz. Beten hilft dir am Ende auch nicht. Du musst verstehen, was passiert, das ist es. Das ist deutsch…“ So nebenbei darf der Migrant auch noch für die Botschaft herhalten, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei und dass Ausländer und Deutsche sich aufeinander zu bewegten. „Wir sind ein Volk und zwar ein buntes. Auch das macht lockerer.“
Der Tourismuschef Berlins darf bezeugen, wie beliebt wir die Deutschen bis in den letzten Winkel der Welt inzwischen sind („Wir waren die Stars des Abends“ selbst in Ulan Bator) und wie sehr doch Berlin „die Metropole Entkrampfung“ sei. Der einzige Wermutstropfen sei der Berliner Flughafen und ein Technikchef, der im Verdacht stehe korrupt zu sein.
Selbst eine Österreicherin freut sich über den Tabubruch, dass sie sich öffentlich für Deutschland freuen kann.
Aus Dresden im SchillerGarten darf sich dann doch noch einer der notorischen Miesmacher zu Wort melden, der keine Fähnchen an sein Auto klemmen will, der ein WM-Endspiel noch zu sehr mit dem „Endsieg“ assoziiert. Es gebe diese „Bedrückung“ mit der Nazi-Vergangenheit noch immer, aber zum Glück hätten sich ja „die Deutschen…ein Stück weit aus der Selbstverdüsterung gelöst“. „Es gibt jetzt ein Erinnern mit Entsetzen, mit Traurigkeit, aber ohne komplett zu verkrampfen.“ Schließlich gebe es „wieder ein paar Jahre mehr Abstand zu den Zeiten des Nazi-Terrors und es gebe wieder ein besseres deutsches Image in der Welt, das auch mit den Fußballfesten seit 2006“ zu tun habe.
Ein Koch auf Sylt (warum eigentlich immer gerade Sylt, hat einer der Spiegel-Autoren da gerade seinen Urlaub gemacht oder hat er dort seinen Zweitwohnsitz?) darf die deutschen Tugenden verkörpern. Typisch deutsch bedeute für ihn: „hohen Arbeitseinsatz zeigen; den Willen, nach vorn zu gehen. Wir sind nicht umsonst Exportweltmeister.“ Es seien gerade auch diese deutsche Tugenden, die zur deutschen Leichtigkeit beitragen. „Als Folge von Fleiß, Disziplin und Folgsamkeit wächst dieser Wohlstand gerade.“
Es gebe einen wirtschaftlichen Aufschwung, der Frankreich und die südlichen Partner in der EU schlecht aussehen lasse. So wird getreu der Standortideologie das Niederkonkurrieren unserer europäischen Nachbarn kommentiert.
Und dann folgt eine lange Lobhudelei, wie sie in keiner Selbstbeweihräucherung der Großen Koalition schamloser betrieben werden könnte: „kleines Wirtschaftswunder“, „so viele Menschen hatten noch nie einen Job“, „die Löhne sind stark gestiegen“, „die Deutschen gehen shoppen, bis ihnen die Arme lang werden von den schweren Tüten“, „in diesem und im kommenden Jahr könnte die Wirtschaft um mehr als zwei Prozent wachsen“.
Die Realität dieses „Wirtschaftswunders“ sieht aber so aus,
Quelle: Bild.de
Quelle: destatis
Quelle: destatis
Das hohe Lied auf die Agenda-Reformen darf natürlich auch nicht fehlen: „Deutschland profitiert davon, dass es sich bereits um die Jahrtausendwende das Update für das 21. Jahrhundert verpasst hat…Wirtschaft und Gesellschaft haben sich angepasst, und das heißt vor allem: flexibilisiert…“
Diese „Update“ sieht dann in Wirklichkeit so aus, Zerstörung der gesetzlichen Rente und programmierte Altersarmut, Rente mit 67, Zerstörung der Arbeitslosenversicherung und der Sturz in die Bedürftigkeit des Hartz IV-Regimes nach einem Jahr. Und „Flexibilisierung“ heißt in der Realität, Verdrängung von sozial abgesicherten und ordentlich entlohnte Vollzeitarbeitsplätze durch Teilzeitarbeit und unsichere niedrig entlohnte Jobs, so dass inzwischen jede/r Vierte atypisch beschäftigt ist und prekäre Arbeit tief ins Normalarbeitsverhältnis eingedrungen ist, was heißt, dass in zwischen jeder Fünfte der knapp 20 Millionen Vollbeschäftigten nur noch knapp über der Armutsgrenze liegt.
Jedenfalls scheint die Begeisterung über die „flexiblen Arbeitswelten“ ziemlich einseitig auf der Arbeitgeberseite und in den Redaktionsstuben des SPIEGEL zu liegen: Im Herbst letzten Jahres meldete das Statistische Bundesamt, dass 6,7 Millionen Menschen mehr Arbeit wollen und dass sich 3,3 Millionen unfreiwillig als unterbeschäftigt betrachten (Siehe zu diesen Angaben hier).
Und um die plumpe Meinungsmache für die herrschende neoliberale Politik noch ein bisschen wissenschaftlich zu verbrämen, wird in der Spiegel-Titelgeschichte zu guter Letzt noch Clemens Fuest vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung zitiert:
„Zur positiven Entwicklung haben auch die Hartz-Reformen und die Vernunft der Tarifpartner beigetragen.“
Nun muss man wissen, dass ZEW ist ein der neoklassischen Wirtschaftsdogmatik verpflichteter Think-Tank, der die Senkung der Löhne als Heilsweg zur Senkung der Arbeitslosigkeit, den Arbeitsmarkt also wie einen Kartoffelmarkt betrachtet. Das ZEW ist von der Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg initiiert und wesentlich finanziert. Andere Studien wonach etwa die positive Beschäftigungsentwicklung nicht etwa ein Effekt der Agenda 2010 gewesen ist, würden bei diesem durchgängigen Loblied des SPIEGELs nur einen Misston beisteuern.
Um die Arbeitgeberpropaganda abzurunden, polemisiert der SPIEGEL dann noch gegen Angela Merkels „Geschenke“, also gegen Betreuungsgeld, gegen „Rente mit 63“ (schon allein diese unsinnige Formulierung nimmt diesem Beitrag jede Seriosität), Mütterrente. Man zeichnet das Katastrophengemälde der Konservativen nach: „Künftige Generationen werden dafür zahlen müssen“.
Deutschland mache derzeit den Eindruck, dass es so zufrieden ist mit allem, dass es den Status quo am liebsten einfrieren würde. Das sei „Biedermeier, aber immerhin ein fröhliches“.
Es fehlt eigentlich nur noch dass der Wunsch (wiederum) eines Sylter Rettungsschwimmer in Erfüllung ginge, es „müsste zweimal im Jahr WM sein.“
Eine „gute Idee“ stimmt das neunköpfige Spiegel-Autorenkollektiv zu.
Fehlt nur noch, dass Deutschland zweimal im Jahr die Fußball-Weltmeisterschaft gewinnt, dann wäre mit den Deutschen wirklich alles zu machen – Deutschland über alles eben.
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