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Titel: Andere Länder, andere Maßstäbe – Ägypten und die Lynchjustiz
Datum: 30. April 2014 um 9:18 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Länderberichte
Verantwortlich: Jens Berger
Stellen Sie sich doch bitte einmal vor, wie groß hierzulande die Aufregung wäre, wenn in Russland ein Regierungskritiker – in der hiesigen Sprachregelung „Regimekritiker“ – zum Tode verurteilt worden wäre. Andere Länder, andere Maßstäbe – in Ägypten wurden zum Wochenbeginn ganze 683 Regierungskritiker – in der hiesigen Sprachregelung „Terroristen“ – zum Tode verurteilt. Von Aufregung ist hierzulande jedoch nichts zu spüren. In den Medien wird dieser brutale Akt von Staatsterrorismus allenfalls beiläufig vermeldet und die Politik verfällt einmal mehr, wenn es um Ägypten geht in ein bleiernes Schweigen. Stattdessen drischt man lieber mit gesammelter Kraft auf Altkanzler Schröder ein, der die Unverfrorenheit besitzt, mit dem russischen Präsidenten zu sprechen. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Halten wir uns die Situation in Ägypten doch einmal abseits der allgegenwärtigen ideologischen Umdeutung vor Augen: Im August letzten Jahres putschte eine Militär-Junta die gewählte ägyptische Regierung aus dem Amt und verübte dabei Massaker, bei denen mehr als 1.000 Demonstranten abgeschlachtet wurden. Seitdem sind weitere 1.400 Regierungskritiker von den Sicherheitskräften getötet worden und tausende weitere sitzen in Haft. Bereits im März wurden 529 mutmaßliche Regierungsgegner zum Tode verurteilt. Der gesamte Prozess dauerte zwei Stunden, auf rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten, wie beispielsweise die Anhörung von Zeugen wurde ganz verzichtet. In dieser Woche legte die ägyptische Justiz nach: Nun wurden im Schnellverfahren weitere 683 Anhänger der alten Regierungspartei zum Tode verurteilt. Da bekommt der geflügelte Begriff „einen kurzen Prozess machen” eine ganz neue Bedeutung.
Was soll eigentlich noch passieren, bis der Westen, der sich ansonsten so demokratiefreundlich gibt und sein Hohelied auf die Menschenrechte predigt, zu Sanktionen greift? Setzt man die ideologische Brille auf, sieht die Lage jedoch klarer aus: Die gewählte Regierung gehörte – genau so wie sämtlich Todesopfer und zum Tode Verurteilte – der Partei der Muslimbrüder an. Und für Muslimbrüder gelten offenbar keine Menschenrechte.
Die ansonsten eher als liberal geltende NZZ ringt sich in einem Kommentar sogar dazu durch, dass man anlässlich der Todesurteile „nicht von [einem] undemokratischen Vorgehen sprechen [könne]”, da die Urteile schließlich „von der Mehrheit [des Volkes] getragen werden”. Mit derartigen Verdrehungen kann man wohl jeden von staatlichen Stellen angeordneten Massenmord als „demokratisches Vorgehen” reinwaschen und jeder Akt von Lynchjustiz bekäme das Prädikat „demokratisch”. In einer solchen „Demokratie“ möchte ich jedoch nicht leben.
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