Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: ver.di gelingt es auch im “Aufschwung” nicht, Verteilungsspielraum auszuschöpfen: Eine Faustregel für kommende Tarifverhandlungen
Datum: 16. April 2014 um 15:03 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Gestern früh meldete der Deutschlandfunk unter der Überschrift “Einigung im Tarifstreit: Drucker bekommen mehr Geld”, dass die rund 150.000 Beschäftigten der Druckindustrie mehr Geld erhalten. ver.di und der Bundesverband Druck und Medien hätten sich in der Nacht auf einen neuen Flächentarifvertrag geeinigt. Danach sollen die Löhne ab Mai um drei und im April nächsten Jahres noch einmal um ein Prozent steigen. Die Laufzeit des Tarifvertrags beträgt 27 Monate. Damit hat Verdi innerhalb kürzester Zeit bereits das zweite Mal in Folge den gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum (Produktivitätsentwicklung plus Inflationsziel der Europäischen Zentralbank) nicht ausgeschöpft. Und das, obwohl sich Deutschland doch im “Aufschwung” befindet, wie der Bundeswirtschaftsminister gleichfalls gestern wieder betont hat: Ein “Aufschwung auf breitem Fundament”, “die Einkommen der privaten Haushalte nehmen kräftig zu“, so Gabriel. Von Thorsten Hild [*]
Frank Werneke, und so viel Ehrlichkeit muss man dem stellvertretenden Vorsitzenden der Dienstleistungsgewerkschaft dann auch zu Gute halten, ließ immerhin erkennen, dass er mit dem Verhandlungsergebnis unzufrieden ist. Er sprach von einem “halbwegs akzeptablen Kompromiss” und machte deutlich, unter welchem Druck die Gewerkschaften bei den Tarifverhandlungen standen: “Nur der Streikbewegung in den vergangen Tagen und Wochen ist es zu verdanken, dass wir in der Druckindustrie einen halbwegs akzeptablen Kompromiss erzielen konnten. Die Arbeitgeber haben bis zum Schluss versucht, den Beschäftigten eine angemessene Einkommenserhöhung vorzuenthalten.”
Verteilungspolitisch ist der Abschluss aber noch weniger zu akzeptieren als der zuvor erzielte Abschluss für den öffentlichen Dienst. Das ist nicht in erster Linie den Gewerkschaften anzulasten. Sie sind mit der Agenda 2010 in die Defensive gedrängt worden. Eine wenig kampfesstarke und selbstzufriedene DGB-Spitze, charakterisiert nicht zuletzt durch die vielfache parteibuchnahe Nibelungentreue zur SPD, hat es der arbeitnehmerfeindlichen Gesetzgebung aus dem Deutschen Bundestag damals wie heute zudem allzu leicht gemacht. Man denke nur an die Bewertung des Mindestlohns durch den DGB-Vorsitzenden Michael Sommer und daran, dass der DGB seine Mindestlohnforderung von 8,50 Euro über Jahre weder der Inflationsrate noch dem gewachsenen Verteilungsspielraum angepasst hat. Allein anzuerkennen, wie Frank Werneke es tut, dass die Tarifeinigung in der Druckindustrie kein zufriedenstellendes Ergebnis ist, bedeutet da schon viel.
Aber auch Frank Werneke spart das zentrale Argument dafür, dass der Tarifabschluss nicht zufriedenstellend ist, aus: den gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum. Werneke ist damit nicht allein. Denn leider haben es die Gewerkschaften seit langem versäumt, diesen ausdrücklich zum Ausgangspunkt für ihre Lohn- und Gehaltsverhandlungen zu machen und entsprechende oder sogar darüber liegende Forderungen öffentlichkeitswirksam offensiv zu vertreten. “Darüber liegend” deswegen, weil ein tatsächliches Verhandlungsergebnis erfahrungsgemäß Abstriche bei der ursprünglichen Forderung hinzunehmen hat.
Dabei ist die Systematik nicht nur denkbar einfach, sie wäre auch denkbar einfach zu vermitteln. Umso erstaunlicher, dass sie in der öffentlichen Diskussion praktisch nicht mehr präsent ist. Dass das so ist, liegt wiederum auch mit an den Gewerkschaften. Während von den Arbeitgebern naturgemäß nicht zu erwarten ist, dass sie bei Tarifverhandlungen auf den gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum abstellen, weckt es doch schon Unbehagen, dass auch Gewerkschaftsspitzenfunktionäre lange Interviews führen, ohne über eine wesentliche Bestimmungsgröße des Verteilungsspielraums, die Produktivitätsentwicklung, noch weniger über den Verteilungsspielraum insgesamt ein Wort zu verlieren.
Die Faustregel
Um die Entwicklung der Arbeitsproduktivität – die Arbeitsproduktivität entspricht in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung dem preisbereinigten Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen oder je Erwerbstätigenstunde – angemessen zu berücksichtigen, gibt es zwei pragmatische Möglichkeiten: Man kann, erstens, die vom Statistischen Bundesamt im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgewiesene Entwicklung der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen oder je Erwerbstätigenstunde über die zurückliegenden Jahre heranziehen, daraus einen Durchschnitt bilden und diesen für die vorgesehene jährliche Laufzeit des Tarifvertrages fortschreiben. Man kann, zweitens, die Projektion des vom Bundeswirtschaftsministerium veröffentlichten Jahreswirtschaftsberichtes für das laufende Jahr zugrunde legen und diese für die vorgesehene jährliche Laufzeit des Tarifvertrages fortschreiben. Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung berechnet regelmäßig auf Basis der Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der verschiedenen Lohnindikatoren, ob der gesamtwirtschaftliche Verteilungsspielraum ausgeschöpft wurde. Bei der Entwicklung der durchschnittlichen Tarifverdienste präsentiert sich für die zurückliegenden Jahre folgendes Bild:
Laut der Jahresprojektion des Bundeswirtschaftsministeriums soll das BIP je Erwerbstätigen 2014 um 1,2 Prozent, das BIP je Erwerbstätigenstunde um 1,3 Prozent steigen (Jahreswirtschaftsbericht 2014 [PDF – 2 MB], Seite 48).
Damit die Arbeitnehmer keine Verteilungsverluste/Kaufkraftverluste durch die zu erreichende Preissteigerungsrate erleiden, müsste darüber hinaus das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) hinzugerechnet werden. Das Inflationsziel der EZB liegt “unter, aber nahe zwei Prozent”. Es ist daher angemessen, diesen Ausdruck in die Zahl 1,9 Prozent zu übersetzen. Der gesamtwirtschaftliche jährliche Verteilungsspielraum läge dann aktuell bei 3,1 bzw. 3,2 Prozent. Wollen die Gewerkschaften diesen durchsetzen, müssen sie ihre Forderung entsprechend höher ansetzen, sagen wir zwischen vier und fünf Prozent.
Das jüngst erzielte Tarifergebnis für den öffentlichen Dienst liegt unter dem so bestimmten jährlichen gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum. Es beträgt laut Verdi “5,7 Prozent mehr Geld in zwei Jahren”. Das sind 2,85 Prozent pro Jahr. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass der Verteilungsspielraum für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst über viele Jahre nicht ausgeschöpft worden ist, kann das Ergebnis die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eigentlich nicht zufriedenstellen. Allerdings gilt es hier immerhin positiv zu berücksichtigen, dass ein Mindestbeitrag von 90 Euro durchgesetzt wurde. “Durch den Mindestbetrag profitieren vor allem untere und mittlere Entgeltgruppen von einer überdurchschnittlichen Reallohnsteigerung“, kommentierte diesen Sachverhalt der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske.
Deutlich schlechter fällt allerdings das jetzt erzielte Ergebnis für die Druckindustrie aus. 27 Monate Laufzeit entsprechen 2,25 Jahren. Vier Prozent für 27 Monate entsprechen damit 1,8 Prozent pro Jahr. Damit wird nicht einmal das Inflationsziel der EZB ausgeschöpft.
Die gesamtwirtschaftliche Argumentation kultivieren
Genauso wichtig, wie die oben aufgezeigte Faustregel zu beherzigen, scheint mir zu sein, dass die Gewerkschaften im Tarifstreit wie beim Mindestlohn diese gesamtwirtschaftliche Argumentation offensiv ins Feld führen. Der Verteilungsspielraum muss wieder im Interesse der Beschäftigten wie im Interesse des sozialen Friedens und der europäischen Integration eingefordert werden. Nur dessen Ausschöpfung, wie oben beschrieben, sichert
Vor diesem Hintergrund ist es besonders zu bedauern, dass auch die jetzt vorgesehene Mindestlohnregelung diesen Kriterien nicht entspricht, allein deswegen schon nicht, weil sie die erst 2017 flächendeckend (aber mit Ausnahmen) gültige Mindestlohnhöhe nicht dem bis dahin gewonnenen Verteilungsspielraum anpasst. Vielmehr soll die Mindestlohnhöhe “erstmals zum 10. Juni 2017 mit Wirkung zum 1. Januar 2018″ angepasst werden (siehe dazu hier) – und zwar ohne die Orientierungsgröße der oben aufgezeigten Faustregel.
Eine verteilungsneutrale Festsetzung des Mindestlohns hätte ein wirksames Mittel gegen den von der Gesetzgebung der Agenda 2010, insbesondere von Hartz IV, ausgehenden Lohndruck darstellen können. Diese Chance wurde vertan. Umso größer die Herausforderung für die Gewerkschaften, wieder zu verteilungsneutralen Tarifabschlüssen zurückzufinden. Hierzu sollten die Gewerkschaften endlich auch dazu übergehen, Hartz IV und die damit verbundene Sanktionspraxis angemessen zu problematisieren bzw. zu skandalisieren und entsprechend in ihre Öffentlichkeitsarbeit zu integrieren. Nicht nur, dass sie damit auch den Arbeitslosen eine Stimme geben würden; sie würden damit auch den Ängsten derjenigen gerecht werden, die noch Arbeit haben, sich aber aus Angst vor Hartz IV allzu schnell dem Druck der Arbeitgeber beugen; damit würden die Gewerkschaften also auch ihre eigene Position in Tarifverhandlungen stärken.
[«*] Thorsten Hild arbeitet als Journalist und Volkswirt in Berlin und ist Herausgeber von Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung.
[«1] Das dies selbst das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Gewerkschaften nicht anerkennt, sondern stattdessen die entstandene Inflationsrate zugrunde legt, um den Verteilungsspielraum zu bestimmen, ist bedauerlich und unterstreicht die Kritik an den Gewerkschaften. Denn die wirkliche Inflationsrate ist ja mit Ergebnis der Lohnentwicklung im Verhältnis zur Produktivität (nominale Lohnstückkosten). Die Tabelle des WSI unten zeigt aber immerhin, dass auch die Gewerkschaften den Verteilungsspielraum aus der Produktivitätsentwicklung und der Preisentwicklung gewinnen.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=21436