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Titel: Italien oder Deutschland – Wer ist Europas größter Sünder?
Datum: 15. Juli 2005 um 15:37 Uhr
Rubrik: Europäische Union, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Albrecht Müller
Von Heiner Flassbeck, FTD, 7. 7. 2005
Ist es nicht komisch? Derzeit fragt sich die ganze Welt, was in der europäischen Währungsunion los ist und niemand scheint eine wirklich schlüssige Antwort zu finden. Nur der Tatbestand ist klar: Die Wachstumsraten laufen auseinander und Italien hat ein gewaltiges Problem mit seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Die Gründe dafür aber liegen scheinbar im Dunkeln. Die einen philosophieren über mangelnde finanzpolitische Flexibilität, die anderen über mangelnde Flexibilität der Geldpolitik; einige beklagen allgemein zu wenig flexible Löhne, anderen sind die Strukturanpassungen nicht weit genug gegangen. Besonders hervor tut sich die Europäische Zentralbank, die sich peinlich hütet, Klartext zu reden, obwohl die Fakten auf ihrem eigenen Tisch liegen. Warum wird so furchtbar viel Allgemeines hin und hergewälzt wird, statt Ross und Reiter in dieser europäischen Krise eindeutig zu benennen?
Der Zusammenhang, um den es geht, ist extrem einfach. Eine Währungsunion, die, sagen wir, eine Inflationsrate von 2 % anstrebt, kann auf Dauer nur funktionieren, wenn im Durchschnitt der gesamten Union die Steigerungsraten der Nominallöhne in der gesamten Wirtschaft Jahr für Jahr nicht um mehr als 2 % über dem Produktivitätszuwachs liegen. Dann steigen die Lohnstückkosten ebenfalls um zwei Prozent und, weil selbst die Europäische Zentralbank zugibt, dass die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten die entscheidende Stellgröße für die Inflationsrate sind, kann es von der Kostenseite her kein Problem für die gesamte Währungsunion geben.
Jedes einzelne Mitglied muss also mit seinen Löhnen immer genau zwei Prozent über seiner Produktivitätsrate bleiben, wie groß die auch immer sein mag, dann wird die Wettbewerbsfähigkeit jeder einzelnen Volkswirtschaft gerade erhalten und kein einzelnes Land kann in die Bredouille geraten. Wer nach oben von den zwei Prozent abweicht, verliert Wettbewerbsfähigkeit und Marktanteile, wer nach unten abweicht, gewinnt beides. Wer einmal nach oben abgewichen ist, muss später in genau dem gleichen Masse nach unten. Gelingt ihm das nicht, verliert er auf alle Zeiten Marktanteile gegen den, der kostengünstiger produziert.
So einfach ist das und offenbar doch ganz schwer für viele nationale und internationale Beobachter. Sobald nämlich das konkrete Ross und sein Reiter auftauchen, fallen manchen die Augen aus, weil sie nicht glauben können und wollen, was sie sehen. Da erscheint in der Tat die unglaublich flexible deutsche Volkswirtschaft, die mehr als alle anderen mit ihren Löhnen nach unten abgewichen ist und folglich einige lahme Mitstreiter in Südeuropa aus dem Felde schlägt. Die mit Abstand flexibelsten Löhne hat Deutschland, das Land also, in dem die eigenen Politiker und ökonomischen Kommentatoren nicht müde werden, den unflexiblen Arbeitsmarkt und die unflexiblen Löhne lauthals zu beklagen.
Das kann natürlich nicht sein, weil es nicht sein darf. Folglich schließen alle Deutschland-Kritiker ganz fest die Augen in der Hoffnung, das im Lichte der eigenen Vorurteile so schreckliche Bild möge doch schnell weggehen. Tut es aber nicht, weil inzwischen unbestreibar ist, wie wettbewerbsfähig die Deutschen innerhalb und außerhalb Europas sind. Da bleibt den Deutschen nur, laut über Italien zu klagen, von dem natürlich jeder weiß, das es notorisch unfähig ist, die notwendige Disziplin zu wahren und immer wieder Abwertungen seiner Währung braucht.
Wer aber hat sich wirklich danebenbenommen, die Italiener oder die Deutschen? Auch das ist ohne weiteres zu beantworten. Zwei Prozent Zuwachs der Lohnstückkosten sind die Norm, die jeder erreichen sollte. Nur so kann die europäische Zentralbank ihr Inflationsziel ohne Schwierigkeiten erreichen, weil die Entwicklung der gesamten Arbeitskosten weder nach unten noch nach oben abweicht.
Das Ergebnis: Nach Berechnungen der EU Kommission liegt Deutschlands Zuwachs von 1999 bis 2004 bei 0,5 %, der italienische bei 2,8 %. Italien ist folglich von der Norm um 0,8 nach oben, Deutschland um 1,5 nach unten abgewichen. Italien hat inflationär gesündigt, Deutschland deflationär. Selbst wenn man, wie es die europäische Zentralbank anstrebt, mit der Inflationsrate etwas unter zwei Prozent bleiben will, geht kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass Deutschland der größere Sünder ist. Da hilft auch die übliche Ausrede nicht, Deutschland habe an Wettbewerbsfähigkeit nur aufgeholt, was es im Zuge der Vereinigung verloren hat. Wenn das so wäre, würde nicht Deutschland seine Exporterfolge feiern und Italien am Boden liegen. Zudem, selbst in diesem Falle änderte sich nichts an dem deflationären Effekt, der innerhalb der Währungsunion von Deutschland ausgeht.
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