Die Bertelsmann-Stiftung behauptete letzte Woche in einer Studie, Familien würden vom gegenwärtigen Rentensystem „benachteiligt“. Kinder finanzierten in ihrem späteren Erwerbsleben mit ihren Einzahlungen in die Rentenkasse nicht nur die Altersversorgung ihrer eigenen Eltern, sondern auch die der Kinderlosen aus ihrer Elterngeneration.
Am gleichen Tag klagten der Direktor das arbeitgeberfinanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und ihm folgend natürlich die CDU-Mittelstandsvereinigung, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) darüber, dass die Rentenpläne der Koalition von 2014 bis 2020 Mehrausgaben von über 60 Milliarden € verursachen würden. Der Chef des BDI, Ulrich Grillo, schimpfte über den „Ausbau sozialer Wohltaten“ und sprach vom „Betrug am Bürger“.
Gewagte Rechnungen, die eine Menge Fragen aufwerfen, meint Jens Jürgen Korff [*].
In der Bertelsmann-Studie heißt es:
- Ein heute 13-Jähriger (Junge? Mädchen?) werde im Laufe seines Lebens voraussichtlich 77.000 € mehr in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, als er an Rente herausbekommen werde.
- Trotz dieser positiven Wirkung ihrer Kinder auf das Sozialsystem müssten Eltern die gleichen Beitragssätze zahlen wie Kinderlose. Da sie (bzw. die Mütter) ihr Berufsleben zugunsten der Kindererziehung einschränkten, zahlten sie weniger in die Rentenkasse ein und bekämen deshalb später auch weniger Rente als kinderlose Mütter. Die Honorierung der Erziehungsleistung liege bei 8300 € Mütterrente im Schnitt.
- Die Leistungen aus den Steuern der Gemeinschaft für Kinder wurden gegengerechnet. Jedoch zahle der 13-Jährige voraussichtlich 50.500 € mehr an Steuern und Sozialbeiträgen an den Staat, als er in Form von Kindergeld, Elterngeld, Kitas und Schulen („Zuschüssen für Betreuung und Bildung“) vom Staat erhalte.
Um diese Benachteiligung von Familien auszugleichen, schlägt der Autor der Studie [PDF – 2.9 MB], Martin Werding, anmoderiert vom Sprecher der Bertelsmann-Stiftung, Jörg Dräger, eine niedrigere Basisrente vor, auf die pro Kind eine Kinderrente aufgeschlagen werde. Nur wer drei Kinder und mehr aufgezogen habe, solle auf das jetzige Rentenniveau kommen. Alle anderen müssten „privat vorsorgen“.
Eine sehr gewagte Rechnung, die eine Menge Fragen aufwirft.
- Woher will Professor Werding wissen, wie viel Geld heute 13-jährige Kinder in ihrem zukünftigen Leben verdienen werden? Wann genau sie in Rente gehen werden? Mit welcher Wahrscheinlichkeit sie arbeitslos, arm, chronisch krank oder kriminell werden, auswandern oder verunglücken werden? Wurden solche Risiken überhaupt berücksichtigt? Müssten Eltern, deren Kinder Beamte werden und nicht in die Rentenkasse einzahlen, einen Abzug von ihrer Rente hinnehmen?
- Nicht berufstätige Mütter erwerben mit höherer Wahrscheinlichkeit als kinderlose Frauen Ansprüche auf Witwenrente. Wurde das berücksichtigt?
- Wie sieht die Rechnung „eingezahlte Beiträge zu ausgezahlter Rente“ für kinderlose 50-jährige Männer aus? Und das bitte im Vergleich mit 50-jährigen Vätern von Kindern. Wenn diese Rechnung genau so negativ ist wie die für den 13-jährigen Jungen – wo ist dann die „Benachteiligung“ geblieben?
- Welchen Sinn haben solche Rechnungen überhaupt?
In einem solidarischen System gibt es immer Menschen, die viel weniger einzahlen als sie bekommen – weil sie z. B. das Pech haben, behindert oder chronisch krank zu sein. Das kann aber nur funktionieren, wenn andere, die das Glück haben, lange gesund zu sein und gut zu verdienen, mehr einzahlen, als sie herausbekommen. Das ist Solidarität und hat mit Benachteiligung nichts zu tun.
- Woher kennt Werding die Steuer- und Beitragssätze, die der 13-Jährige im Jahr 2030 oder später wird zahlen müssen? (Und zwar auf 500 € genau?)
- Warum bezieht Werding in die Berechnung des staatlichen „Gewinns“ von 50.500 € auch die Sozialbeiträge ein? Die sind doch schon in die 77.000-€-Rechnung eingegangen; werden hier also offenbar doppelt gezählt. Doch auch nur auf die Steuern bezogen ist das Ganze eine gelbe Engelrechnung, weil der Staat mit den Steuern seiner Bürger nicht nur Bildung und Kinderbetreuung finanzieren muss, sondern auch zahllose andere Aufgaben.
- Was ist, wenn der 13-Jährige selber kinderlos bleibt? Wird er dann den kinderlosen Benachteiligten zugerechnet oder bleibt er in der Gruppe der ausgebeuteten Familien? Wenn er dort bleibt (und zwar für sein ganzes Leben) – warum zählt dann ein kinderloser 50-Jähriger als Kinderloser, obwohl er doch Eltern hatte oder hat, und für deren Rente zahlt oder bezahlt hat?
- Warum vergleicht Werding bei den Erwachsenen nur die Frauen miteinander (also Mütter mit kinderlosen Frauen), nimmt als Kind aber einen Jungen an? Wie sehen diese Vergleichsrechnungen für erwachsene Männer (Väter und kinderlose Männer) und Mädchen aus? Wie berücksichtigt er den Status- und Chancenvorteil von Vätern gegenüber kinderlosen Männern?
- Werding schreibt, dass Mütter weniger in die Rentenkasse einzahlen als kinderlose Frauen und deshalb später geringere Renten haben. Gleicht sich das nicht aus? Ließe sich der gleiche Umstand nicht auch so lesen: Kinderlose Frauen arbeiten mehr und tragen mehr zur Finanzierung der Renten bei als Mütter? Müsste Werding nicht auch für sie eine Vergleichsrechnung machen, wie viel sie einzahlen und wie viel sie später bekommen? Auch die dürfte für die Mehrzahl der kinderlosen Frauen negativ ausfallen.
Werdings „Verbesserungsvorschlag“ läuft darauf hinaus, die gesetzlichen Renten für 90 % aller Rentner drastisch zu kürzen – vor allem für die geburtenstarken Jahrgänge 1958-1965. Nebenbei will Werding, wie so viele vor ihm, die vernünftige und leistungsfähige gesetzliche Rente weitgehend durch unsichere, den unüberschaubaren Risiken des Kapitalmarktes ausgesetzte, private Versicherungen ersetzen – die für Carsten Maschmeyer & Co den Vorteil haben, dass sie damit reich werden können.
Für die Unternehmer ist die Verbesserung für Mütter „Betrug am Bürger“
Zufällig beklagten sich am gleichen Tag, als die Bertelsmann Stiftung ihre Studie vorstellte, der Direktor des arbeitgeberfinanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), und ihm folgend natürlich die CDU-Mittelstandsvereinigung und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) darüber, dass die Rentenpläne der Koalition für 2014-2020 Mehrausgaben von über 60 Milliarden Euro verursachen würden. Der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) schimpfte über den „Ausbau sozialer Wohltaten“ und redete vom „Betrug am Bürger“.
Dazu zwei kritische Anmerkungen:
- Die Horrorzahl 60 Milliarden Euro entsteht durch Anwendung eines altbekannten Tricks aus der Statistik-Manipulationskiste: Aufaddieren von Beträgen über lange Zeiträume. Eine so entstehende Zahl ist irreführend, weil Leser sie unwillkürlich mit jährlichen Kosten vergleichen, wie z. B. dem Bundeshaushalt eines Jahres oder dem Bruttoinlandsprodukt eines Jahres. Eine realistische Vergleichsgröße erhielte man aber nur, wenn man sie etwa mit dem aufaddierten BIP der Jahre 2014-2020 vergliche. Zahlenunkundige Leser sehen ohnehin nur eine unvorstellbar große Zahl. Der Effekt, den die Manipulateure erreichen wollen, ist der gleiche: Angst vor der Zukunft – „german angst“.
- Natürlich arbeiten die Angstprediger aus dem Unternehmerlager mit waghalsigen Prognosen und mechanischen Trendfortschreibungen, ohne diese Tatsache auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Niemand kennt das BIP oder die Rentenbeiträge der Jahre 2020 oder später. Sie liegen in ferner Zukunft und sind ungewiss. Dennoch schreibt »Die Welt«: „Die Rentenpläne von CDU und SPD werden bis zum Jahr 2020 Zusatzausgaben von 60 Milliarden Euro nach sich ziehen.“ Als ob sie das irgendwo gemessen hätte oder ausrechnen könnte.
Es ist eine Prognose, eine Annahme, die alles Mögliche voraussetzt, was wir gar nicht wissen können – weiter nichts.
Reden wir über die Widersprüche!
Pikant ist das Zusammentreffen der beiden Zukunftsszenarien deshalb, weil sie einander in einem entscheidenden Punkt widersprechen:
Die Bertelsmann-Stiftung will die Renten für Mütter verbessern.
Die Unternehmerverbände wollen genau das verhindern; denn sie wenden sich gegen die von der Koalition beschlossene Mütterrente, die die Anerkennung von Kindererziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder vorsieht (und also für Mütter, die den vielfach benachteiligten geburtenstarken Jahrgängen 1958-1965 angehören).
(Wobei ich die berechtigte Kritik an der Finanzierungsgrundlage dieser Änderung hier außen vor lassen will, nämlich aus der Rentenkasse und nicht steuerfinanziert.)
Sprachlich entlarvend ist die vom BDI-Chef gewählte Formulierung „Ausbau sozialer Wohltaten“.
Die Interessenvertreter der Wirtschaft setzen auf einen seit über 20 Jahren der Öffentlichkeit eingeimpften Masochismus-Reflex:
Wohltaten – igitt! Wir wollen Herren, die uns quälen. Herren, die uns etwas Gutes tun, jagen wir zum Teufel.
Ja, ich fürchte, der BDI kann sich darauf verlassen, dass die orwellsche Gehirnwäsche funktioniert:
Wohltaten sind von Übel!
Wenn es uns gut geht, geht es uns schlecht!
Grausamkeiten sind ein Segen!
Wenn es uns schlecht geht, geht es uns gut!
Alle, die jetzt in ihrem Hinterkopf eine Zustimmung bemerkt haben, frage ich:
Können Sie sich wirklich vorstellen, dass ein Unternehmerverband etwa so etwas sagt, wie:
Je weniger Gewinne, desto besser!
Wir haben eh viel zu viel verdient in den letzten Jahren!
Nein, Unternehmer tun so etwas nicht.
Und warum glauben Sie, dass Wohltaten von Übel und Grausamkeiten ein Segen sind?