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Titel: Die tiefe Kluft zwischen regierungsamtlichem Optimismus und der Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die griechische Bevölkerung

Datum: 6. Januar 2014 um 9:36 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Euro und Eurokrise, Griechenland, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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In einem aktuellen Lagebericht beschreibt Niels Kadritzke die tiefe Kluft zwischen dem offiziellen Optimismus der Regierung Samaras/Venizelos und der Wahrnehmung der Realität an der Basis der Gesellschaft. Nichts von dem, was die Regierung den Bürgern erzählt und ankündigt beseitigt auch nur die kleinste ihrer Alltagssorgen. Regierungschef Antonis Samaras hat die Kunst, sich selbst in die Tasche zu lügen, fast zur Vollkommenheit entwickelt. Weder hat sich die Arbeitslosigkeit verringert, noch ist der Trend zur Langzeitarbeitslosigkeit gebrochen. Immer mehr Griechinnen und Griechen sind von materieller Entbehrung betroffen. Löhne werden nicht oder nicht regelmäßig ausbezahlt, unbezahlte Arbeit verbreitet sich. Die industrielle Produktion ist in den letzten 12 Monaten stetig und zuletzt sogar beschleunigt zurückgegangen. Die auch in deutschen Medien verbreiteten Erfolgsgeschichten (Primärüberschuss im Staatshaushalt, Tourismus-Boom, sinkende Mietpreise) stellen sich bei näherer Betrachtung als Scheinerfolge heraus.
Von Niels Kadritzke.

Zu Beginn des Neuen Jahrs ist in Griechenland alles beim Alten. Die täglichen Sorgen halten die Leute auf Trab. Und wenn die Politiker im Fernsehen ihre optimistischen Neujahrsbotschaften absetzen, hörte kaum einer hin. Viele Griechen haben einen der Tage zwischen Weihnachten und Silvester in einer langen Schlange verbracht – entweder auf dem Finanzamt oder in einer Bank. In der Bank, um auf den letzten Drücker die Kfz-Versicherung für 2014 zu überweisen. Auf dem Finanzamt, um entweder die Kfz-Steuer für 2014 zu zahlen oder das Nummernschild ihres Autos abzugeben, weil sie Steuer und Versicherung nicht mehr zahlen können. Die Zahl der Abmeldungen am Ende des Jahres 2013 hat die Grenze von 100 000 längst überschritten. Seit Beginn der Krise 2009 wurden etwa eine Million Fahrzeuge stillgelegt (mit dem Nebeneffekt, dass der Export von Gebrauchtwagen einer der wenigen blühenden Wirtschaftszweige geworden ist).

Im Frühstücksfernsehen aller Privatkanäle sind die Schlangen am zweiten Tag des neuen Jahres immer noch das große Thema. Die Schüsse auf die Residenz des deutschen Botschafters in Athen wurden nur in den abendlichen Hauptnachrichten abgehandelt (dazu mehr am Ende dieses ersten Teils). In allen Sendungen sind Bürokraten aus dem Finanzministerium eingeladen oder zugeschaltet, die auf peinliche Fragen nur blamable Antworten haben. Zwar wurde die Frist für die Kfz-Zahlungen ins neue Jahr verlängert, aber am Morgen des 2. Januar mussten die Finanzämter ihre zahlungswilligen Kunden wieder nach Hause schicken, weil das elektronische Datensystem „taxis“ zusammengebrochen war. Der Sprecher des Finanzministeriums erklärt dem Publikum, man könne aber seine Steuer heute auch bei einer Bank einzahlen. Der Sprecher wird gefragt, ob Kfz-Halter vor einem Strafmandat geschützt sind, wenn sie ihre Versicherung für 2014 nur per Bankbeleg nachweisen können. Er weiß es nicht, dafür ist nicht das Finanzministerium zuständig. Der Moderator beendet die spontane Empörung im Studio mit dem Satz: „Übrigens hat diese Regierung gestern die Präsidentschaft der Europäischen Union übernommen.“ Alle lachen. Werbepause: demagogisch angepriesene Schnäppchen für die Massen, High-Tech-Alarmanlagen für die besseren Viertel.

Griechenland am Ende des fünften Krisenjahrs: Eine zutiefst verstörte Gesellschaft, deren materielle Reserven bis in die Mittelschichten rapide abschmelzen, und die durch eine doppelte Perspektivlosigkeit demoralisiert ist. Zum einen ist eine ökonomische Erholung nicht in Sicht, zum anderen hat die herrschende politische Klasse kein Krisenkonzept und wird nur noch vom Autopiloten eines zähen Selbsterhaltungstriebs gesteuert.

Die Kluft zwischen dieser politischen Klasse und einer demoralisierten Bevölkerung veranschaulicht ein Stimmungsbild, das Pantelis Boukalás in der konservativen Zeitung Kathimerini vom 10. Dezember gezeichnet hat. Ich gebe diesen Kommentar deshalb wieder, weil er fast alle Elemente benennt, die zum Jahreswechsel 2013/2014 die griechische Misere ausmachen.

Boukalás bezieht sich auf die sehr knappe Mehrheit, mit der das griechische Parlament den Staatshaushalt für 2014 verabschiedet hat: ein Zahlenwerk, das noch auf etlichen hypothetischen Annahmen beruht und im Frühjahr wahrscheinlich durch einen Nachtragshaushalt ergänzt und korrigiert werden muss.

„Die griechische Öffentlichkeit hat für den Staatshaushalt 2014 etwa genau so viel Interesse gezeigt wie das Parlament, die ihn vor zwei Tagen verabschiedet haben. Selbst die Häupter der großen Parteien begnügten sich mit der Wiederholung dessen, was sie schon vor Wochen anlässlich des Misstrauensvotums der Syriza gegen die Zwei-Parteien-Regierung (aus ND und Pasok, NK) geäußert hatten. Denn selbst ihnen ist klar, dass auch die feurigsten Reden keinen Einfluss auf die Zahl der Ja- und Nein-Stimmen im Parlament haben, genau so wenig wie auf die Umfrageergebnisse.

Die Regierung kann keineswegs davon ausgehen, dass alle Abgeordnete, die für das Gesetz gestimmt haben, die damit beschlossenen ökonomische und soziale Inhalte tatsächlich befürworten – zumal das Ja bei vielen höchst verdrossen ausgefallen ist. Und schon gar nicht sollten sich die Regierenden einreden, dass ihr die Bevölkerung das Szenario einer erfolgreichen Krisenpolitik mit Happyend, das sie so unermüdlich herbei redet, auch wirklich abnimmt. Samaras und Stournaras mögen noch so lyrisch von einem Primärüberschuss schwärmen und den Armen für nächstes Jahr mehr Geld versprechen, doch der kleine Mann auf der Straße fühlt sich nach wie vor als hilfloses Objekt in einem düsteren Drama.

Und das ist kein oberflächliches Gefühl, das von außen angeheizt wird. Der kleine Mann interessiert sich nur für die Ökonomie des täglichen Lebens, nicht für die wunderbaren Perspektiven der Makroökonomie. Die Normalbürger haben absolut berechtigte Zweifel daran, dass das Utopia, das die Regierung am Horizont erschaut, für sie in absehbarer Zeit irgendwie erreichbar sein könnte. Sie vergleichen den optimistischen Haushaltsplan mit der Arithmetik ihrer tagtäglichen Frustrationen, mit der quälenden Frage, ob sie ihre Rechnungen bezahlen können und ob ihr Geld fürs tägliche Leben ausreicht.

Im öffentlichen Gesundheitswesen erleben die Normalbürger mehr denn je die destruktiven Folgen, die ihnen die sogenannten Reformen beschert haben. Sie sehen, wie ihre Kinder durchfroren aus der Schule kommen, weil kein Geld für die Zentralheizung da ist. Und sie müssen zu ihrer Beschämung lesen, dass Mitmenschen sterben, weil sie tödliche Gase aus selbstgebauten Heizöfen eingeatmet haben. Obwohl wir Dezember haben und die Kälte im Anmarsch ist, können sich viele Leute kein Heizöl mehr leisten.

Die Normalbürger wissen, dass sie ihre Verwandten und Freunde nicht mehr anpumpen können, weil auch deren Geldreserven zu Ende gehen. Sie haben Schulden, die ihnen immer härter zusetzen (egal ob die Troika das einsieht oder nicht). Und jetzt sehen sie auch noch die Gefahr, dass man ihnen ihre Wohnung wegnimmt, die sie stets als ihr letztes sicheres Refugium betrachtet haben.“

Boukalás kommt zu dem Schluss, dass nichts von dem, was die Regierung den Bürgern erzählt und ankündigt auch nur die kleinste ihrer Alltagssorgen beseitigt.

Die Kluft zwischen Realität und der Wahrnehmung der Regierung

Das Thema dieses Kommentars ist die Kluft zwischen der Realität und der Wahrnehmung eines Regierungschefs, dessen parlamentarische Mehrheit inzwischen auf eine einzige Stimme geschrumpft ist und dem die neuesten Meinungsumfragen drei Hiobsbotschaften bescheren:

  • Zum ersten, dass seine konservative Partei Nea Dimokratia deutlich hinter die linke Oppositionspartei Syriza zurück gefallen ist;
  • zum zweiten, dass sein Koalitionspartner Pasok ums pure Überleben kämpft;
  • zum dritten, dass die Zweiparteien-Koalition bei Wahlen bestenfalls ein Drittel der Stimmen bekommen würde.

Wohlgemerkt: Wir reden von einem Land, dem fast alle kundigen Ökonomen – im Spektrum von der Financial Times bis Rudolf Hickel [PDF – 56 KB] – bescheinigen, dass es immer noch als akuter Notfall auf der ökonomischen Intensivstation der Eurozone liegt. Und dessen Gesamtverschuldung trotz der dramatischen Sparprogramme noch immer bei 176 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steht, während die Wirtschaft (also das BIP) seit Beginn der Krise um über 25 Prozent eingebrochen ist.

Regierungschef Antonis Samaras wurde auf diesen Seiten schon mehrfach als politischer Phantast beschrieben, der die Kunst, sich selbst in die Tasche zu lügen, fast zur Vollkommenheit entwickelt hat. Eine weitere Probe dieser Fähigkeit lieferte Samaras nach dem letzten EU-Gipfel in Brüssel, als er am 21. Dezember vor der europäischen Presse erklärte, sein Land sei „am Ende des Weges angekommen“. Damit meinte er keineswegs die Sackgasse, in der sich Griechenland tatsächlich befindet. Samaras wollte vielmehr suggerieren, sein Land habe die ökonomische Depression überwunden und werde 2014 auf den „Pfad des Wachstum“ zurückfinden (während für 2013 noch mit einem Rückgang des BIP um 4 Prozent zu rechnen ist).

Denselben Ton schlug Samaras in seiner Botschaft zum Jahreswechsel an: „Wir haben das Schwierigste hinter uns,… Wir haben das Schlimmste verhindert… Wir haben dem Teufelskreis der Depression ein Ende gesetzt“, versuchte er dem Volk einzureden. Deshalb werde man im Lauf des neuen Jahres ein normales und souveränes Land werden, das seinen Kreditbedarf wieder „über die Märkte“ decke, sodass man keine neuen Sparprogramme (mit der Troika) aushandeln müsse.

Was Samaras nicht dazu sagt: Wenn im Sommer 2014 die letzten Tranchen des Troika-Programms ausgezahlt sind, ist das Land für seinen Kreditbedarf auf einen Finanzmarkt verwiesen, auf dem der griechische Staat für seine Bonds noch immer zwei bis drei Mal so hohe Zinsen zahlen müsste wie für die (aus)laufenden Kredite von EU und IWF.

Und noch etwas vergisst Samaras zu erwähnen: Dem jüngsten OECD-Bericht zufolge, müsste das Land, um bis 2020 seine erklärten Schuldenabbauziele zu erreichen, von 2014 bis 2020 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 4,8 Prozent erzielen. Das aber halten die OECD-Experten – unter Verweis auf das unberechenbare internationale Umfeld und das durch die Krise geschwächte Wachstumspotential des Landes – für „sehr unwahrscheinlich“ (OECD Survey Greece vom November 2013 [PDF – 325 KB])

Dennoch lautet die Frohe Botschaft von Samaras: „Griechenland steht nicht mehr mit dem Rücken zur Wand“. Eine harte, kalte Wand im Rücken ist aber genau das Gefühl, das die meisten Griechen haben, die ihrem Regierungschef die optimistische Konjunkturprognose nicht abnehmen. Damit geht es ihnen genau so wie den Griechenland-Experten der OECD, die auch für 2014 noch eine Rezession (von – 0,4 Prozent) erwarten (Tabelle 1 des erwähnten Survey).

Die Fakten

Um den Zustand der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft mit dem Trugbild zu vergleichen, seien hier einige fundamentale Daten angeführt:

  1. Die aktuellste Arbeitslosenquote – für den Monat September – liegt bei 27.4 Prozent und ist damit erneut leicht gestiegen. Noch beunruhigender ist, dass die Quote für das gesamte dritte Quartal (Juli bis September), das immerhin die touristische Hochsaison umfasst, nicht unter 27 Prozent gesunken ist. Für das zweite Quartal 2013 hat das griechische Statistikamt ELSTAT zwei weitere Kategorien von „Quasi-Arbeitslosigkeit“ erfasst: Die Unterbeschäftigten, die nur Teilzeitarbeit finden, obwohl sie voll arbeiten wollen; und die „Entmutigten“, die schon gar nicht mehr nach Arbeit suchen. Nach den ELSTAT-Zahlen hat sich die Anzahl in beiden Kategorien gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt: bei den Unterbeschäftigten auf 4, 3 Prozent und bei den „Entmutigten“ auf 1,9 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung (Daten aus dem englischsprachigen Blog Macropolis vom 24. Dezember 2013). Rechnet man diese beiden Kategorien in die Arbeitslosenquote hinein, kommt man auf den Rekordwert von 33 Prozent. Die Arbeitslosenquote hätte sich damit seit Beginn der Krise, also seit dem dritten Quartal 2009 (9,3 Prozent Arbeitslose), mehr als verdreifacht, bezogen auf den Tiefstand vom Mai 2008 (6,6 Prozent Arbeitslose) sogar glatt verfünffacht.
  2. Von den heute 1,376 Millionen Arbeitslosen sind 71 Prozent, also fast eine Million Menschen Langzeitarbeitslose, die ab dem 1. Januar 2014 (unter bestimmten Voraussetzungen) eine Überlebenshilfe von 200 Euro pro Monat beziehen können. Der Trend zur Langzeitarbeitslosigkeit wird in den nächsten Jahren weiter ansteigen. Das heißt: Immer mehr griechische Familien werden keinerlei Einkommen aus Arbeit oder Arbeitslosengeld haben, und zudem auch keine Krankenversicherung mehr. Giorgos Patoulis, Präsident der Athener Medizinervereinigung, schätzt die Zahl der Nichtversicherten inzwischen auf zwei Millionen (Kathimerini vom 2. Januar 2014).
  3. All dies bedeutet, dass die schrecklichen Zahlen, die der „Einkommensbericht“ der griechischen Statistik-Behörde ELSTAT für das Jahr 2012 präsentiert (englische Kurzfassung: Statistics on Income and Living Conditions 2012 [PDF – 152 KB]), für 2013 noch schrecklicher ausfallen werden. Bereits 2012 lebten 19,5 Prozent der Bevölkerung unter Bedingungen „materieller Entbehrung“ (was nicht mit Armut zu verwechseln ist) – weitaus mehr als in den Krisenländern Spanien (5,8 Prozent) und Portugal (8,6 Prozent). Einige Indikatoren zu dieser „material depravation“:
    • 40 Prozent aller Griechen hatten Probleme, ihre laufenden Kredite abzuzahlen;
    • 30 Prozent konnten ihre dringendsten Rechnungen (Strom, Gas, Wasser) nicht rechtzeitig begleichen;
    • 26,7 Prozent der Bevölkerung konnten ihre Wohnung nicht angemessen heizen.

    Diese Prozentzahlen lagen für die “Armutsbevölkerung” (Ende 2012 waren “einkommensarm” im statistischen Sinne 23,1 Prozent der griechischen Bevölkerung) noch deutlich höher: 51 Prozent konnten ihre Rechnungen nicht pünktlich zahlen, 47,6 Prozent bekamen im Winter ihre Wohnung nicht warm.
    Alle zitierten Prozentzahlen liegen im Jahr 2013 mit Sicherheit nochmals deutlich höher und werden auch 2014 weiter steigen. Dieser Anstieg zeigt vor allem, dass die Krise sich immer tiefer auch in die Mittelschichten hinein frisst.

    Hier ist allerdings eine einschränkende Anmerkung nötig: Die offiziellen Arbeitslosenzahlen geben die reale Beschäftigung nicht unbedingt wieder, weil von einer relativ hohen Dunkelziffer informeller Beschäftigung auszugehen ist. Das gilt übrigens auch für die Tourismus-Branche (und die Gastronomie), die im Krisenjahr 2013 der einzige relevante Wachstumssektor war. Das Phänomen der Schwarzarbeit schlägt sich jedoch in einer weiteren düsteren Zahl nieder: 27 Prozent aller Leute, die irgendeinen Job ausüben, arbeiten unversichert, erwerben also keinerlei Ansprüche auf Arbeitslosengeld, Krankenversorgung (jenseits von Erste-Hilfe-Leistungen) und Ruhestandsbezüge.

  4. Die Zahl der Beschäftigten, die nicht regelmäßig oder nicht voll bezahlt werden, steigt weiter rapide an. Wer in Griechenland noch Arbeit hat, bezieht keineswegs automatisch ein regelmäßiges Einkommen. Nach einer empirischen Studie des Arbeitsforschungsinstituts der Gewerkschaften (INE) zahlt nur jede zweite griechische Firma die Löhne und Gehälter regulär und pünktlich aus. Für mehr als eine Million Beschäftigte (von rund 3,5 Millionen) verzögert sich die Auszahlung um mindestens einen, viel häufiger aber um zwei bis drei Monate.
  5. Auch andere „unorthodoxe“ Entlohnungsmethoden breiten sich weiter aus. Etwa wenn Beschäftigte im Handelssektor in „Warenform“ abgefunden werden (ein Phänomen, das an die Verhältnisse in der Transformationsperiode der Ex-Sowjetunion erinnert). So zahlt eine nordgriechische Supermarktkette ihr Verkaufspersonal zum Teil mit Kaufgutscheinen für den eigenen Laden aus. Seit Herbst 2012 nimmt auch die Zahl derer zu, die vom Arbeitgeber für einen Achtstundentag nur vier oder 5 Arbeitsstunden bezahlt bekommen. In den meisten Fällen wehren sich die Betroffenen nicht gegen diese Übervorteilung, weil sie keinerlei Aussicht auf eine andere Beschäftigung haben (weitere Details der INE-Studie in Kathimerini vom 1. Dezember 2013). Sehr anschaulich wird diese Erscheinungsform der Krise in einer vorweihnachtlichen Reportage von Marili Marghomenou dargestellt (Kathimerini vom 22. Dezember), wenn eine Verkäuferin ihre Situation so beschreibt:

    „Im Griechenland der Krise musst du zu schätzen lernen, was du hast, und schwer aufpassen, dass du das nicht verlierst. Bei der Arbeit kannst du zum Chef nicht mehr Nein sagen. Du arbeitest zwölf Stunden. Du bist zwar Verkäuferin, aber du machst alles, zum Beispiel Warenlieferungen herumschleppen. Und doch, wenn du dich dann mal mit einem arbeitslosen Freund zu einem Kaffee triffst, dann denkst du nur: Mir geht’s doch gut.“

    In dieser kleinen Szene ist das ganze Elend des heutigen Griechenland eingefangen, einschließlich eines individuellen Fatalismus, der sich ab einem bestimmten Grad allgemeiner Verelendung fast automatisch ausbreitet.

  6. Die INE-Forscher gehen davon aus, dass in jedem zweiten Fall die Firma in der Tat nicht regulär zahlen kann, weil sie nicht liquide ist. Das verweist auf ein grundsätzliches Problem der „Realökonomie“: Auch gesunde und zukunftsfähige Unternehmen haben kaum Aussichten auf einen Bankkredit. Selbst unternehmerfreundliche Wirtschaftszeitungen konstatieren verbittert, dass die griechischen Banken mit Milliardenhilfen aus den Rettungsfonds von EU und IWF „saniert“ wurden, aber deshalb keineswegs bereit sind, die Realwirtschaft mit Krediten zu unterstützen. Insbesondere die kleineren und mittelgroßen Unternehmen (und das sind 90 Prozent der griechischen Betriebe), erhalten keinen Kredit, weil sie nicht die von den Banken geforderten Sicherheiten bieten können. Mehr über dieses spezielle Bankenproblem lernt man aus der vorzüglichen Analyse des Ökonomen und Griechenland-Experten Jens Bastian, der die letzten Jahre für die Task Force der EU-Kommission in Athen gearbeitet hat (englische Fassung).
  7. Die industrielle Produktion ist in den letzten 12 Monaten stetig und zuletzt sogar beschleunigt zurückgegangen. Nach Angaben des Statistischen Amtes (ELSTAT) fiel der Produktionsindex der griechischen Industrie im Oktober 2013 gegenüber dem Vormonat um 8,4 Prozent; der Index für die Auftragseingänge, der die Zukunftsaussichten abbildet, ist sogar um 17,5 Prozent eingebrochen. Gegenüber Oktober 2012 fiel der industrielle Umsatz um 5,2 Prozent, während er im Zeitraum Oktober 2011 bis Oktober 2012 noch um 3.9 Prozent gestiegen war (ELSTAT-Pressemitteilung vom 10. Dezember; Macropolis vom 20. Dezember). Solche Zahlen machen deutlich, dass „der industrielle Sektor nach wie vor Rezessionssignale für die griechische Wirtschaft aussendet“ (so Macropolis vom 20. Dezember).
  8. Solche Signale sind wenig geeignet, Investitionen aus dem Ausland anzulocken. Da sogenannte „strategischen“ Investitionen auch nicht über das Privatisierungsprogramm generiert werden (aus Gründen, die ich auf den Nachdenkseiten vom 16. Juli 2013 dargelegt habe), ist es umso verblüffender, dass in den Haushaltsplänen der letzten Jahre – inklusive des vorläufigen Budgets für 2014 – ausgerechnet die Mittel für öffentliche Investitionen gekürzt wurden. Die Einsparung dieser Gelder mit dem Ziel, einen Überschuss im Primärhaushalt zu erzielen, ist ein klassisches Exempel für die Absurditäten der griechischen „Sparpolitik“.

Erfolgsgeschichten?

Die Liste von Indikatoren, die den verkrampften Optimismus der Samaras-Regierung Lügen strafen, ließe sich noch weiter verlängern. Kommen wir stattdessen zu der berühmten Frage: „Wo bleibt das Positive?“ Gibt es aus Griechenland wirklich keine Erfolge zu melden?
Untersuchen wir die drei Punkte, die am häufigsten als Beleg oder für die griechische „success story“ angeführt werden.

  • den Überschuss im Primärhaushalt (ohne Zinsendienst) als Zeichen für die Überwindung der Schuldenkrise;
  • die positive Entwicklungen im Tourismus-Sektor als Signal für neues Wirtschaftswachstum;
  • die Verbilligung der Mietpreise als Indiz für die viel beschworene „Deflation“, die Einkommensverluste abfedern soll.
  1. Success Story Nr. 1: Der Primärüberschuss

    Dass 2013 erstmals seit Mitte der 1990er-Jahre ein Plus im Primärhaushalt (der die Kreditzins-Zahlungen ausklammert) erzielt werden kann, steht außer Zweifel. Zweifelhaft ist allerdings die Höhe dieses Überschusses, die erst im nächsten Frühjahr feststehen wird. Klar ist aber auch, dass die in Athen erhofften Zahlen durch „kreative Buchführung“ geschönt werden können. In dieser Hinsicht gibt es eine Differenz zwischen den Prognosen des griechischen Finanzministeriums und den Kalkulationen der Troika. In den griechischen Kalkulationen sind zum Beispiel die zu begleichenden „Außenstände“ (in Form nicht ausgezahlter Gehälter und unbezahlter Rechnungen der Privatindustrie) nicht berücksichtigt, die im Jahr 2013 schon bis November 3,15 Mrd. Euro ausmachen. Gravierender ist, dass die Troika drei Parameter unterschiedlich bewertet: Die Defizite in den Sozialkassen (v.a. aufgrund der „Beitragsvermeidung“ vieler Unternehmen), die Konjunkturprognosen, auf denen die geschätzten Steuereinnahmen basieren, und die Erfolgsquote beim Eintreiben von Steuerschulden.

    Vor allem aber ist durchaus umstritten, was ein „Primärüberschuss“ überhaupt für die wirtschaftliche Entwicklung bedeutet. Die meisten Ökonomen – und auch der griechische Industriellenverband – sind übereinstimmend der Meinung, dass diese Größe ein Fetisch ist, insofern er für die Wachstumsperspektiven überhaupt nichts bedeutet. Der schon zitierte Griechenland-Experte Jens Bastian betont in seinem Ausblick auf das Jahr 2014, auch ein Primärüberschuss 2013 ändere nichts daran, dass „die akkumulierte Staatsschuld weiterhin auf der Volkswirtschaft lastet und die Aussichten auf eine konjunkturelle Erholung beeinträchtigt“.

    Laut Bastian können Primärüberschüsse nur dann etwas bewirken, wenn sie dauerhaft erzielt werden, und zwar „möglichst mit wachsendem Volumen“ und begleitet von „sinkenden Zinszahlungen für die akkumulierte Staatsschuld“. Die entscheidende Größe sei also das Wirtschaftswachstum; wenn das zu schwach ausfalle, müsse ein noch größerer Überschuss erzielt werden. Ein solches Szenario sei im Fall Griechenland aber mit hohen „sozialen Kosten und politischen Risiken“ verbunden, weil die Gesellschaft schon 2013 am Rand ihrer Belastbarkeit angelangt ist (der englische Text ist publiziert bei Macropolis).

    Damit verweist Bastian auf den neuralgischen Punkt der von Samaras und Stournaras verkündeten „success story“. Die meisten griechischen Bürger haben Ende 2013 das Gefühl, dass der staatliche Primärüberschuss auf der drastischen Absenkung ihres Lebensstandards beruht, ohne die versprochene Gegenleistung zu bringen, nämlich die Voraussetzungen für neues Wachstum zu produzieren. Und vor allem haben sie nicht vergessen, was ihnen die Politiker – voran Finanzminister Stournaras – seit Frühjahr 2012 ständig erzählt haben: Wenn einen Überschuss im Primärhaushalt erzielen, werden die Gläubiger der Troika endlich die erforderliche Schuldenentlastung bewilligen – vielleicht sogar in Form eines zweiten Schuldenschnitts (haircut).

    Jens Bastian hält eine realistische Debatte über dieses Thema für unvermeidlich: „Was Griechenland 2014 wirklich braucht, ist eine Vereinbarung über die Modalitäten einer Schuldenentlastung. Dies ist der ‚Elefant im Wohnzimmer‘, den bislang niemand – mit Ausnahme des IWF – offiziell zur Kenntnis nehmen will.“ Für Bastian lautet die entscheidende Frage: „Können die europäischen Institutionen und Griechenlands bilaterale Partner eine solche Schuldenerleichterung gewähren, um die Schuldenlast langfristig tragbar (sustainable) zu machen, wie es einmal vereinbart war?“ Die Antwort auf diese für Griechenland alles entscheidende Frage, könne nur formuliert werden, wenn Deutschland dafür „Papier und Feder“ zur Verfügung stelle.

    Enttäuschung über die SPD

    Das ist bekanntlich bislang noch nicht geschehen – zur großen Enttäuschung der griechischen Regierung und der griechischen Bürger, die ihre ganze Hoffnung auf die eigentlich vereinbarte Entlastung gesetzt haben, sei es in Form von reduzierten Zinsraten und verlängerten Zahlungsfristen, sei es in Form eines „haircut“ bei den griechischen Staatspapieren in „offizieller“ Hand („official sector involvement“ oder OSI genannt). In Athen konnte man sogar nachvollziehen, dass dieses Thema vor den deutschen Bundestagswahlen als Tabu behandelt wurde. Doch nach den Wahlen war die Hoffnung wieder aufgekeimt und sogar angewachsen, seitdem sich eine Große Koalition abzeichnete.

    Doch spätestens mit der Lektüre des Koalitionsvertrags folgte die große „Enttäuschung über die SPD“. Unter diesem Titel stellte Jiannis Kotoulou im Wirtschaftsteil der Kathimerini vom 1. Dezember ernüchtert fest, dass die beiden großen deutschen Parteien „die europäische Perspektive auf den Müll geworfen haben“: keinerlei Entwicklungsprogramm für den EU-Süden, kein Wort über Eurobonds, also keine Idee, die den deutschen Steuerzahler hätte aufschrecken können. Einen so engstirnigen Wirtschaftsnationalismus konnte man von Merkel erwarten, meint Kotoulou, nicht aber von den Sozialdemokraten. Und wenn die Griechen jetzt aus Berlin hören, das Thema könne auf keinen Fall vor den Europawahlen auf den Tisch kommen, fragt sich Kotoulou mit Schrecken, wie „germanozentrisch“ diese Große Koalition sich verhalten wird, wenn die Wahlen zum Europäischen Parlament aufzeigen sollten, dass die nationalistischen und Anti-EU-Kräfte in ganz Europa noch deutlich stärker geworden sind.

    Schuldenschnitt als letzte Hoffnung

    In einem weiteren Kommentar der Kathimerini (vom 13. Dezember) erklärt Nikos Xydakis, warum eine massive Schuldenentlastung oder gar ein Schuldenschnitt (in Form eines OSI) für Griechenland eine existentielle Frage darstellt: „In den nächsten vier Jahren werden die (griechischen) Bonds, die bei der Europäischen Zentralbank und anderen nationalen Zentralbanken liegen, aus der griechischen Wirtschaft 30 Milliarden Euro absaugen. Würde dieses Geld im Land bleiben – indem man die Rückzahlung dieser Schulden temporär aussetzt -, könnte man es für öffentliche Investitionen und Entwicklungsprojekte ausgeben.“ Nur so, argumentiert Xydakis, sei die Rezession zu stoppen und das Anwachsen der Arbeitslosigkeit aufzuhalten. Zugleich hätte der Staat mehr Spielraum für Maßnahmen, um die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft zu schützen und die Unternehmen steuerlich zu entlasten.

  2. Success Story Nr. 2: Der Tourismus-Boom

    Als „success story“ lässt sich auch die Entwicklung des Tourismus darstellen. Die Erfolgszahlen für die Saison 2013 sind tatsächlich imposant ausgefallen: Die Ankunft von 17 Millionen ausländische Touristen schon bis Ende Oktober lassen für das gesamte Jahr einen neuen Rekord von 17, 7 Millionen erwarten (ein Zuwachs gegenüber 2012 von mehr als 15 Prozent). Diese Griechenland-Urlauber haben Einnahmen generiert, die 12 Milliarden Euro übersteigen, wenn man die Kreuzfahrt-Touristen hinzurechnet (die nicht als „Einreisende“ registriert werden). Die vorläufigen Zahlen stammen von der griechischen Zentralbank und vom Verband der griechischen Touristikunternehmen SETE (nach Kathimerini vom 25. Dezember 2013). SETE prognostiziert für die Saison 2014 einen weiteren Zuwachs auf 18,5 Millionen Touristen und Einnahmen von mehr als 13 Milliarden Euro.

    Solche Zahlen repräsentieren jedoch nur die halbe Wahrheit. Sie betreffen lediglich die ausländischen Gäste. Von denen buchen die meisten ihren Urlaub auf touristisch hoch entwickelten Inseln wie Rhodos, Kos, Kreta und Korfu. Diese Touristik-Enklaven verzeichnen für 2013 sehr hohe Zuwachsraten von 20 Prozent und darüber. Weniger erfreulich sieht es für die Regionen aus, die traditionell auf einheimische Urlauber angewiesen sind. Sie mussten auch in diesem touristischen „Rekordjahr“ deutliche Einbrüche verzeichnen, denn die Zahl der Griechen, die sich noch einen Urlaub leisten können, ist dramatisch zurückgegangen (mehr Details in meinem Bericht vom 11. Juli 2013). Wenn griechische Familien noch Ferien machten, dann im Dorf der Oma oder im Ferienhaus von Freunden und nicht im Hotel. Wegen der knappen Familienbudgets sind auch die gastronomischen Ausgaben im Urlaub dramatisch zurückgegangen. Das bekamen fast alle vom Tourismus lebende Tavernen und Restaurants zu spüren. Vor allem aber das Personal.

    Bei den Arbeitslosenzahlen (siehe oben Pkt. 3) wurde bereits darauf hingewiesen, dass der touristische „Boom“ auf dem Arbeitsmarkt kaum Spuren hinterlassen hat. Das liegt vor allem an der „grauen Beschäftigung“, die in fast allen Saisonbetrieben dominiert. Dabei sehen viele jugendliche Erwerbslose nur in solchen Jobs die Chance, ein minimales Geldeinkommen zu erwerben (das sie bei meist freier Kost und Logis für den Rest des Jahres zurücklegen können). Aber auch Familienväter werden in der Branche mit Hungerlöhnen abgespeist. Der Verband des Hotelgewerbes (POX) hatte für 2013 einen regulären Tariflohn durchgesetzt, der um 15 Prozent niedriger lag als 2012 und dem fest angestellten Personal zwischen 750 und 820 Euro netto einbrachte. Jetzt wurde eine neue Vereinbarung abgeschlossen, die das Lohnniveau für die Saison 2014 einfriert und für 2015 einen Zuwachs von 1 (in Worten: einem) Prozent vorsieht (nach: Efimerida ton Syntakton vom 31. Dezember 2013).

    Nebenbei: Da dieser Branchentarifvertrag nicht nur vom Tourismus-, sondern auch vom Arbeitsministerium als „wegweisend“ gefeiert wurde, kann man sich leicht vorstellen, was der von der Regierung beschworene „Wirtschaftsaufschwung“ für die Lohnabhängigen im privaten Sektor bringen wird.

    Für den Arbeitsmarkt insgesamt ist eine andere Klausel allerdings noch folgenreicher: Der Tarifvertrag sieht vor, dass die Hotelunternehmen in der touristischen Hochsaison (Juli/August) bei einer Bettenauslastung von über 75 Prozent die tägliche Arbeitszeit auf zehn Stunden ausdehnen können. Wobei die Angestellten die Überstunden durch Freizeit oder Kurzarbeit in den schwächeren Auslastungsmonaten kompensieren „dürfen“. Diese Regelung zeigt, dass die Unternehmerseite alles tut, um den Beschäftigungseffekt, den die Regierung dem Tourismus-Boom zuschreibt, möglichst gering zu halten. Unter solchen Bedingungen ist die wichtigste „Exportindustrie“ Griechenlands nicht geeignet, die hohe Arbeitslosenquote entscheidend – und sei es auch nur saisonal – zu drücken.

  3. Success Story Nr. 3: sinkende Mietpreise

    Ein Kostenfaktor des täglichen Lebens ist deutlich billiger geworden: die Wohnungs- wie auch die Gewerbemieten. Viele Familien zahlen heute weniger Miete als vor der Krise, weil sie eine kleinere oder billigere Wohnung bezogen haben, oder weil die Kinder ins elterliche Gratis-Nest zurückgekehrt sind. Aber auch wer nicht zum Umzug bereit ist, kann die Miete in der Regel beträchtlich drücken, weil das familiäre „Zusammenrücken“ Wohnraum frei macht, was die Marktpreise senkt. Noch stärker ist dieser Effekt bei den Gewerbemieten zu spüren, weil Hunderttausende Geschäfts- oder Ladeninhaber das Handtuch geworfen haben. Der gigantische Leerstand, der in jeder Straße Griechenlands zu besichtigen ist, hat die Preise drastisch sinken lassen (allein in diesem Jahr um durchschnittlich 20 Prozent, seit Beginn der Krise um insgesamt 50 Prozent).

    Diese „erfreuliche“ Entwicklung hat allerdings eine Kehrseite, die für viele die Freude erheblich trübt: In Griechenland gibt es heute deutlich weniger Mieter als potentielle Vermieter. 77 Prozent der Bevölkerung haben Wohneigentum (in Deutschland: 53 Prozent). Zusätzlich besitzen sehr viele Familien eine Zweit- oder Drittimmobilie, die sie vermieten. Diese Mieteinnahmen sind für viele Haushalte (nicht nur der Mittelklasse) ein fester Bestandteil des Familienbudgets. Immobilien sind seit den Zeiten der inflationären Drachme für die meisten Griechen eine klassische Sparanlage bzw. als ein fester Bestandteil der Altersvorsorge kalkuliert.

    Diese Rechnung geht für Millionen Familien heute nicht mehr auf. Das liegt nicht nur am Leerstand bzw. an den gesunkenen Mieteinnahmen, sondern mehr noch an den Immobiliensteuern, die im Lauf der Krise stetig angehoben wurden und erstmals auch die (bislang steuerfreie) „Erstwohnung“ belasten. Das macht die Brisanz der jüngsten Steuergesetze, die von der Regierung kurz vor Weihnachten durchs Parlament gebracht wurden. Um die Mehrheit der eigenen Koalition zu sichern, musste die Besteuerung der Immobilien zwar in mehreren Punkten sozial verträglicher gestaltet werden, aber in einem Punkt blieb die Gesetzesvorlage unverändert: Die Steuer für Immobilien basiert auf den Marktpreisen von 2007, die zumeist um mindestens 50 Prozent über dem aktuellen Marktpreis liegen. Allein dieser Punkt hat höchste Empörung ausgelöst und die Regierung Samaras weitere Sympathien gekostet. Gerade in mittelständischen Kreisen, die von der Diskrepanz zwischen sinkenden Mietpreisen und steigender steuerlicher Belastung der Vermieter besonders stark betroffen sind.

    Dieses Gesetz ist einer der Gründe, warum die Nea Dimokratia in allen seit Anfang Dezember durchgeführten Umfragen deutlich hinter die linke Oppositionspartei Syriza zurück gefallen ist. Der demoskopische Siegeszug der Linkspartei ist der klarste Beleg für die Diskrepanz zwischen dem offiziellen Optimismus der Regierung Samaras/Venizelos und der Wahrnehmung der Realität an der Basis der Gesellschaft.

    Im zweiten Teil dieses aktuellen Berichtes werde ich diese demoskopischen Befunde interpretieren und die Ursachen für den merklichen Wandel der politischen Stimmung genauer untersuchen. Zu diesen Ursachen gehört unter anderem:

    • Die wachsende Empörung über die systematische Ungerechtigkeit der steuerlichen Belastung, die die „private“ Kehrseite des staatlichen Primärüberschusses darstellt.
    • Die Empörung über die Bestechungs- und Korruptionsskandale, die jetzt nach und nach aufgedeckt werden und deren Ausmaße alle bösen Ahnungen übertreffen (und bei denen deutsche Unternehmen und Interessen eine besondere Rolle spielen).
    • Die wachsende politische Akzeptanz der Syriza, die ihre realistische Krisenanalyse schrittweise in eine „realpolitische“ Krisenstrategie umsetzt und durch ihr klares Bekenntnis zur EU und zur Eurozone mehr und mehr Wähler von ihrer Regierungsfähigkeit überzeugt.

Nachwort zu dem versuchten Attentat auf die Residenz des deutschen Botschafters

Ein kleines Nachwort zur dem versuchten Attentat auf die Residenz des deutschen Botschafters. Die Kalaschnikow-Salven auf das Haus von Wolfgang Dold wurden von allen griechischen Parteien (außer der Neonazi-Partei Chrysi Avgi) scharf und unzweideutig verurteilt. Diese Haltung entspricht den Empfindungen der großen Mehrheit der griechischen Bevölkerung. Bei der Verurteilung der Aktion überwiegt zwar das Argument, dass solche Aktionen den „griechischen Interessen“ zuwiderlaufen, aber darüber hinaus ist auch eine deutliche persönliche Anteilnahme zu spüren. Das Mitgefühl reflektiert zweifellos die Wertschätzung, die Dold in der griechischen Öffentlichkeit, bis hin zu Kreisen genießt, die ihre Kritik an der deutschen „Krisenpolitik“ zuweilen mit unsäglichen Klischees garnieren. Der Botschafter hat mit seiner ruhigen und höchst sachlichen Reaktion auf das Attentat dazu beigetragen, den Eindruck zu relativieren, den die hysterischen Kommentare in der deutschen Presse zur griechischen EU-Präsidentschaft in Athen hinterlassen haben.

Das zeigt sich etwa auch darin, dass der Syriza-Vorsitzende Alexis Tsipras Dold persönlich angerufen und sich nach seinem Befinden erkundigt hat. Auch Manolis Glezos, der allseits geachtete linke Patriot, der die deutsche Seite immer wieder an die Nazi-Besatzung und an das offene Thema der Reparationen und der nicht zurückgezahlten Kriegskredite erinnert, hat den Botschafter in seinem Haus besucht und ihm seine Sympathie versichert. Dold hat seit langem und von sich aus das Gespräch mit Glezos gesucht, eine Geste, die in der griechischen Öffentlichkeit stark beachtet wurde (ich finde, wenn ein diplomatischer Vertreter Deutschlands in einer solchen Situation eine richtig gute Figur macht, soll man das durchaus und erfreut zur Kenntnis nehmen).


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