Unter diesem Titel hat Iris Gleicke, Sprecherin der ostdeutschen SPD- Bundestagsabgeordneten ein 15-Punkte-Papier vorgelegt, das zum Jahresende einige Aufmerksamkeit auf sich zog. Text siehe unten. Obwohl die Vorschläge inzwischen wieder ziemlich aus der Diskussion verschwunden sind, will ich einige Anmerkungen dazu machen und Fragen stellen. Auch deshalb, weil unsere Leser sich für dieses Dokument sehr interessiert haben.
I. Zunächst das Positive:
- Die thüringische Abgeordnete artikuliert, was viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern, was Arbeitslose weit darüber hinaus und alle unter Druck und Pressionen stehenden Arbeitnehmer empfinden: So kann es nicht weitergehen, so kann man arbeitslose Menschen nicht hängen lassen.
- Das 15-Punkte-Papier ist in Teilen ein harter Schlag gegen die Ideologie der Angebotsökonomie. Vor allem beschreibt Frau Gleicke drastisch, dass die Idee, Vollbeschäftigung durch Senkung der Lohnnebenkosten, durch Entlastung der Unternehmen und andere Methoden zur Herstellung so genannter günstiger Investitionsbedingungen für Unternehmen zu einem sich selbst tragenden Aufschwung führen würden, eine Lebenslüge ist. (Ob man das gleich „Lebenslüge“ nennen muss, kann man bezweifeln. „Lüge“ genügt auch. Die Abgeordnete Gleicke hätte übrigens einfach vor nunmehr 2 1/2 Jahren „Die Reformlüge“ lesen müssen. Da steht alles Wesentliche über den Mythos der Lohnnebenkosten und über die Dürftigkeit der angebotsökonomischen Konzeption drin. Man hätte als politisch Verantwortliche auch schon lange wissen können, dass der gängige Glaubenssatz, wonach mit der Senkung der Lohnnebenkosten Jobs geschaffen würden, ziemlich abwegig ist und allenfalls eine interessengeleitete Parole zur Durchsetzung von Lohnsenkungen.)
- Es ist auch richtig gesehen, dass niemand mehr versteht, dass einerseits Millionen Menschen, auch hoch qualifizierte, arbeitslos sind und zur gleichen Zeit wichtige gesellschaftliche Bedürfnisse zum Beispiel der Jugendhilfe und der Pflege von älteren Menschen nicht gestillt werden können. Das ist richtig diagnostiziert. Und es ist wichtig, dies auszusprechen.
II. Das Papier enthält aber eine Reihe von kritisch zu betrachtenden Einlassungen und Vorstellungen:
Eine Kritik fällt mir nicht leicht, weil ich das Bedürfnis der betroffenen Menschen verstehe, nach jedem Vorschlag zu greifen, auch wenn er keine ökonomische Grundlage hat und fiskalisch kaum darstellbar bin. Was ich deshalb kritisieren muss, sind jene Vorstellungen, die schon konzeptionell wenig durchdacht sind und von denen man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, dass sie selbst bei großem Engagement keine Realisierungschance haben.
- Die Aufteilung des Arbeitsmarkts in einen ersten, einen zweiten und jetzt noch einen dritten Arbeitsmarkt kann ich einfach nicht nachvollziehen. Das ist ein Kunstprodukt, ein Konstrukt. Es gibt keine Trennung von erstem, zweitem und drittem Arbeitsmarkt und deshalb macht es eigentlich auch keinen Sinn, diesen Sprachgebrauch zu nutzen, auch wenn es unter Politologen, Soziologen, und anderen Sozialwissenschaftlern inzwischen Usus geworden ist. Es gibt die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Teilen des Arbeitsmarktes, wenn die makroökonomische Politik stimmt. Und auf dieser Durchlässigkeit zu bestehen, ist geradezu essenziell für die betroffenen Menschen. Wenn ich die gegenwärtige Erfahrung vieler Menschen, dass sie nicht mehr in gesicherte Arbeitsverhältnisse kommen, zur systemimmanenten Realität erkläre, dann entlasse ich jene, die nichts dafür tun, um die Abriegelung des Arbeitsmarktes aufzubrechen, aus ihrer Verantwortung.
- Genauso gefährlich ist die Behauptung, es könne keine Vollbeschäftigung mehr geben, der Traum von der klassischen Vollbeschäftigung als Basis eines allgemeinen, für alle erreichbaren Wohlstands sei ausgeträumt, behauptet Iris Gleicke. – Woher weiß sie das? Wieso gilt das für unser Land aber nicht für vergleichbare Länder? Wieso nicht für Schweden und auch nicht für Irland oder Großbritannien? Wieso gilt das heute und warum galt es nicht schon vor 30 Jahren?
Mit der Behauptung, es könne keine Vollbeschäftigung mehr geben, entlastet die Sozialdemokratin Gleicke etwa den ehemaligen Bundeskanzler Kohl von der CDU und seine für die Wirtschafts- und Finanzpolitik Zuständigen aus ihrer Verantwortung für den Abbruch der konjunkturellen Entwicklung ab 1992/1993, dem sog. Einheitsboom. Diese Entlassung aus der Verantwortung für mehr Beschäftigung ist nicht nur sachlich falsch sondern politisch ausgesprochen ungeschickt. Darüber freuen sich Horst Köhler und Hans Tietmeyer und all die andern, die damals den Aufschwung erstickten und die Schwächeperiode unserer Wirtschaft mit einem miserablen durchschnittlichen Wachstum von 1,2% von 1993 bis heute zu verantworten haben.
Jedes Jahr gehen uns so 700 Milliarden € Wertschöpfung verloren. Mit steigender Tendenz. Dieses Wachstum könnten wir für Arbeitsplätze und zum Schuldenabbau, für eine bessere Versorgung der Menschen und für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme gebrauchen.
- In dem Iris Gleicke die makroökonomische Verantwortung der Politik in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart nicht erkennt oder nicht erkennen darf, sieht sie natürlich auch nicht die Möglichkeiten, die eine bessere und dynamische makroökonomische Politik heute für alle Teile unseres Landes brächte.
Wenn wir beispielsweise nicht jetzt schon wieder von Boom reden würden, obwohl nur ein kleines Pflänzchen eines Aufschwungs sichtbar ist, wenn wir alle Kraft darauf verwenden würden, unsere Volkswirtschaft wirklich in eine Hochkonjunktur zu führen, dann würden davon auch in den weniger prosperierenden Gebieten sehr viel mehr Menschen profitieren, als Iris Gleicke mit noch so vielen Maßnahmen über den dritten Arbeitsmarkt erreichen könnte. Und das wäre um vieles billiger und unbürokratischer.
Warum macht die Politik dies nicht? Warum beten die führenden Sozialdemokraten, zu denen Iris Gleicke zählt, die herrschende Ideologie nach, wonach wir keine Konjunktur- sondern nur Strukturprobleme hätten, wonach keynsianische oder die wirtschaft ankurbelnde Methoden auf den Misthaufen der Geschichte gehörten? Obwohl sie in vielen Ländern erfolgreich eingesetzt worden sind und eingesetzt werden. Hier ist Iris Gleicke dringend zu empfehlen, wenn sie schon von Lebenslügen spricht, noch die Lebenslüge hinzuzufügen, nämlich dass wir in der heutigen globalisierten Welt keinen eigenen Entscheidungsspielraum mehr hätten.
Deutschland hat sogar mehr Entscheidungsspielraum als fast alle anderen Länder um uns herum. Weil wir mit die geringsten außenwirtschaftliche Restriktionen haben. Der Leistungsbilanzüberschuss ist so hoch, dass wir die Binnenkonjunktur gewaltig steigern könnten, bevor die Importe so anstiegen, dass ein Minuszeichen vor dem Leistungsbilanzsaldo stehen würde. Andere Länder wie Frankreich oder Italien und Spanien und noch mehr die USA sind viel mehr gefesselt und tun dennoch mehr für die Binnennachfrage ihrer Länder.
- Bei der Begründung ihrer These vom Ende der Vollbeschäftigung tauchen die üblichen Hinweise auf fortschreitende Rationalisierungsprozesse und Globalisierung auf. Diese werden durch ihre ständige Wiederholung nicht wahrer. Und auch hier ist zu fragen, warum gerade nur in Deutschland die Gefahr besteht, dass „die Arbeit ausgeht“. Iris Gleicke beschreibt richtigerweise den Irrsinn richtig, dass einerseits ein großer Bedarf an vielen Leistungen, auch an öffentlichen Leistungen, besteht und andererseits genügend unbeschäftigte Menschen da sind, die ihn decken könnten (siehe oben I. 3).
Warum sie den Versuch, dringende gesellschaftliche Bedarfe und vorhandene Kapazitäten zusammenzubringen, über einen dritten Arbeitsmarkt regeln will, statt zum Beispiel die dafür nötigen öffentlichen Mittel bereitzustellen, das begreife ich nicht, zumal sie für den dritten Arbeitsmarkt (jetzt übernehme ich ihre Terminologie der Einfachheit halber) ja auch Geld braucht.
Wenn das zu finanzieren ist, dann ist auch eine normale öffentliche Leistung in bezahlten Beschäftigungsverhältnissen zu finanzieren. Es macht doch keinen Sinn, neue Apparate aufzubauen, nur weil es die neoliberalen Ideologen geschafft haben, den Staat und die öffentliche Daseinsvorsorge in jeder Hinsicht auszuhungern. Im Übrigen: Wenn wir diese Ideologien nicht brechen, dann wird es auch nicht das nötige Geld für einen dritten Arbeitsmarkt geben.
Wie nötig der Bruch mit der herrschenden Praxis ist, kann man aktuell auch daran sehen, welche absurde prozyklische Politik gerade in ostdeutschen Ländern betrieben wird. Mitten in einer Wirtschaftskrise soll dort die Sparpolitik der öffentlichen Haushalte noch forciert werden.
Ich verweise etwa auf eine Meldung der taz vom 2.1.2007:
„Die Zukunft im Osten: Kürzen, kürzen, kürzen“
Die neuen Bundesländer leben über ihre Verhältnisse und müssen sparsamer wirtschaften. Das zeigt eine Studie beispielhaft für Sachsen-Anhalt. Statt langfristiger Maßnahmen setzen viele Regierungen jedoch auf Paniksparen.
Wie will Iris Gleiche in einem solchen politischen Klima die Mittel für einen dritten Arbeitsmarkt beschaffen können?
- Wenn Iris Gleicke darauf verzichtet hätte, an anderen Lebenslügen festzuhalten, dann hätte sie in ihrem Papier die Forderung festschreiben können, endlich alle Instrumente der Wirtschaftspolitik zu nutzen und ihren Einsatz zu optimieren:
Meinetwegen angebotsökonomische zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit – also Forschung, Bildung, Ausbau der Leistungen für Kinder und Familien, damit die Erwerbsquote steigen kann, der Ausbau der Infrastruktur und so weiter.
Dann alle möglichen Instrumente zur Förderung der Binnennachfrage. Wir brauchen eine massive expansive Makropolitik – ein großes Investitionsprogramm, eine auch der Arbeitsplatzsicherheit gewidmete Geldpolitik, deshalb kommen wir an einer öffentlichen Debatte an der schon wieder restriktiven und damit miserablen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank nicht vorbei; antizyklisches Verhalten der öffentlichen Haushalte, Ermunterung der Tarifpartner zu besseren Lohnabschlüssen und so weiter.
Und dann auch noch öffentliche Aktivitäten zur Beschäftigung von Menschen, die trotz der expansiven Politik keine Chance für einen Job haben. Das kann man dann dritter Arbeitsmarkt nennen, wenn dies der Umsetzung dient.
- Meine größten Bedenken gelten dem Problem, wie eigentlich dieser dritte Arbeitsmarkt gestaltet und organisiert werden soll. Die Abgeordnete verweist auf zwei Beispiele in Leipzig und Bad Dürkheim. Der Hinweis auf zwei Beispiele reicht aber nicht, um die Schlüssigkeit eines solchen Projektes auszuloten.
- Wirklich problematisch finde ich, mit welcher Sorglosigkeit die Abgeordnete die Arbeitslosen gegen die noch Arbeitenden ausspielt.
Das geschieht in Ziffer11, wo sie das Argument zurückweist, dass reguläre Arbeitsplätze durch geförderte Arbeitsplätze gefährdet werden. Wie man so leichtfertig mit diesem Problem umgehen kann, wenn man die Erfahrung mit den verschiedenen Minijobs und ihrer negativen Wirkung auf die bisherigen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverträge schon hinter sich hat, verstehe ich nicht. Wir haben in den NachDenkSeiten schon mehrmals über die Verdrängungseffekte berichtet.
Es gibt dann noch einige kleinere kritische Punkte, die ich nur noch in Stichworten anmerke:
- Iris Gleicke spricht vom „Zusammenbruch“ der industriellen Strukturen in Ostdeutschland. Als Sozialdemokratin würde ich darüber anders sprechen: nämlich dass die dortigen Strukturen sind zum Teil bewusst zerstört, zum Teil aus Nachlässigkeit nicht gerettet worden sind. Man hätte viel mehr tun müssen, um mehr zu retten. Man hat dafür viel zu wenig getan. Und man hat das Überleben von Betrieben auf vielfacher Weise erschwert, zum Beispiel auch durch die künstliche Verschuldung der ostdeutschen Betriebe. Der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaftsstruktur war auch gemacht, unter anderem weil mit dem Zusammenbrechen bisheriger industriellen Kapazitäten Interessen anderswo bedient worden sind.
- Die Hartz-Reformen seien keine Lebenslüge behauptet die Abgeordnete in Ziffer 3 und begründet das mit einer Menge heißer Luft. Sie hat offenbar immer noch nicht wahrgenommen, welch ein verheerendes Urteil selbst ein regierungsoffizieller Bericht gerade vor kurzem noch einmal über die Hartz-Reformen I bis III getroffen hat . Und sie will offenbar immer noch nicht wahrnehmen, dass Hartz IV nicht nur die schon arbeitslos Gewordenen drangsaliert, sondern auch die große Zahl der noch Arbeitenden der kleinen Sicherheit beraubt hat, eine einigermaßen funktionierende Arbeitslosenversicherung zu haben, die nicht nach kurzer Zeit in Armut und Bedürftigkeit führt.
- Auch Iris Gleicke kommt nicht an dem gängigen Sprachmuster vom herkömmlichen, fürsorgenden Sozialstaat und vom neuen vorsorgenden Sozialstaat vorbei. Das sind wirklich Lebenslügen. Der bisherige war nicht nur ein „Versorgender“, und der künftige ist kein nur „Vorsorgender“. Das sind Propagandaformeln und argumentative Verschiebebahnhöfe, auf die wir in einem solchen Papier getrost hätten verzichten können.
Quelle: Spiegel Online: Iris Gleicke „Die Zeit drängt – Deutschland braucht einen dritten Arbeitsmarkt“