Titel: Was ist mit Franz Walter los? Über Helmut Schmidts Regierungszeit präsentiert er ein Sammelsurium von Klischees.
Früher war ich skeptisch gegenüber dem Parteienforscher Franz Walter. Dann fand ich seinen Versuch beachtlich, sich vom gängigen Denken freizuschwimmen. Jetzt schreibt er wieder Texte, bei denen man sich nur wundern kann. Am 31.12.2006 in SpiegelOnline über Helmut Schmidt, den „deutschen Krisen-Kanzler“, wie Walter meint. Das ist ein Text voller Klischees und voller unrichtiger und schräger Behauptungen. Franz Walter hat offenbar den Mut verloren, wenigstens etwas gegen den großen Strom des gängigen Denkens zu schwimmen. Schade. Albrecht Müller.
Hier einige Fragezeichen zum Text von Franz Walter:
- Walter stellt sowohl den Beginn als auch das Ende der Ära Schmidt falsch dar. Er schreibt: „Das Land rief nach ihm, als es den großen Krisenmanager herbeiwünschte; es wandte sich von ihm ab, als die Krisensymptome sich verdoppelten und verdreifachten.“
Das Land hat nicht nach Helmut Schmidt gerufen. Es gab keine Wahl. Er ist von der Mehrheit der damaligen Koalition zum Bundeskanzler gewählt geworden, als Willy Brandt aus Anlass der Affäre dies DDR-Spions Guillaume zurückgetreten war. Dem war ein Dauerfeuer gegen Willy Brandt vorausgegangen, an dem die Gegner der SPD aber auch Herbert Wehner und auch Helmut Schmidt beteiligt waren. Dieser Teil der Geschichte ist in all den vielen Biografien zu Willy Brandt (und Helmut Schmidt) bisher allenfalls oberflächlich aufgearbeitet. Die Rolle Herbert Wehners und Helmut Schmidts in der Rechts-links- Auseinandersetzung innerhalb der SPD und bei der medialen Zermürbung von Willy Brandt in der Zeit zwischen 1968 und dem Rücktritt Willy Brandts im Jahr 1974 ist bis heute nicht geklärt und nicht richtig beschrieben. In den einschlägigen historischen Werken häufen sich die Klischees. So gesehen ist es kein großes Wunder, dass sie sich auch in diesem Text von Franz Walter niederschlagen.
- Das Land habe sich von Schmidt abgewandt, als die Krisensymptome sich verdoppelten und verdreifachten, schreibt Walter. Das entspricht in keiner Weise den damaligen Abläufen. Zum ersten ist Helmut Schmidt als Bundeskanzler zum Beispiel mit den Ölpreiskrisen wie schon zuvor Willy Brandt erstaunlich gut fertig geworden. So hat zum Beispiel das Zukunftsinvestitionsprogramm der Regierung Schmidt zur Belebung der Konjunktur und Überwindung der Folgen der Ölpreisexplosionen die Arbeitslosigkeit Ende der siebziger Jahre wieder abzubauen vermocht. Dieses und auch andere Programme wurden von den damaligen Wirtschaftsforschungsinstituten, übrigens auch vom Ifo-Institut und DIW, ausdrücklich gelobt. Sie haben die Fortsetzung dieser Programme auch in den achtziger Jahren empfohlen. Daraus wurde aber nichts richtiges, weil Helmut Schmidt unter Druck seines FDP-Partners, vor allem von Graf Lambsdorff, geraten war und diesem Druck immer wieder nachgegeben hat, statt seine wirtschaftspolitische und gesellschaftspolitische Linie durchzuhalten. Schmidt hat sich in eine Gegnerschaft mit den Arbeitnehmern und Gewerkschaften treiben lassen. Und ist immer mehr den Vorstellungen von Lambsdorff, Tietmeyer, der Bundesbank und anderen Konservativen gefolgt.
- Dennoch muss man Helmut Schmidt auch für diese Phase gegen Franz Walter in Schutz nehmen: ihm, Helmut Schmidt und der Schmidt-Ära das Elend von heute anzuhängen – Massenarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Unterfinanzierung der Hochschulen, Renten- und Gesundheitsreform – das ist wahrlich zu viel des Schlechten. Da übernimmt Franz Walter ohne jegliches Hinterfragen die heutigen, in der Tat gängigen Klischees. Diese Denkschulen bringen es ja sogar fertig, die verkorkste deutsche Vereinigung und ihre hohen Lasten für die öffentlichen Haushalte und die sozialen Sicherungssysteme den siebziger Jahren anzuhängen. Indem Franz Walter dem folgt, belegt er auch, wie oberflächlich diese Art von politischer Wissenschaft inzwischen geworden ist.
- Franz Walter ordnet auch den Begriff „Politikverdrossenheit“ den „düsteren Schmidt- Jahren“ zu. Der arme Helmut Schmidt! Nach meiner ziemlich sicheren Erinnerungen kam dieser Begriff erst sehr viel später, nämlich Ende der Achtziger, in Mode und wurde 1992 Wort des Jahres. Hier verstellt Walter offenbar eine Verklärung der Kohl-Ära eine nüchterne Bestandsaufnahme.
- Wenn ein Parteienforscher die Rolle der FDP in dieser Phase nicht einmal erwähnt, dann verdient er eigentlich diese Fachbezeichnung nicht mehr. Im Frühjahr 1980 war, wie schon einige male zuvor, einmal mehr und deutlich erkennbar, dass die FDP einen Koalitionswechsel erwägt und plant. Hans Dietrich Genscher hat den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Dezember 1979 dazu genutzt, das Ende der Entspannungspolitik – übrigens im Gleichklang mit Franz Josef Strauß – auszurufen. Im April 1980 berichtete der „Stern“ von Gesprächen zwischen Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, dem Parteivorsitzenden der FDP. Erst als die FDP in Nordrhein-Westfalen nach einem von der SPD bewusst friedenspolitisch geführten Wahlkampf mit 4,999% der Stimmen aus dem Landtag flog, kam sie wieder zur Vernunft. Helmut Schmidts Redenschreiber Breitenstein, ein FDP-Mitglied mit Präsenzberechtigung im FDP-Präsidium, kam am Dienstag morgen nach der NRW-Wahl in die Lagebesprechung des Bundeskanzleramtes und verkündete süffisant und mit der ihm eigenen gekonnten Ironie, das FDP-Präsidium habe „gestern Abend beschlossen, wieder für die Entspannungspolitik zu sein.“
Zwischen Mai 1980 und der Bundestagswahl im Herbst 1980 funktionierte die Koalitionsarbeit wieder. So war das immer, wenn die SPD der FDP gezeigt hatte, was eine Harke ist.
Und dann hat Helmut Schmidt persönlich den größten strategischen Fehler gemacht, den man überhaupt bei bundesrepublikanischen Wahlen und unserem Wahlsystem machen kann: er warb darum, mit der Zweitstimme FDP zu wählen. Das brachte die FDP auf 10,6%. Und das war der entscheidende Sargnagel für die Kanzlerschaft Schmidt – von Helmut Schmidt höchstpersönlich eingeschlagen. (Irgendwann hat übrigens Helmut Schmidt diesen Fehler selbst eingestanden. Leider erinnerte er sich im weiteren Verlauf dann immer weniger daran und macht sein eigenen politischen Niedergang an seiner Partei im Allgemeinen sowie an Willy Brandt und der SPD-Linken im Besonderen fest. Das sind die gängigen Versionen, die danach gestreut wurden, um vom „Dolchstoß“ der FDP – speziell von Genscher und Lambsdorff – gegen den nach wie vor populären Kanzler Schmidt abzulenken. Von einem Parteienforscher würde ich erwarten, dass er sich ein bisschen genauer mit den historischen Abläufen beschäftigt hätte, statt einer geschürten politischen Kampagne aufzusitzen und nachzuplappern.
- Helmut Schmidt war in der Phase zwischen etwa 1978 und 1982 alles andere als ein beständiger Krisenmanager. Er war hin und her gerissen. Konzeptionell und politisch. Schmidt hat in dieser Phase zum Beispiel ausgesprochen schlechte Personalentscheidungen getroffen und auch sonst vieles falsch gemacht. Zum Beispiel hat er den unter Journalisten enorm einflussreichen, geschickt operierenden Klaus Bölling, sicherlich nicht gerade ein Feind sondern immerhin Mitglied der SPD, als Sprecher der Bundesregierung ersetzt durch Kurt Becker, einen fast schon extrem konservativen einzuordnenden ehemaligen Redakteur der „Zeit“, jedenfalls jemand, der erkennbar die Partei des Bundeskanzlers verachtete. In jeder morgendlichen Lagebesprechung des Bundeskanzleramtes konnte man das beobachten. So hat dann der Sprecher der Bundesregierung das ohnehin spannungsgeladene Verhältnis des Bundeskanzlers zu seiner Partei permanent verschärft. Wenn man wie ich des Öfteren mit Bonner Journalisten redete, dann konnte man genau ermessen, wann und wie und was der Sprecher der Bundesregierung gerade gegen die Partei des Bundeskanzlers in Hintergrundgesprächen „durchgesteckt“ hat.
Eine ähnlich falsche Personalentscheidung gab es mit dem Abgang Manfred Schülers als Chef des Bundeskanzleramtes und die Übergabe dieses wichtigen Amtes an Manfred Lahnstein nach der Wahl 1980. Ein Krisen-Kanzler, den Franz Walter klischeehaft in Helmut Schmidt sieht, hätte wissen müssen, dass man in dieser kritischen Zeit im Bundeskanzleramt einen Chef des Amtes braucht, der seine volle Kraft in dieses Amt investiert. Und nicht schon von den künftigen Jobs in der Wirtschaft träumt.
- In Franz Walters Text fehlt das auch gängige Klischee nicht, die meisten Regierungschefs außer Schmidt (und Erhard) seien passionierte Außenpolitiker gewesen und hätten von Wirtschaft und Finanzen nichts verstanden. Das gilt nicht einmal für Adenauer. Ich habe für Brandt und für Schmidt gearbeitet und ich kann Statistiken lesen. Die Statistiken zeigen, dass die Wirtschaft in der Kanzlerschaft Willy Brandts ausgesprochen exzellente Ergebnisse zeitigte: das höchste Wachstum seit dem, die höchsten Zuwächse für die Arbeitnehmerschaft, gleichzeitig sozialpolitische Fortschritte und der Beginn des Umweltschutzes, riesige Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, für Bildungspolitik, Universitäten, Kläranlagen und so weiter. Der Bodensee war zum Beispiel Ende der sechziger Jahre ökologisch am Kippen. Dass er heute gerettet ist, verdankt er auch den neuen Impulsen der beginnenden siebziger Jahre.
Willy Brandt und seine Regierung haben nach der Ölpreiskrise vom Oktober 1973 das erste Energiesparprogramm installiert. Für Franz Walter hat das alles offenbar nichts mit Wirtschaft und Finanzen zu tun, dabei hätte er nur ein paar Statistiken anschauen müssen.
- Auch der Umweltschutz gehört zur Innenpolitik. Man muss zu Ehren von Helmut Schmidt sagen, dass er einige der in der Zeit Willy Brandts begonnenen ökologischen Veränderungen und Entscheidungen mitgetragen und weitergeführt hat. Aber keinesfalls mit Dynamik und begleitet von andauernden politischen Attacken auf die Umweltschützer und Ökologen. Über Schmidts Zeit als Regierungschef und Politiker zu schreiben, ohne auch nur zu erwähnen, dass Helmut Schmidt der eigentliche „Gründer“ der grünen Partei ist, das ist schon beachtlich. Dass er die Mehrheitsfähigkeit seiner eigenen Partei damit wesentlich beschnitten hat, ist bis heute von Bedeutung.
- Franz Walter analysiert auch nicht ausreichend, dass in der Zeit Helmut Schmidts als Bundeskanzler die programmatische Auszehrung der SPD begonnen hat. Weil dieser Bundeskanzler die inhaltliche Arbeit von Parteimitgliedern insgesamt für unnütz hielt. Auch darunter leidet die SPD bis heute. Es fehlt ihr fachlich kompetenter Nachwuchs. Dieser ist in früheren Zeiten über die politischen Auseinandersetzungen in den Ortsvereinen und Unterbezirken herangewachsen und fachlich kompetente Menschen, die politisch etwas bewegen wollten, sind zur SPD gestoßen.
Indem vom Regierungschef und von der Fraktionsspitze immer wieder verkündet wurde, wie kontraproduktiv diese „Parteiarbeit“ ist, sank die Motivation, dort inhaltlich zu arbeiten und aus diesen Gründen der SPD beizutreten. Entsprechend sieht die SPD heute aus.
- Natürlich kommt bei Franz Walter auch nicht vor, dass Helmut Schmidt schon seine erste Wahl 1976 glorios verloren hätte, wenn er nicht den Parteivorsitzenden Willy Brandt an seiner Seite gehabt hätte. Willy Brandt hat eine andere Wählergruppe angesprochen. Ohne diesen Teil der Wählerschaft, hätte der vergleichsweise unbekannte Helmut Kohl 1976 nicht nur die beachtlichen 48,6%, sondern die absolute Mehrheit für die Union erreicht. Helmut Schmidt wird das wegen seines Widerwillens gegen Willy Brandt nie und nimmer zugestehen. Aber Franz Walter hätte es sehen können, ja sogar müssen.
Das waren einige Anmerkungen.
Mein Fazit: So ein kluger Mensch wie Franz Walter sollte sich eigentlich zu schade sein, weiterhin solche oberflächlichen Texte abzuliefern.