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Titel: „Getaktete“ Muße ist keine Muße
Datum: 28. November 2013 um 13:34 Uhr
Rubrik: Gesundheitspolitik, Wertedebatte
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
In Berlin findet seit dem 27. November die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie zum Thema Von der Therapie zur Prävention statt. Dr. Iris Hauth, die Präsidentin dieser Vereinigung, wurde am Mittwoch in Deutschlandradio-Kultur zum Thema der Tagung interviewt. Götz Eisenberg hat das Interview gehört und kommentiert eine der dort geäußerten Empfehlungen.
Circa 30 Prozent der Deutschen seien psychisch krank und erhielten ein Mal pro Jahr eine entsprechende Diagnose, erfahren wir. Jedes fünfte Kind gelte als psychisch gestört. Das habe mit dem gewachsenen Stress zu tun, dem wir alle, und eben auch bereits Kinder, ausgesetzt seien. Manche Eltern möchten, dass ihre Kinder durch schulischen Erfolg eine gute Startposition im Rennen um wirtschaftlichen Erfolg erreichten und setzten sie auf diese Weise unter Druck, dem viele nicht standhalten könnten. Was man denn gegen den zunehmenden Stress tun könne, wird Frau Dr. Hauth gefragt. Achtsamkeits- und Entspannungsübungen seien ein probates Mittel. Wenn allerdings gewisse Symptome über einen längeren Zeitraum aufträten, sei es ratsam, sich professionelle Hilfe zu holen und einen Arzt aufzusuchen. Das Wort Muße klinge für viele Menschen altbacken und manch einer wüsste sicher gar nicht mehr, was das sei. Es sei aber immens wichtig, „Zeiten der Muße in unseren Alltag einzutakten“.
Es fiel Frau Dr. Hauth gar nicht auf, dass das „Eintakten“ von Muße das genaue Gegenteil von Muße ist und sie im Keim bereits wieder zunichtemacht. Von Muße kann nur gesprochen werden, wenn die dafür zur Verfügung stehende Zeit unserer freien Gestaltung unterliegt und nicht fremdbestimmt ist. Muße stellt sich nur ein, wenn der Rhythmus von Produktion und Konsum außer Kraft gesetzt wird und wir in eine andere Zeitzone eindringen. Was wir heute unter Freizeit verstehen, ist die Ergänzung der Arbeit und in der Regel ebenso entfremdet wie diese.
Was Frau Dr. Hauth empfiehlt, sind psychische Fitness-Übungen, die der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit unter gegebenen Bedingungen dienen. Mit Muße hat das etwa so viel zu tun, wie ein schneller Fick mit Liebe. Eine an der Jagd nach Profit orientierte Gesellschaft, die dem Müßiggang den Krieg erklärt hat, um die ursprünglich diskontinuierlichen Energien der Menschen in kontinuierliche und fortlaufend angebotene Arbeitskraft zu transformieren, will sich auf dem Höhepunkt ihrer hektischen Betriebsamkeit die Muße wieder einverleiben, um sich und die Menschen vor dem Kollaps zu bewahren.
Solange man überwiegend für den eigenen Bedarf produzierte, also Gebrauchswerte herstellte, herrschten ein anderer Arbeitsrhythmus und eine Zeitstruktur, die man im Unterschied zur linearen Zeit des Kapitals zyklisch genannt hat. Wie der englische Historiker E. P. Thompson gezeigt hat, basierte eine Ökonomie, die am Bedarf orientiert war und die Kategorie des Genug kannte, auf einem Wechsel von höchster Anspannung und Phasen der Muße. Da die menschlichen Tätigkeiten noch nicht der ökonomischen Rationalität und ihrem rechnerischen Kalkül unterlagen, fielen sie mit Zeit, Bewegung und Rhythmus des Lebens selbst zusammen.
Georg Büchner vermittelt uns in seinem Lustspiel Leonce und Lena durch den Mund von Valerio in deftiger Sprache einen Vorgeschmack einer künftigen Gesellschaft, die die Tyrannei von Arbeit und Profit überwunden hat: „Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht.“ Valerio setzt hinzu: „Und ich werde Staatsminister, und es wird ein Dekret erlassen, dass, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird; dass, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; dass jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft für gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!“
Mich hat das Interview und die Muße-Empfehlung der Präsidentin der Gesellschaft für Psychiatrie an eine Geschichte erinnert, die Oskar Negt und Alexander Kluge in ihrem Buch „Geschichte“ und Eigensinn erzählt haben. „In einem Vortrag vor Behavioristen in den USA erläuterte Jean Piaget den Satz: ‚Wenn Sie das Kind etwas lehren, so hindern Sie es daran, es selber zu entdecken, Sie stiften Schaden.’ In der Diskussion sagte daraufhin ein Behaviorist: ‚Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Meine Frage: Wie kann man diesen Vorgang beschleunigen?’ Hierauf lacht Piaget. Er antwortet nicht.”
Ich bin sicher, dass die versammelten Behavioristen sein Lachen nicht verstanden haben. Vom Kabarettisten Dieter Hüsch stammt folgende Geschichte: Der Direktor einer anthroposophischen Schule tritt in der großen Pause auf dem Balkon. Indem er in die Hände klatscht, fordert er die auf dem Hof spielenden Kinder auf: „Seid ungezwungen, Kinder!“ Man ahnt, dass die Aufforderung des Direktors ins Leere gehen wird und Zwang sich nicht auf Kommando abstellen lässt. Und selbst wenn: Eine befristete Aussetzung der herrschenden Regeln bekräftigt letztlich die herrschenden Regeln und dient so der Aufrechterhaltung des Status quo.
„Die großen, die glücklichen, die niemals erjagbaren Einsichten und Einfälle“, sagt der Philosoph Josef Pieper, „werden uns im Zustand der Muße zuteil“, wenn es zu einer „schweigenden Geöffnetheit der Seele“ kommt. Schon Platon wusste, dass es einen Zusammenhang zwischen Denken und Zeit gibt: Man kann nicht denken, wenn man es eilig hat. Zum Denken muss man innehalten, aus dem Rhythmus des Alltags aussteigen und eine Pause der Besinnung einlegen. Das birgt für die herrschende Gesellschaft die Gefahr, dass die Menschen ihren Funktionsprinzipien auf die Schliche kommen und herausfinden, dass es auch ganz anders sein könnte. Denken ermöglichende Muße birgt Gefahren und ist potenziell subversiv.
Frau Dr. Hauth steht auf den Schultern des Psychiaters Emil Kraepelin, der in seiner 1896 erschienenen Schrift Zur Hygiene der Arbeit der sich gerade herausbildenden Arbeitsgesellschaft ins Stammbuch schrieb, Pausen und Unterbrechungen der Arbeit so zu dosieren, dass sie die mühsam erreichte Gewöhnung der Menschen an die „Mühen der Arbeit“ und ihren Rhythmus nicht gefährden. So ist es auch mit der in den Alltag eingetakteten Muße. Sie wird sie zu einem Stück Hygiene, die dazu dient, die Ausbeutbarkeit der Arbeitskraft aufrechtzuerhalten und die Menschen instand zu setzen, das eigentlich nicht Aushaltbare weiter auszuhalten.
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