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Titel: Hans-Werner Sinns Propaganda zum Rentensystem
Datum: 20. November 2013 um 9:40 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Demografische Entwicklung, Rente, Riester-Rürup-Täuschung, Privatrente, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Jens Berger
Für die BILD-Zeitung ist Hans-Werner Sinn „Deutschlands klügster Professor“ und das FAZ-Ökonomenranking bescheinigt dem ifo-Chef den ersten Platz bei der medialen Resonanz. Dieser Spitzenplatz ist hart erkämpft. Auch wenn Sinn von seinen internationalen Kollegen bestenfalls belächelt wird, beherrscht er doch die Klaviatur der Meinungsmache perfekt. Hans-Werner Sinn entwirft mit Vorliebe düstere Untergangsszenarien, die sich nur durch größtmöglich radikale Reformen abwenden lassen. In diese Kategorie passt auch Sinns jüngster Vorschlag zur Reform des Rentensystems: Nur wer drei Kinder oder mehr in die Welt gesetzt hat, soll demnach noch die volle Rente bekommen. Alle Anderen sollen nur noch eine gesetzliche Minirente bekommen und zwangsweise dazu verdonnert werden, die Lücke durch eine Riesterrente auszugleichen. Von Jens Berger
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Rentenkürzungen für mehr als 80% der Bevölkerung
Ginge es nach Hans-Werner Sinn, würden künftig nur noch Menschen, die drei oder mehr Kinder in die Welt gesetzt haben, Anspruch auf die volle gesetzliche Rente haben. Kinderlose Haushalte hätten nach Sinns Vorschlägen de facto nur noch den Anspruch auf die halbe Rente. Zusammen mit den Ein- und Zweikinder-Haushalten sollen sie vom Staat zwangsweise dazu verpflichtet werden, sechs bis acht Prozent ihres Lohns in eine Riesterrente einzuzahlen. In der wundersamen Welt des Hans-Werner Sinn soll dieser Anteil genügen, um die von ihm prognostizierte Lücke zur vollen gesetzlichen Rente auszugleichen. Alleine diese viel zu optimistische Milchmädchenrechnung wäre schon Anlass genug, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen.
Es ist relativ komplex, die Auswirkungen einer solchen Reform umfassend zu beziffern. Bei den heute 30-34-jährigen Frauen liegt der Anteil mit drei oder mehr Kindern bei 4,6% (Ost) bzw. 8,5% (West). Da Frauen dieser Altersgruppe jedoch ihre Kinderzahl noch erhöhen können, ist davon auszugehen, dass der Anteil noch leicht ansteigt. Bei den 50-54-jährigen Frauen, bei denen aus biologischen Gründen die Kinderzahl stagniert, liegt der Anteil bei 15,1% (Ost) bzw. 18,8% (West). Mit anderen Worten: Nach Hans-Werner Sinns Vorstellungen müssten mehr als 81% der künftigen Rentner mit massiven Abstrichen rechnen und daher gesetzlich in eine Riesterrente getrieben werden, von der unter dem Strich nur die Versicherungsgesellschaften profitieren.
Sinns böses Spiel mit den „Steuerzuschüssen“
Da stellt sich natürlich die Frage, wie Hans-Werner Sinn überhaupt auf einen Maximalabschlag in Höhe von 50% des Rentenanspruchs kommt, den er kinderlosen Haushalten wegnehmen will. Hier äußert sich Sinn – wie meist – kryptisch und wenig überzeugend. Neben einem „Einfrieren“ des jetzigen Beitragssatzes schlägt Hans-Werner Sinn noch ein „Einfrieren“ des prozentualen Steuerzuschusses in das Rentensystem vor. An dieser Stelle wird es interessant. Um Sinns Propaganda zu durchschauen, muss man zunächst einmal klarstellen, was diese Steuerzuschüsse überhaupt sind.
Seit es die Rentenversicherung des Bundes gibt, muss sie auch versicherungsfremde, also nicht beitragsgedeckte, Leistungen übernehmen. Der Katalog dieser Leistungen ist lang und reicht von Ersatzzeiten (z.B. Wehrdienst), Anrechnungszeiten (z.B. bei Krankheit oder Schwangerschaft), Kriegsfolgelasten und Frührenten bis hin zur Witwenrente. Für alle diese Leistungen gibt es einen guten politischen Grund, sie sind Bestandteil des Sozialstaats. Allen diesen Leistungen stehen jedoch keine Beiträge der Rentenversicherten gegenüber. Aus diesem Grund sollen diese Leistungen auch über den sogenannten Bundeszuschuss aus dem Steuertopf getragen werden. Verschiedene Untersuchungen ergaben jedoch, dass die Summe der Bundeszuschüsse konstant weit unter den tatsächlich erbrachten versicherungsfremden Leistungen liegt. Bezogen auf die Rentenversicherung ergab beispielsweise eine DIW-Studie [PDF – 528 KB] aus dem Jahre 2005 einen Fehlbetrag von 39,2 Milliarden Euro. Das DIW beziffert die zusätzliche Belastung der gesamten Sozialsysteme durch nicht aus Steuermitteln ausgeglichene versicherungsfremde Leistungen auf neun Beitragspunkte – bei der paritätischen Finanzierung der Sozialsysteme könnten also sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber Bruttolohnanteile von jeweils 4,5% einsparen, wenn die versicherungsfremden Leistungen ordnungsgemäß über die Steuern finanziert würden.
Ginge es nach Hans-Werner Sinn, soll also die Rente künftig um 50% sinken, wenn der Staat den heutigen prozentualen Anteil der Steuerzuschüsse einfriert. Dies impliziert, dass in Zukunft wesentlich höhere Steuerzuschüsse anfallen müssten. Diese Prognose ist – vorsichtig ausgedrückt – mutig. Zunächst einmal sollte man sich die Frage stellen, ob der Anteil der versicherungsfremden Leistungen in Zukunft überhaupt steigt. Und schon hier sind Zweifel angebracht. Durch den Wegfall der Wehrpflicht und die biologische Reduzierung der Kriegsfolgelasten und Witwenrenten ist hier mittel- bis langfristig – ganz im Gegenteil – sogar eine Entspannung der Lage zu erwarten. Sinns Horrorszenario von der „halben Rente“ für Kinderlose entbehrt also jeglicher Grundlage.
Horrorszenarien aus dem konservativen Wolkenkuckucksheim
Wenn man Hans-Werner Sinn für einen Ökonomen hält, müsste man sich spätestens an dieser Stelle die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Doch auch wenn seine Horrorszenarien samt der Reformvorschläge stets ein größtmögliches Fremdschämpotential haben, wirken sie in der öffentlichen Debatte. Was bleibt beim unbedarften Leser bei Sinns Rentenreformvorschlag hängen?
Diese Debatte ist – wenn auch in anderer Form – abgestandener Kaffee. Früher hatte die „deutsche Frau“ die gesellschaftliche Pflicht, dem Kaiser oder später dem Führer möglichst viele Kinder zu schenken, so dass der Nachschub an Kanonenfutter nie ausgeht. In konservativen Kreisen hält sich bis heute hartnäckig die Vorstellung, dass „die Deutschen“ aussterben könnten, wenn die Geburtenraten nicht schon bald kräftig ansteigen. Hierbei spielt auch die konservative Urangst vor einer Überfremdung eine gewichtige Rolle. Auch Hans-Werner Sinn geht es um nichts weniger als um die „Zukunft der Deutschen“ und nicht um die Zukunft Deutschlands. Selbst wenn man es als Problem sehen sollte, dass eines der am dichtesten bevölkerten Länder der Welt wieder ein „Volk mit Raum“ werden könnte, so ließe sich dies mit einer intelligenten Einwanderungspolitik ausgleichen. Davon wollen Konservative jedoch nichts wissen. Dem Rentner ist es jedoch egal, ob die Beiträge der Rentenversicherung nun vom jungen Paul oder von Aischa und Wladimir getragen werden.
Hier wird das komplett überschätze Problem des demografischen Wandels in den Dienst erzkonservativer familienpolitischer Vorstellungen gedrängt. In weniger als der Hälfte [PDF – 1.1 MB] aller Familien, die drei oder mehr Kinder haben, ist auch die Mutter berufstätig. Die Frau, die daheim am Herde scharenweise blonde Kinder versorgt, mag ein Lebensentwurf von vielen sein –zeitgemäß ist dies jedoch nicht.
Schon heute decken die Steuerzuschüsse den Anteil der versicherungsfremden Leistungen nicht. Das geschieht natürlich vor allem vor dem Hintergrund, die gesetzliche Rente schlechter zu machen, als sie eigentlich ist. Vordergründig könnte man natürlich sagen, dass es schlussendlich doch egal ist, aus welchem Topf diese Leistungen bezahlt werden. Das ist jedoch falsch, da die Finanzierung aus Steuermitteln auf einer wesentlich breiteren Basis steht, als die Finanzierung aus den Sozialkassen. In die gesetzliche Rentenversicherung zahlen beispielsweise weder Beamte noch Selbstständige, die nicht freiwillig versichert sind, ein. Ferner gilt hier die sogenannte Beitragsbemessungsgrenze – Einkommen oberhalb von 5.800 Euro brutto (West) werden für die Rentenversicherung nicht mehr herangezogen.
Die Finanzierung sozialpolitischer Leistungen ist jedoch Aufgabe der Allgemeinheit und nicht nur der sozialpflichtig versicherten Arbeitnehmer. Wenn die Politik das Problem ernst nehmen würde, könnte sie beispielsweise die Rentenversicherungsbeiträge senken und im Gegenzug die Bundeszuschüsse um den Differenzbetrag erhöhen. Um dies zu finanzieren, könnte beispielsweise die Einkommenssteuer erhöht werden, was in toto den sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern zugute käme. Hans-Werner Sinn würde dies natürlich kategorisch ablehnen. Stattdessen entwirft er lieber – ohne jegliche ernstzunehmende Grundlage – ein Horrorszenario, um die Steuerzuschüsse zwischen den Zeilen als etwas ganz anderes darzustellen, als sie eigentlich sind: als Deckung einer Differenz zwischen den eingezahlten und ausgezahlten Versicherungsleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung. Wenn man die Steuerzuschüsse – bar jeder Grundlage – derart missinterpretiert und dann auch noch ein komplett realitätsfernes demographisches Szenario anlegt, muss man natürlich zu dem Fehlschluss kommen, dass die Steuerzuschüsse in Zukunft förmlich explodieren. Hans-Werner Sinn ist zwar ganz sicher nicht „Deutschlands klügster Professor“, aber so dumm ist er auch nicht. Schlussendlich geht es ihm bei seiner unsäglichen Propaganda vor allem um den dritten Punkt:
Genau dies ist die Riesterrente eben nicht, wie wir bereits in zahlreichen Artikeln dargelegt haben. Die Riesterrente war bereits seit ihrer Einführung eine verkappte Rentenkürzung zum Wohle der Versicherungs- und Bankenbranche. Seit in Folge der Finanzkrise die Zinsen massiv gesunken sind, ist der Teil der Riesterrente jedoch auch für die Anbieter zu einem Problemkind geworden. Sinns – zum Glück – realitätsferne Forderung, die Riesterrente für einen Teil der Bevölkerung zu einer Pflichtversicherung zu machen, wäre das wohl beste Konjunkturprogramm, das sich die Versicherungswirtschaft wünschen könnte. Aber auch darum geht es dem Münchner Professor wohl nicht. Ihm geht es vielmehr darum, die Riesterrente als positiven Kern eines Horrorszenarios einzubetten und so populistische PR-Arbeit im Sinne der Finanzbranche zu betreiben.
Genau dies ist die eigentliche Stärke von Hans-Werner Sinn. Er ist und bleibt ein Populist, dessen Botschaften von den Medien liebend gerne weiterverbreitet werden. Nicht weil sie so „schlau“ oder wissenschaftlich bahnbrechend wären – ganz im Gegenteil. Sinn wird geliebt, weil er gekonnt an die niederen Instinkte appelliert. Seine Äußerungen sind streng genommen anti-wissenschaftlich. Stets schwingt ein wenig Weltuntergangspathos mit, stets präsentiert er einfache und im wahrsten Sinne des Wortes radikale Reformen, mit denen der Weltuntergang gerade noch einmal abgewendet werden könne. Mit Ökonomie hat das Ganze freilich nicht sonderlich viel zu tun. Früher nannte man so etwas Propaganda.
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