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Titel: Bisherige Dogmen der Europapolitik sollten in Frage gestellt und überdacht werden

Datum: 10. Juni 2005 um 16:21 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Europapolitik, Europäische Verträge
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Zusammenfassender Bericht über einen Artikel des ehemaligen französischen Außenministers Hubert Védrine in der Pariser Tageszeitung Le Monde vom 9.6.2005 von Gerhard Kilper.

Der Aufstand der französischen Wähler am 22.5.2005 war ein „kalter Mai 68“, der sich allerdings schon lange vorher bei uns angekündigt hatte. Er zwingt uns, vorurteilslos und ohne Scheuklappen über unsere bisherige Wirtschafts-, Sozial- und Europapolitik nachzudenken.
Welche Gründe veranlassten die Franzosen, die EU-Verfassung abzulehnen? Welche politische Konsequenzen wird das „Non“ haben und welches politische Handeln ist heute angesagt? Die Gründe für die Ablehnung sollten ehrlich analysiert werden, politische oder persönliche ad-hoc-Interpretationen wie bisher genügen nicht mehr. Das „Non“ hatte sich – von den Politikern nicht zur Kenntnis genommen – schon mit den 49,2% Nein-Stimmen zum Maastricht-Vertrag angekündigt.
Eine Europapolitik, die nur noch in Brüsseler Direktiven wahr genommen wird, mit denen – noch radikaler als in den USA – gleiche Marktverhältnisse herstellt werden sollen, eine solche Europapolitik wird von den Bürgern nicht mehr akzeptiert. In der politischen Tradition Frankreichs waren Regeln oder Gesetze auch immer Ausdruck eines „allgemeinen Willens“. Die Europapolitik der EU-Kommission wird daher vom Großteil der Wählerschaft als ein bevormundender Affront angesehen und nicht weiter hingenommen.

Die europäische Integration ist und bleibt für die Franzosen ein unbestrittenes und fortschrittliches politisches Ziel. Sie wird aber von den Leuten nicht mehr akzeptiert, wenn der Weg zur Erreichung dieses Ziels für den Großteil der Bevölkerung zu einer wirtschaftlichen und sozialen Bedrohung wird. Die letzte Mega-EU-Erweiterung wurde von den Politikern als moralische Pflicht gegenüber den demokratisch erneuerten Ostblock-Ländern verkauft und durchgesetzt, obwohl die EU-Volkswirtschaften gleichzeitig noch eine von Brüssel dekretierte, verschärfte innere Liberalisierung und Marktöffnungen im Rahmen der Globalisierung zu verkraften hatten und obwohl es schon seit geraumer Zeit Frankreich (und Deutschland) nicht mehr gelang, die eigene Arbeitslosigkeit auch nur einigermaßen in Griff zu bekommen.
Zu all dem kam für die Mehrzahl der Wähler das Gefühl, von den selbst ernannten Eliten überhaupt nicht mehr gehört oder ernst genommen zu werden. Am Ende wurde ihnen jetzt in Frankreich mit 15,422 Millionen Nein-Stimmen die Rechnung präsentiert. Drei Tage später folgte das niederländische Nein und gestern die Absage des britischen Referendums. Die Zurückweisung eines „weiter so“ in der Europapolitik durch die Bürger ist kein französisches Problem, sondern ein europäisches. Die Franzosen sind nicht über Nacht zu Anti-Europäern geworden, ihr „Non“ zur EU-Verfassung war Ausdruck des Gefühls, durch Brüssel demokratisch „enteignet“ zu werden. Dazu war die Gleichgültigkeit und Arroganz der eigenen Politiker gegenüber ihren berechtigten Nöten und Ängsten gekommen.

Es ist ein Paradox, dass die Väter der EU-Verfassung – wie übrigens auch ich – gemeint hatten, mit der Verfassung ein tragfähiges Gleichgewicht zwischen der EU und den nationalen Besonderheiten der Mitgliedsstaaten gefunden zu haben. Viele linke Wähler votierten mit ihrem „Nein“ für den Schutz unseres bestehenden sozialen Netzes vor den zerstörerischen Wirkungen der Globalisierung und der freien Märkte – denen sie sich nicht zuletzt durch Brüsseler Direktiven hilflos ausgeliefert sahen und sehen. Deswegen, und nicht weil sie den europäischen Einigungsprozess nicht wollen, haben die Franzosen die EU-Verfassung abgelehnt.
Welche politischen Handlungsmöglichkeiten haben wir heute?
Die in Brüssel in den letzten Tagen entworfenen Szenarien bringen keine wirklich tragfähigen Lösungen für die Zukunft. Die anderen Mitgliedsländer können jetzt zwar weiter über die EU-Verfassung abstimmen und sie billigen. Aber nach internationalem Recht kann keinem Staat ein völkerrechtlicher Vertrag als geltendes Recht verordnet werden, dem er nicht zugestimmt hat. Nach der Vertrags-Ablehnung durch zwei EU-Gründungsländer haben daher weitere Abstimmungen über die EU-Verfassung in anderen Mitgliedsländern keinen Sinn mehr.
Es macht auch keinen Sinn, den Vertragstext den Franzosen und Niederländern nochmals zur Abstimmung vorzulegen. Das würde als Provokation aufgefasst und ein zweites Debakel wäre voraussehbar. Erfolgreiche Neuverhandlungen sind wenig wahrscheinlich, da für einen neuen Verfassungstext die Zustimmung aller 25 EU-Partner nötig wäre. Eine demokratische Lösung der gegenwärtigen Krise könnte in einer stärkeren Rolle der nationalen Parlamente innerhalb der EU und in der Schaffung eines effizienteren Petitionsrechts (gegen EU-Direktiven) liegen. Der Vertrag von Nizza gilt rechtlich weiter. Er könnte durch eine verstärkte Zusammenarbeit interessierter Regierungen ergänzt werden. Kooperierende Regierungen haben auch weiterhin die Möglichkeit, gemeinsam auf europäischer Ebene initiativ zu werden.
Man sollte zur ursprünglichen politischen Konzeption Jacques Delors zurück kehren. Delors begriff die EU als Zusammenschluss selbständiger Staatsnationen mit eigenständigen Sozialstaatsmodellen. Vor neuen Entscheidungen müssten in der EU die Argumente eines jeden Mitgliedslandes sorgfältiger zur Kenntnis genommen und abgewogen werden als bisher. Die bestehende EU mit kulturell unterschiedlichen Völkern und Staaten muss zunächst weiter stabilisiert werden und man sollte nicht weiter so tun, als ob es diese Völker und Staaten morgen nicht mehr geben werde. Ein weiterer Grund allgemeiner Verunsicherung und Beunruhigung sind die ausufernden, immer neuen Erweiterungspläne. Hier sollte ein für allemal der Schluss gezogen werden, dass Europa politisch und geographisch bestimmte Grenzen hat. Die USA schlagen Nachbarn, mit denen sie enge politische und wirtschaftliche Beziehungen haben, auch nicht vor, sobald wie möglich Bundesstaaten der USA zu werden. Man sollte seinen gesunden Menschenverstand einsetzen und das Dogma unendlicher Integrationsoffenheit fallen lassen.
Die Lösung aller nationalen Probleme kann nicht von Europa erwartet werden, so wie Europa auch nicht für alle bestehenden nationalen Probleme verantwortlich gemacht werden kann. Unsere eigene nationale Politik muss genau definierte Ziele und einen politischen Willen haben, nach Wegen zur Durchsetzung einer solchen Politik zu suchen. Zurück zur gemeinsamen Europapolitik. Warum ist eigentlich der Chiracsche Plan gemeinsamer großer europäischer Infrastrukturprojekte gescheitert? Neben gemeinsamen Infrastrukturprojekten sind länderübergreifende Projekte im universitären, wissenschaftlichen, industriellen, sozialen, kulturellen, ökologischen und diplomatischen Bereich vorstellbar und realisierbar. Diese Projekte müssten inhaltlich und in den Schritten ihrer Umsetzung präzisiert werden. Für die ganze Euro-Zone wäre eine harmonisierte und abgestimmte Wirtschaftspolitik denkbar, die sich auf Beschäftigung und Wachstum konzentriert und diese Ziele mit einer verbesserten Ökologie verbindet.
Sozialpolitik wird zwar weiterhin eine Domäne nationaler Politik bleiben, aber die 25 EU-Länder könnten sich auf Mindeststandards einigen, um in diesem Bereich innerhalb der WTO ein größeres Gewicht gegenüber den USA zu bekommen. Sozialreformen kann es nur mit einer innovativen Wirtschaftspolitik geben, die tatsächlich neue Arbeitsplätze und damit neues Vertrauen für die Zukunft schafft. Verschlechterungen gegenüber dem status quo werden die Bürger jedenfalls nicht akzeptieren.


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