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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: „Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland? Teil 2
Datum: 12. November 2013 um 16:56 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Griechenland, Rechte Gefahr, Wahlen
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Nach dem Überfall auf die Wachen vor dem Parteibüro der Neonazis ist die Unsicherheit, wie es in Griechenland weitergehen soll, noch größer geworden. Wer immer die Täter sind, sie haben den Neonazis eher einen Dienst erwiesen. Erinnerungen an den griechischen Bürgerkrieg kommen hoch. Was ist dran an den Berichten, dass die Neonazis über gute Verbindungen zur Polizei verfügen? Ob das entschlossenere Vorgehen und die Anklage gegen die Parteiführung der Chrysi Avgie („Goldene Morgenröte“) einen Teil ihrer Anhänger verunsichert oder abschreckt, ist eine offene Frage. Würden bei Neuwahlen die Neonazis zurückgedrängt und wo würden deren Anhänger bei Wahlen hinwandern? Wie sieht die politische Strategie der Linken gegenüber der Chrysi Avgi aus? Stehen die eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren gegen die ChA-Führung überhaupt auf sicherem juristischem Grund oder steht am Ende sogar ein Propagandaerfolg der Neonazis. Es fehlt eine Aufarbeitung mit dem ganz „alltäglichen“ griechischen Nationalismus. Mit diesen Fragen beschäftigt sich der zweite Teil des Beitrags über „Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland von Niels Kadritzke.
Aktuelle Einleitung
Ehe ich auf weitere Fragen zu einem möglichen Verbot der griechischen Neonazis eingehe, muss ich zwei Entwicklungen darstellen, die seit dem ersten Teil dieser Analyse eingetreten sind und die miteinander zusammen hängen: Am 7. November besetzte die griechische Polizei in den frühen Morgenstunden den seit Juni autonom funktionierenden ehemaligen Staatssender ERT und „säuberte“ das Gebäude von den alten (gekündigten) Mitarbeitern, die ein Notprogramm über das Internet ausgesendet hatten. Diesen Schlag nahm die Oppositionspartei Syriza zum Anlass, im Parlament ein Misstrauensvotum gegen die Regierung Samaras zu beantragen.
Die Räumung des ERT-Gebäudes wurde seit langem erwartet, was gewiss erklärt, warum es vor dem Gebäude zu keinen großen Demonstrationen und zu keiner breiten Solidarisierung mit der alten ERT-Belegschaft kam. Insofern war die Verzögerungstaktik der Regierung erfolgreich; der autonome Sender wurde sozusagen „ausgehungert“. Dies war nur ein weiterer Schlag der Regierung gegen einen aus ihrer Sicht renitenten Sektor des öffentlichen Dienstes, der deshalb als Anlass eines Misstrauensvotums selbst für griechische Verhältnisse ziemlich weit her geholt war.
Für nicht-griechische Beobachter ist das eigentlich Erstaunliche an diesem ganzen Vorgang, dass die Syriza nicht den eigentlichen Skandal bei der ERT-Schließung thematisiert hat: Am 17. Juni hatte das höchste griechische Gericht entschieden, dass der Sender weiter betrieben werden müsse – und zwar nicht nur mit einem Notprogramm – bis die Nachfolgeanstalt mit einer neuen Struktur (und reduziertem Personal) auf Sendung gehen kann. Das bedeutete eine klare Anweisung an die Regierung, mit dem alten Personal weiterzumachen – die allein einen kontinuierlichen Sendebetrieb leisten konnte – und parallel dazu über die neuen Strukturen zu diskutieren und rechtlich zu verankern.
Diese Auflage des höchsten Gerichts hat die Regierung fast fünf Monate lang einfach ignoriert – und niemand fand das empörend, nicht einmal die Oppositionsparteien oder kritische Journalisten. Die Frage spielte auch in der Vouli bei der dreitägigen Debatte über das Misstrauensvotum keine Rolle. Die Abstimmung endete mit einem begrenzten „Sieg“ der Regierung, die 153 ihrer Parlamentarier gegen das Misstrauensantrag mobilisieren konnte. Allerdings ist dabei der Pasok ein weiterer Parlamentssitz abhandengekommen, weil eine Abgeordnete dem Abwahlantrag der Syriza zustimmte und daraufhin sofort aus der Fraktion ausgeschlossen wurde. Die Mehrheit der Regierung hat sich damit auf 154 Stimmen reduziert (bei der Abstimmung vom Sonntag fehlte ein ND-Abgeordneter krankheitshalber), das sind nur drei Stimmen mehr als die absolute Mehrheit.
Die Syriza könnte argumentieren, dass der „Abnutzungskrieg“ gegen die Koalition sich allmählich auszahlt. Aber so wird es im linken Lager nicht empfunden. Auch die griechische Presse spricht weithin von einer „Niederlage“ der Oppositionsstrategie. Das träfe allerdings nur zu, falls die Parteiführung und Tsipras selbst tatsächlich Neuwahlen angestrebt hätten, die bei einem Abstimmungserfolg unvermeidlich gewesen wären. Das kann aber angesichts der Tatsache bezweifelt werden, dass knapp die Hälfe der potentiellen Syriza-Wähler von Neuwahlen ebenso wenig halten wie die meisten Anhänger der Regierungsparteien ND und Pasok. Und auch viele Parteimitglieder sind sich überhaupt nicht sicher, ob die Syriza ein Programm anbieten kann, das den Wähler eine überzeugende, praktisch durchsetzbare Alternative zumindest vorspiegelt. Wenige Tage vor dem Votum hat selbst der alte, auch außerhalb der Syriza hoch geachtete Parteiveteran Manolis Glezos Bedenken geäußert, ob die Partei ihre reichhaltigen Wahlversprechungen realistisch durchgerechnet hat.
Ein eindeutige Niederlage musste die Syriza jedenfalls „auf der Straße“ hinnehmen: Obwohl Tsipras seine Gefolgschaft dazu aufgerufen hatte, während der Misstrauensdebatte in Massen vor dem Parlament zu demonstrieren (getreu der Parole, dass nur „das Volk“ die Regierung zu Fall bringen könne), konnte die Partei allenfalls 3000 Demonstranten aufbieten. Das war auch für Tsipras selbst eine bittere Enttäuschung – und gleichzeitig die Botschaft, dass der Wunsch nach Neuwahlen in der heutigen Situation nicht besonders ausgeprägt ist. Erstaunlich ist dennoch, dass offenbar nicht einmal der Kern der Parteimitglieder für diese Perspektive zu mobilisieren ist.
Das hängt gewiss auch damit zusammen, dass die Syriza derzeit keinerlei Aussagen über einen möglichen Koalitionspartner machen kann, den sie selbst nach einem relativen Wahlsieg mit Sicherheit zum Regieren brauchen wird. (siehe dazu meine Überlegungen vom 25. Juli 2013) Beim Misstrauensvotum stimmten zwar mehrere Parteien mit der Syriza, aber sie alle sind als Koalitionspartner ungeeignet. Die KKE sagt nach wie vor klar, dass sie keiner „bürgerlichen“ Regierung beitreten wird. Die linkssozialdemokratische Dimar, die sich im Parlament enthalten hat, kämpft um ihr Überleben und ist innerlich zerstritten. Und die populistische Anel, die nach normalen europäischen Maßstäben eine rechtsradikale Partei ist, verbindet mit der Syriza nur eine einzige Forderung: Weg mit dem Memorandum. Ansonsten will sie auch die Migranten genauso entscheiden aus dem Land vertreiben wie die verhasste Troika. Zwar hat Anel-Chef Kammenos für die Kommunalwahlen vom Frühjahr 2014 eine gemeinsame Liste mit der Syriza vorgeschlagen. Aber ein solches Bündnis wäre für die Syriza eine Sprengbombe und würde viele ihrer bisherigen Wähler abschrecken.
Wenn man sich fragt, warum Tsipras ein Misstrauensvotum herbeigeführt hat, das mit hoher Wahrscheinlichkeit schiefgehen musste (weil klar war, dass die Dimar sich enthalten würde), bietet sich nur eine überzeugende Antwort an: Tsipras versucht derzeit alles, um die zentrifugalen Kräfte seiner Partei zusammen zu halten. Nachdem er sich eisern auf die Erhaltung der Eurozone und gegen einen Grexit festgelagt hat, muss er den nach wie vor starken Parteiflügel besänftigen, der das Land über das Ausscheiden aus der Eurozone und der EU retten will. Nachdem er letzte Woche in einem Vortrag an der Universität Austin/Texas sein Bekenntnis zum Euro erneut bekräftigt hat, musste er die befürchteten Reaktion von der Partei-Linken durch eine Initiative neutralisieren, die ihn als entschlossenen Kämpfer gegen die Regierung und für Neuwahlen beglaubigt. Doch diese parteitaktisch geprägte Strategie ist griechischen Öffentlichkeit und bei den Wählern nicht gut angekommen. Vor allem fragen sich viele, ob die extrem kritische Phase, in der sich die juristische und politische Auseinandersetzung mit den Neonazis befindet, die ideale Situation für einen „Lagerwahlkampf“ sein kann, in der sich die Chrysi Avgi neu profilieren kann.
Damit komme ich auf die Erörterung der Fragen zurück, die mit dem (verspäteten) Kampf der politischen Klasse mit den griechischen Neonazis aufgeworfen sind.
Nach dem Überfall auf die Wachen vor dem Parteibüro der Neonazis ist die Unsicherheit, wie es in Griechenland weitergehen soll, noch größer geworden
Bei ihren Ermittlungen über den Überfall auf die Wachen vor dem Parteibüro der Chryi Avgi im Athener Stadtteil Neo Hirakleion hat die „Terrorismus-Abteilung“ der Polizei noch keine heiße Spur. Von den vier Mitgliedern der Neonazi-Partei, die den Eingang des Büros bewachten, wurden zwei getötet und einer schwer verletzt. Ein vierter konnte ins Innere des Gebäudes flüchten. Nachdem die beiden Täter aus etwa 15 Meter Entfernung auf die Gruppe gefeuert hatten, ging einer von ihnen auf zwei der Niedergeschossenen zu und tötete sie mit Kopfschüssen aus einer 9-mm-Pistole. Die Art dieser „Exekution“ ist einer der Gründe, warum die Ermittler ihren Verdacht auf – womöglich versprengte Mitglieder – der linken terroristischen Gruppe „Sekte der Revolutionäre“ konzentrieren, die sich zu zwei Morden in den Jahren 2009 und 2010 bekannt hat; dabei wurden ein Polizist und ein Journalisten aus nächster Nähe erschossen. Allerdings gab es in beiden Fällen Bekennerschreiben, die bei dem Attentat von Neo Heraklion bislang nicht vorliegen. Die Athener Ermittler sprechen jetzt von einer „zweiten Generation“ der Gruppe (Kathimerini vom 5. November) und erwarten ein verspätetes Bekennerschreiben (womöglich unter anderem Namen).
Wer immer die Täter sind, sie haben den Neonazis eher einen Dienst erwiesen. So lautet der Tenor der griechischen Presse, der auch bei den Stellungnahmen der linken Parteien durchklingt. Die Syriza wie die KKE haben, wie alle politischen Parteien des Landes, den Mordanschlag von Neo Hiraklion eindeutig und scharf verurteilt. Was das Attentat vom 1. November verändert hat, und vor welchen Gefahren die Gesellschaft und die politische Klasse womöglich stehen, beschreibt Nikos Konstandaras in der Kathimerini vom 2. November:
„Der Angriff auf das Chrysi-Avgi-Büro in Neo Hiraklion stellt für unsere Gesellschaft, unseren Staat und unser politisches System eine ernsthafte Herausforderung dar. Die Gefahr der Instabilität ist groß, und um die Situation zu beherrschen, müssen wir kühlen Kopf bewahren und uns strikt an das Gesetz und die vorgeschriebenen institutionellen Verfahren halten.
Es ist unbedingt wichtig, dass die Polizei rasch und effektiv handelt und die Mörder aufspürt. Je länger diese und ihre Motive im Dunkeln bleiben, desto mehr werden sich die Verschwörungstheorien breit machen, und der Staat wird nicht mehr so funktionieren können, wie es zur Bekämpfung krimineller Aktivitäten nötig ist. Sollten die Täter längere Zeit unbekannt bleiben, wird das jetzt schon sehr ernste Thema sogar noch größere Bedeutung bekommen.
Alle politischen Parteien, die Medien und die Gesellschaft müssen den Überfall einhellig verurteilen, ganz ohne spitzfindige Vorbehalte. Die Philosophie der Gewalt und ihre Anhänger an den extremen Polen des politischen Systems können nur besiegt werden, wenn die Gesellschaft deutlich macht, dass jedes Leben gleich wertvoll ist.
Die Attacke rückt die Chrysi Avgi nach mehreren Wochen, in denen die Neonazi-Organisation verunsichert und weitgehend verstummt war, erneut ins Zentrum der politischen Bühne. Jetzt wo ihre Führer in Haft sitzen, der Zufluss staatlicher Gelder unterbrochen ist und ihre Parlamentarier keinen Polizeischutz mehr genießen, könnte eine Sympathie- und Solidaritätswelle ihrer Wähler, die ihr teilweise den Rücken gekehrt hatten, die Partei wieder auf die Beine bringen. Der Staat muss zeigen, dass sich die Anschuldigungen gegen die Chrysi Avgi-Führer auf mutmaßliche kriminelle Aktivitäten und nicht auf ihre Ideen beziehen. Es ist von höchster Bedeutung, dass das Recht erkennbar für Alle gilt, und für ausnahmslos jeden Bürger verpflichtend ist.
Wenn Staat, Polizei und Justiz, wenn unser politisches System und die Medien sich dieser Situation nicht gewachsen zeigen, indem sie seriös und entschlossen reagieren, besteht die große Gefahr, dass unsere Gesellschaft und unser politisches System weiter zerfällt. Und vor allem, dass die Chrysi Avgi-Partei gestärkt aus ihrer Krise herauskommen wird, weil sie sich als Opfer von Ungerechtigkeit und politischer Gewalt darstellen kann. Dann aber wird die Zukunft noch gefährlicher werden.“
Welche Gefahren die Zukunft den Griechen bringt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Die öffentliche Meinung artikuliert sich skeptisch bis ängstlich. Bei der der letzten Umfrage des Instituts GPO von Anfang Oktober (also nach der Ermordung von Pavlos Fissas) wurde die Frage „Steht das Land vor der Gefahr einer nationalen Spaltung?“ von 56 Prozent der Befragten mit Ja oder eher Ja, und von 44 Prozent mit Nein oder eher Nein beantwortet. Andererseits gibt es in derselben Umfrage auch ein starkes Zeichen der Stabilität: Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung lehnt Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung prinzipiell ab. Auf die Frage, „ob Gewaltakte, egal welcher Art und egal aus welcher (politischen) Ecke sie kommen, von der Gesellschaft verurteilt werden müssen“, antworteten 95 Prozent der Befragten mit Ja und nur 4,1 Prozent mit Nein. Nach dem Mord an den „rechten“ ChA-Mitgliedern dürfte sich der Prozentsatz derer, die diese Meinung teilen, eher noch erhöht haben.
Dennoch: Die politische Situation ist mehr denn je durch große Ungewissheit gekennzeichnet. Noch nie seit Beginn der Krisenjahre habe ich in Griechenland eine so fundamentale Unsicherheit bei der Einschätzung der politischen Zukunft erlebt, auch bei den Freunden und Bekannten, auf deren „Durchblick“ ich mich häufig verlassen konnte und von denen ich viel gelernt habe. Jetzt höre ich immer wieder den Stoßseufzer: „Ich weiß einfach nicht, wie es weitergeht, wie es weitergehen soll oder kann.“
Traumatische Erinnerungen an den Bürgerkrieg – Die Machtdemonstration der griechischen Rechten beim „Festival des Hasses“ in Meligala
Unter diesem generellen Vorbehalt soll im Folgenden versucht werden, weitere Fragen über die Zukunft der griechischen Neonazis zu beantworten, aber auch über die politischen – und die juristischen – Probleme der politischen Klasse im Umgang mit dem hausgemachten Rechtsextremismus. Dabei muss ich zunächst, mit Blick auf das Mordattentat auf die ChA-Wachen, noch einmal auf das Stichwort Meligala und den griechischen Bürgerkrieg zurückkommen. Denn die Angst, dass ein Attentat auf Rechtsextremisten von Tätern mit „linksterroristischem“ Hintergrund der Auftakt zu weiteren „Abrechnungen“ sein könnte, weckt in der Tat Erinnerungen an den Bürgerkrieg, die für ältere Griechen immer noch traumatisch ist.
Dass gerade die Neonazis an diese historische Polarisierung – die guten patriotische Griechen gegen die böse vaterlandslose Linke – anknüpfen und dieses Klima wiederbeleben wollen, hat ihr Auftritt in Meligala gezeigt. Der Ortsname der großen Landgemeinde im Zentrum der Peloponnes ist allen Griechen ein Begriff. Hier haben im September 1944, gleich nach dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen, lokale Führer der kommunistisch dominierten Widerstandsorganisation EAM-ELAS ein Massaker unter ihren einheimischen Gegnern angerichtet. Dabei wurden Hunderte Mitglieder der rechten „Sicherheitsbataillone“ (Tagmata Asfalias) und anderer Gruppen exekutiert, die mit der deutschen Okkupationsmacht (in unterschiedlichem Grade) kollaboriert hatten. Die Zahl der Toten wird, je nach Quelle, zwischen 800 und 1144 angegeben. Die Leichen der Opfer wurden in einen Brunnen am Rand von Meligala geworfen, der fortan zum Wallfahrtsort der griechischen Rechten wurde. Alle Schulbücher der Nachkriegszeit präsentierten Meligala und den Brunnen voller Schädel als Beweis für die Grausamkeit der „vaterlandslosen Kommunisten“, die man im Bürgerkrieg besiegt und vertrieben hatte.
Über die Rolle der Nazi-Kollaborateure war in diesen Büchern nichts zu lesen. Der formelle Grund der Exekutionen war die Weigerung der „Asfalites“, ihre Waffen abzugeben. Aber wie immer in solchen Situationen war ein wichtiges Motiv auch die „Rache“ am politischen Gegner, wobei der Übergang zur „persönlichen“ Abrechnung und Familienfehden häufig fließend war. Selbst wenn man die chaotische Lage auf der Peloponnes in den Tagen nach dem Abzug der deutschen Besetzung berücksichtigt, war das Massaker von Meligala ein scheußliches Verbrechen. Als solches wurde es auch von der Führung der EAM-ELAS verurteilt. Nachdem sie das Ereignis anfangs noch geleugnet hatte, belastete sie später die regionalen Kommandeure mit der Verantwortung für das Massaker, das den moralischen Anspruch der ELAS schwer beschädigt hat.
Von den heutigen griechischen Linksparteien wird das schreckliche Geschehen in Meligala nicht geleugnet, aber auch nicht als wichtiges historisches Thema gesehen. In linksradikalen Studentengruppen fand man es in den 1980er-Jahren sogar lustig, bei Demonstrationen die „rechten“ Mitbürger mit der rhythmischen Parole „EAM-ELAS – Meligalas“ zu erschrecken. Das war auch eine Reaktion auf das alljährliche „Festival des Hasses“, das die „guten Griechen“ jedes Jahr an ihren Wallfahrtsort veranstalteten. Dieses Festival diente zugleich als Machtdemonstration der jeweils herrschenden Rechten. Das war in der Nachkriegsära bis zum Beginn der Militärdiktatur (1967) das Lager der patriotischen und königstreuen Antikommunisten, danach die Obristen der Junta (bis 1974) und nach dem Fall der Junta die neue reche Sammlungspartei Nea Dimokratia. Diese war gerade auf der Peloponnes (der politischen Heimat von Samaras) durchaus rechtsradikal durchsetzt, was sich auch in den Meligala-Auftritten der lokalen ND-Politiker niederschlug. Bis eben dieses Jahr die Neonazis das Hass-Festival als Podium für die Demonstration ihrer Machtambitionen ausnutzten und sich dabei ganz offen als wahre Erben der Nazi-Kollaborateure aufspielten.
Der verspätete Kampf gegen die Neonazis
Als kleiner Exkurs eine aktuelle Information: Am 6. November hob das griechische Parlament die Immunität von vier weiteren ChA-Abgeordneten auf (für drei Abgeordnete erfolgte dies bereits zwei Wochen zuvor). Dabei wurde der Antrag im Fall von Elias Kasidiáris und Elias Panagiótaros mit der Anklage wegen „illegaler Gewaltakte“ in Meligala begründet. Das wirft natürlich zwei Fragen auf: Warum erfolgte diese Anklage nicht unmittelbar nach der Machtdemonstration der Neonazis am 17. September, sondern erst nach dem Fissas-Mord und dem Beginn der Ermittlungen gegen die ChA wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung? Noch wichtiger ist die zweite Frage: Wenn dieser Aufmarsch der ChA-Truppen den Anfangsverdacht auf „illegale Gewaltakte“ begründet, warum ist die massiv anwesende Polizei nicht schon vor Ort eingeschritten? Damit sind wir bei der Frage, mit der ich an den ersten Teil dieser Analyse (4. November) anknüpfe.
Frage 8: War das Nichteingreifen der Polizei in Meligala symptomatisch? Was ist dran an den Berichten, dass die Neonazis über gute Verbindungen zur Polizei verfügen und überproportional viele Sympathisanten generell bei den Sicherheitskräften haben?
Nach Meinung vieler Beobachter hat die griechische Polizei (Elliniki Astinomia, abgekürzt EL.AS.) eine so starke Affinität zu Chrysi Avgi entwickelt, dass sie kein verlässliches Instrument zum Kampf gegen die Neonazis mehr darstellt. Das musste nach dem Fissas-Mord selbst Innenminister Nikos Dendias einräumen, als er zu einer „Selbstreinigung“ der Polizei- und Sicherheitskräfte aufrief. Dabei gehe es darum, „die ganz wenigen notorischen Eidbrüchigen zu entfernen, die unter dem Einfluss des Neonazismus das Bild und die Ehre der Griechischen Polizei beschmutzen“ (zitiert nach Ta Nea vom 20. September).
Um den Willen zur „Säuberung“ von diesen „ganz wenigen“ Sündern zu demonstrieren, musste der Innenminister allerdings den „Rücktritt“ der beiden höchsten Polizei-Offiziere erwirken und für weitere acht hohe Offiziere eine Strafversetzung auf andere Positionen verfügen. Zu diesen versetzten Leuten gehörten die Leiter der Abteilungen „Sondereinsätze“ und „organisierte Kriminalität“, aber auch der der Abteilung „Explosivstoffe“. Diese letzte Versetzung verweist auf die Befürchtung des Innenministers, dass die ChA-Kader sich womöglich aus dem Arsenal der Polizei bewaffnen konnten.
Auch auf lokaler Ebene wurden Polizeioffiziere suspendiert, die sich bei Einsätzen gegen ChA-Demonstrationen auffällig zurückgehalten hatten. Ein Kommentar auf dem Blog Macropolis (24.September) bewertete die Maßnahmen von Dendias als Anzeichen für „den Grad der Besorgnis darüber, wie stark die rechtsradikale Chrysi Avgi die Polizeikräfte infiltriert hat“. Zugleich wollte man damit der Öffentlichkeit demonstrieren, dass die Regierung endlich gegen die illegalen Aktivitäten der Neonazis vorgeht, „nachdem sie vorher eher weggeschaut hatte“. Dieser Vorwurf wird erhärtet durch die Erklärung von Christos Fotopoulos, Vorsitzender des Verbands griechischer Polizeioffiziere, gegenüber dem TV-Sender Skai: In den vergangenen drei Jahre habe es „viele Fälle“ gegeben, in denen seine Kollegen bei Gewaltakten von ChA-Mitgliedern übermäßig viel „Toleranz gezeigt haben“. Sein Verband habe solche Fälle bei den Polizeichefs und auch im Ministerium gemeldet, aber es habe darauf kaum Reaktionen gegeben (zitiert nach Kathimerini vom 24. September).
Für die „Infiltration“ bzw. die Offenheit der Polizeikräfte für Avancen der Neonazis gibt es deutliche Anhaltspunkte auf drei Ebenen.
In den letzten beiden Jahren kam es immer wieder vor, dass ChA-Aktivisten über Aktionen der Polizei vorab gewarnt wurden. Es muss also ein festes Netz von Informanten innerhalb der Polizei-Hierarchie geben. Auch bei den Ermittlungen zum Mordfall Fissas wurden solche Verbindungskanäle aufgedeckt. Wie ein (anonymes) Ex-Parteimitglied gegenüber der Athener Zeitung Ethnos erklärte, hat ein Polizeioffizier der Polizeireviers Nikaia regelmäßig Informationen über bevorstehende Aktionen an das lokale Parteibüro der Chrysi Avgi weitergegeben. Solche Verbindungen der Neonazis mit dem Polizeiapparat reichen übrigens weit zurück: Schon 1999 vermerkte der Bericht einer polizeiinternen Untersuchungsgruppe: „Die Organisation unterhält sehr gute Beziehungen und Kontakte mit aktiven und pensionierten EL.AS.-Offizieren, aber auch mit einfachen Polizisten.“ (Anmerkung: EL.AS.: Griechische Polizei, nicht zu verwechseln mit der im 2. Weltkrieg und oben erwähnten aktiven paramilitärischen Partisanen- bzw. Widerstandsorganisation ELAS.) Bei Demonstrationen linker und anarchistischer Gruppen habe die Polizei sogar Funkgeräte und Schlagstöcke an ChA-Mitglieder verteilt, die dann als „empörte Bürger“ gegen die Linken auftraten (zitiert in Ta Nea vom 24. September).
Gegenüber dem Guardian (vom 26. Oktober) hat ein hoher Ex-Polizeioffizier (anonym) ausgesagt, dass die Athener Regierung wie die EL.AS.-Spitze seit Jahren von „Nestern des Faschismus“ innerhalb der Polizei wissen, aber bewusst darauf verzichtet haben, diese Gruppen zu isolieren und zu entfernen. Der Staat habe diese Elemente bewusst „in Reserve gehalten“, um sie für seine eigenen Zwecke zu nutzen, zum Beispiel als „agents provocateurs“ gegen linke Demonstrationen. Natürlich wurden die Existenz von faschistischen „Nestern“ vom Sprecher der Polizeiführung empört zurückgewiesen, und zwar mit der interessanten Begründung, es gebe allenfalls „Einzelfälle, wie sie überall und an jedem Arbeitsplatz zu finden sind“.
Auf einer zweiten Ebene ist die Affinität noch klarer nachzuweisen. Bei den beiden Parlamentswahlen vom Mai und vom Juni 2012 lag der Stimmanteil für die Neonazis in Wahlbezirken, in denen besonders viele Sicherheits- und Polizeikräfte abstimmten, bis um das Dreifache über dem nationalen wie auch dem Durchschnitt der umliegenden Bezirke. Zur Erklärung: Es handelt sich um Wahllokale im Raum Athen/Piräus, in deren Nähe das Hauptquartier der Bereitschaftspolizei bzw. ein großes Gefängnis liegt. Hier konnten am jeweiligen Wahlsonntag die Dienst schiebenden Polizeikräfte bzw. Gefängnisangestellten ihre Stimme abgeben. In Wahllokalen im Umkreis des Polizeipräsidiums von Attika (GADA) gewann die ChA zwischen 17 und 23, 8 Prozent der Stimmen (bei einem nationalen Ergebnis von 6.9 Prozent). In einem Stimmbezirk in der Nähe des Athener Korydallou-Gefängnisses kam die Partei sogar auf 27 Prozent. (Daten nach Ta Nea vom 24. September).
Der Politologe Dimitris Chistópoulos, Vizepräsident der Griechischen Liga für Menschenrechte und Mitbegründer des Forschungszentrums für Minderheitengruppen (KEMO), zitiert in der Wochenzeitung To Vima vom 29. September „Einschätzungen“ von Politologen, die den Stimmanteil für die ChA bei der Polizei auf etwa ein Drittel, bei der Bereitschaftspolizei sogar auf 50 Prozent bemessen. Diese Zahlen scheinen mir methodisch nicht gesichert und mögen übertrieben sein, aber eine weitere beunruhigende Feststellung von Christópoulos ist durch viele Zeugnisse bestätigt: Am anfälligsten für die Ideologie der Neonazis sind bei allen Sicherheitsorganen (Polizei und Armee) die jüngeren Jahrgänge und die niedrigeren Dienstgrade. Das gilt noch verstärkt für die Bereitschaftspolizei (MAT genannt, die Abkürzung für „Einheiten zur Wiederherstellung der Ordnung“), die fast ausschließlich für die „Kontrolle von Demonstrationen“ ausgebildet ist. Für viele MAT-Polizisten stellt die Sympathie mit der ChA offensichtlich eine Art Ausweg aus ihrem beruflichen Grundwiderspruch dar. Dieser Widerspruch besteht darin, dass die martialisch ausgerüsteten „matatsides“ den Staat, also Regierungsgebäude und Parlament, immer wieder gegen Demonstranten schützen müssen, deren Wut über die Sparpolitik sie eigentlich teilen, weil sie selbst ebenfalls zu den Opfern dieser Politik gehören. Wer für 700 Euro seinen Kopf (wenn auch behelmt) für die Herrschenden hinhalten soll, kann leicht das Bedürfnis entwickeln, seine eigene Verbitterung wenigstens als – anonymer – Wähler als Denkzettel in der Wahlurne abzugeben.
Es wäre aber eine Verharmlosung, die für ChA-Propaganda anfälligen Polizisten lediglich als irregeleitete „Wutwähler“ zu sehen. Damit würde man die dritte Dimension der Beziehungen zwischen griechischen Neonazis und Polizei/Militär unterschätzen: die Affinität zwischen ChA und den staatlichen Ordnungskräften, die beim harten Kern der Partei und zumal bei ihren paramilitärischen Schutz- und Stoßtrupps besonders sichtbar ist. Die ChA ist eine klassische Milizpartei (im Sinne der Definition des ehrwürdigen Parteisoziologien Maurice Duverger), die nicht auf Machterwerb mittels des parlamentarischen Systems orientiert ist, sondern die die Machtfrage letztlich „auf der Straße“ entscheiden will. Eine solche Partei wird immer versucht sein, ihren Anhang gezielt unter „Gewaltprofis“ zu rekrutieren. Umgekehrt fühlen sich diese Profis von einer Partei angezogen, die ihre besonderen Fähigkeiten zu schätzen weiß und mit Karriereversprechen – welcher Art auch immer – belohnt.
Diese wechselseitige Affinität erklärt, warum bei den Wach- und Kampftruppen der ChA überproportional viele Ex-Polizisten und -Soldaten vertreten sind, von denen viele natürlich noch Verbindungen zu ihren Kollegen im aktiven Polizeidienst oder beim Militär halten. Oft waren oder sind diese ausgebildeten Gewaltspezialisten nach ihrem Ausscheiden aus dem Militär oder Polizeidienst bei privaten Sicherheitsfirmen tätig, aber auch als Türwärter in Bars und Discos oder als Rausschmeißer in Nachtlokalen. Viele aus diesem Berufsmilieu haben auch in der kleinkriminellen Szene angedockt, etwa im Bereich der Prostitution oder bei der Schutzgeldmafia. Aus diesem Milieu stammen auffällig viele der ChA-Abgeordneten, deren Auftreten im Plenarsaal auch immer wieder an diese Herkunft aus der Halb- und Unterwelt erinnert. Das erklärt auch die physische Erscheinung vieler ChA-Kader (und ihrer Leibwächter), deren „aufgepumpte“ Körper ein optischer Beleg für die enge Verbindung zur Bodybuilding-Szene ist. Diese Szene ist in Griechenland noch stärker als anderswo in den Handel mit Anabolika und anderen Körperdrogen involviert und unterhält entsprechenden Verbindungen zum kriminellen Milieu.
Ein klarer Hinweis auf die Verschmelzung der beiden Milieus ist dem bereits zitierten Report der Ombudsmann-Behörde (Punkt 5 im ersten Teil dieser Analyse vom 4. November) zu entnehmen. Nach dem Bericht der Ombudsfrau Kalliope Spanou lassen sich von den 281 rassistischen Angriffen, die im Zeitraum Januar 2012 bis April 2013 registriert wurden, 71 direkt den Neonazis zuordnen, während in 47 Fällen aktive Polizisten beteiligt waren. Deshalb wird in dem Report explizit gefordert, die vielen Beschwerden “über rassistisches Verhalten von Polizeibeamten oder deren Beteiligung an rassistischen Überfällen umgehend, in vollem Umfang und auf transparente Weise zu untersuchen“ (die Schlussfolgerungen des Reports in englischer Fassung [PDF – 29.9 KB])
Angesichts all dessen erinnern wir uns an eine Frage, die sieben Wochen nach dem Mord an Fissas immer noch nicht geklärt ist: Hätten die Polizeikräfte, die bei dem Überfall der ChA-Schläger auf den linken Rapper direkt vor Ort waren, die Mordtat durch ihr Eingreifen verhindern können? Die Freundin von Fissas hat angegeben, dass die anwesende Polizeistreife weder eingegriffen noch Verstärkung angefordert hat. Immerhin hat die EL.AS.- Abteilung für „innere Kontrolle“ eine Untersuchung über das Verhalten dieser Polizisten eingeleitet.
Frage 9: Lässt sich schon abschätzen, ob das entschlossenere Vorgehen und die Anklage gegen die Parteiführung der ChA einen Teil ihrer Anhänger verunsichert oder abschreckt?
Die ersten Umfragen nach dem Fissas-Mord zeigen eine beträchtliche Verunsicherung der potentiellen ChA-Wähler an. In der schon zitierten GPO-Umfrage von Anfang Oktober, die schon die Reaktion auf die Verhaftung der Parteispitze wiederspiegelt, liegt die Neonazi-Partei in der Sonntagsfrage bei knapp 8 Prozent. Das würde einerseits einen Rückgang der Wählerattraktion um mindestens ein Drittel anzeigen (in mehreren Umfragen vom September lag die Zustimmung zur ChA bei 13 bis 15 Prozent). Andererseits aber würde die Partei damit immer noch besser abschneiden als bei den Wahlen von 2012. Sie könnte also statt ihrer bisher 18 Parlamentssitze deutlich mehr als 20 Sitze erringen. Ob die beiden Todesopfer von Neo Heraklion die Sympathien mit den Neonazis verstärkt oder reaktiviert, lässt sich heute noch nicht absehen. Wahrscheinlich ist allerdings, dass potentielle Wähler, die durch die Kriminalisierung der Parteiführung verschreckt wurden, sich jetzt wieder eher zu einer Proteststimme gegen die „Verfolgung“ ihrer Idole entschließen.
In jedem Fall ist die aktuelle Parteiführung erkennbar darum bemüht, die paramilitärischen Kräfte und den harten Kern ihrer Anhänger von extremen Reaktionen abzuhalten, um die schwankende Wähler bei der Stange zu halten. Dabei spielt sie sogar gezielt die „legalistische Karte“ aus, indem sie sich als „Opfer“ von Rechtsverletzungen und Rechtsbeugungen darstellt. Mit Sicherheit wird sie mit dieser Taktik in den nächsten Tagen einen Teilerfolg erringen: Nach dem tödlichen Anschlag auf ihr Parteibüro fordert sie die Regierung auf, für die ChA- Parlamentarier wieder die Leibwächter abzustellen, die man ihnen nach Verabschiedung der Gesetzesänderungen zum Parteiengesetz entzogen hatte (zum Parteiengesetz mehr im Kontext der Frage 13). Der Innenminister hat bereits erklärt, dass er diese Forderung erfüllen werde.
Eine realistische Einschätzung der Möglichkeit, die griechischen Neonazis von der politischen Bühne zu „beseitigen“ – was Samaras als Ziel seiner Regierung formuliert hat – gibt die Kathimerini in einem Kommentar vom 6. November: „Der Angriff auf die Goldene Morgenröte und ihre Kennzeichnung als kriminelle Organisation hat sich nicht wirklich ausgezahlt. Die Tötung von zwei Parteimitgliedern durch Terroristen hat die negativen Folgen (für die Partei) abgeschwächt, die der Mord an Pavlos Fissas durch ein Mitglied der Neonazi-Partei zunächst gehabt hat.“
Frage 10: Gibt es in dieser Situation die Möglichkeit oder den Wunsch, die Neonazis mittels Neuwahlen zurückzudrängen?
Die Antwort auf diese Frage ergibt sich großenteils aus der Einschätzung, dass die ChA bei Neuwahlen mindestens so gut abschneiden würde wie im Juni 2012. Zudem würden alle Parteien – einschließlich der Syriza, die (siehe das oben erwähnte Misstrauensvotum) zumindest durch Reden und Handeln auf Neuwahlen drängt – einen Wahlkampf unter den aktuellen Umständen lieber vermeiden, denn nicht nur die Gefahr von Zusammenstößen zwischen den politischen Lagern auf der Straße und bei Kundgebungen würde sich deutlich erhöhen. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor wäre der ungeklärte Status der ChA-Führung. Mit Sicherheit käme es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Frage, ob ihre inhaftierten oder angeklagten Parlamentsmitglieder erneut kandidieren dürften. Dabei wäre durchaus denkbar, dass ChA-Kandidaten vor Gericht sogar obsiegten, was der Parteiführung zusätzlichen moralischen und politischen Auftrieb geben könnte.
Auch die öffentliche Meinung ist stärker als je zuvor gegen Neuwahlen. Bei der GPO-Umfrage von Anfang Oktober verneinten fast 70 Prozent die Frage, ob „eine Lösung der aktuellen Probleme“ über vorzeitige Neuwahlen angestrebt werden müsse (bei einer Umfrage Anfang September waren nur knapp 60 Prozent gegen Neuwahlen). Diese Abneigung gegen einen Wahlkampf in einer verunsicherten politischen Landschaft dürfte sich inzwischen eher noch verstärkt haben.
Unabhängig von dieser Stimmungslage haben natürlich die beiden Regierungsparteien das geringste Interesse, ihre Koalition durch Neuwahlen zu gefährden. So gesehen kommt die Zuspitzung der Auseinandersetzung um die Neonazis der Regierung Samaras gar nicht ungelegen. Würden allerdings die Umfragen zeigen, dass die Neonazis den größeren Teil ihrer Stimmen verlieren, sähe die taktische Kalkulation für die ND schon anders aus. Dann könnte sich die Samaras-Partei ausrechnen, dass sie trotz einer erstarkten Syriza wieder stärkste Partei werden könnte. Aber diese politische Überlebensgarantie geben die aktuellen Umfragezahlen nicht her, und für die Pasok würden Neuwahlen ohnehin einen weiteren Bedeutungsverlust bringen, da sich nach den Umfrageergebnissen die Zahl ihrer Parlamentsmandate etwa halbieren würde.
Frage 11: Wo würden die heimatlos gewordenen ChA-Wähler hinwandern?
Ein Teil der griechischen Wähler, die in Umfragen der letzten Monate (vor dem Fissas-Mord) ihre Präferenz für die Neonazis erklärt haben, würden zweifellos ND wählen. Wenn aber die ChA genauso abschneiden würde wie im Juni 2012, könnte die ND am rechten Rand des Wählerspektrums kaum Stimmen (gegenüber den letzten Wahlen) dazu gewinnen. Zudem gehen die meisten Wahlforscher davon aus, dass ein größerer Teil der verschreckten ChA-Sympathisanten eher die rechtspopulistische Partei der „Unabhängigen Hellenen“ (Anel) bevorzugen würden. Die Anel hat in vieler Hinsicht ganz ähnliche Positionen wie die Neonazi-Partei, das gilt vor allem in zwei für rechtsradikale Wähler entscheidenden Fragen: Auch die Anel fordert schärfere Maßnahmen gegen illegale Migranten bzw. ihre radikale Abschiebung; und auch sie betrachtet die Troika in rhetorischer Angleichung an die ChA als „Besatzungsmacht“ und will ihre Repräsentanten (samt der Task-Force der EU-Kommission) des Landes verweisen. Im Übrigen zeigen alle Umfragen über die Meinungen der Wählergruppen bei fast allen wichtigen Themen, dass die Anel-Wähler in ihrem Meinungsprofil deutlich mehr Sympathie mit der ChA zeigen als die Anhänger aller anderen Parteien. Dazu ein Beispiel: Während 77 Prozent aller Befragten die Verhaftung der ChA-Führer für richtig halten, sind es bei den Anel-Wählern nur 58 Prozent. Und während 73 Prozent in den Neonazis eine „Bedrohung der Demokratie“ sehen, sind es bei den Anel-Wählern nur 52 Prozent.
Auch auf der personellen Ebene bieten die „Unabhängigen Hellenen“ für ChA-Wähler die „zweitbeste“ Lösung. Anel-Chef Panos Kammenos ist ein ähnlicher rhetorischer Rabauke wie ChA-Chef Michaloliakos und bedient sich in vielen Fragen derselben Rhetorik wie die Neonazis: etwa wenn er gegen die Migranten hetzt oder die Regierungspolitiker als „Volksverräter“ qualifiziert. Im Übrigen ist die Demagogie, die der aus dem Stalle der ND entlaufene Kammenos fast täglich demonstriert, manchmal noch bizarrer als die Hetze der Neonazis. Zum Beispiel hat er nach der Anklage gegen die ChA-Führung vorgeschlagen, auch die Führer der Pasok wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ anzuklagen. Das ist für die allermeisten Griechen, bei aller Kritik an der Korruption der Pasok-Regierungen, dann doch zu starker Tobak.
Auch zur Frage der Gewalt hat der Anel-Chef ein ähnlich lockeres Verhältnis wie die Neonazis. Nachdem er die Bevölkerung eines Städtischen in Nordgriechenland, wo ein kanadisches Unternehmen eine umweltschädliche Art der Goldförderung plant, zum „Lynchen“ ihres Bürgermeisters aufgefordert hat, läuft auch gegen Kammenos ein Ermittlungsverfahren wegen Aufforderung zu Gewalttaten.
Übrigens halten manche Beobachter Kammenos, der in seinem früheren politischen Leben nachweislich für den griechischen Geheimdienst tätig war, ohnehin für einen politischen Provokateur mit eigener Agenda, die letztlich stets die Linke schwächen soll. Dies zeigt sich neuerdings auch in der Taktik, die Erfolgsaussichten und die Glaubwürdigkeit der Syriza dadurch zu beeinträchtigen, dass er in boshafter Weise den Linkssozialisten ein politisches Bündnis vorschlägt. Bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 will er sogar eine gemeinsame Liste Syriza-Anel aufstellen, um eine Front der „Anti-Memorandum-Kräfte“ zu bilden. Seine Behauptung, dass darüber bereits Kontakte mit dem Syriza-Vorsitzenden Tsipras laufen, ist nichts anderes als ein Sprengsatz, den er ins Lager der Linken schleudert. Denn für den größten Teil der Syriza ist ein Bündnis mit Kammenos und seiner Anel völlig undenkbar, weil die Rechtspopulisten nicht nur rassistisch gegen Migranten polemisieren, sondern auch eine nationalistische Außenpolitik und dazu noch eine extrem neoliberale Wirtschaftspolitik propagieren.
Frage 12: Wie sieht die politische Strategie der Linken gegenüber der Chrysi Avgi aus. Haben linke Parteien oder Gruppen vor dem Fissas-Mord jemals eine strafrechtliche Verfolgung oder ein Parteiverbot gefordert?
Ein Parteiverbot war für die linken Kräfte nie ein Thema. Das ist auch kein Wunder angesichts der griechischen Geschichte, da die Staatsmacht immer nur linke Parteien illegalisiert hat. Die Legalisierung der kommunistischen KKE, die 1974 nach dem Fall der Militärjunta durch die Regierung von Konstantin Karamanlis erfolgte, gilt als eine große demokratische Errungenschaften, die entscheidend zur „Aussöhnung“ der griechischen Gesellschaft und zur Heilung der tiefen Wunden des Bürgerkriegs beigetragen hat. Da sich die KKE nun aber in ihrem Parteiprogramm noch streng marxistisch-leninistisch zur Diktatur des Proletariats bekennt, würde das Kriterium der „Verfassungstreue“ unter griechischen Verhältnissen für die gesamte Linke ein Problem darstellen. In der Tat wäre es auch völlig absurd, eine Partei zu verbieten, die trotz ihres revolutionären Lippenbekenntnisses eine überaus anpasserische politische Kraft ist, die sich damit begnügt, bei Wahlen ihre Schäfchen zusammen zu halten, und deren Führung nicht im Traum daran denkt, auch nur einen konkreten praktischen Schritt in Richtung der von ihr verbal propagierten „Revolution“ in Erwägung zu ziehen.
Am konsequentesten in ihrem Engagement gegen die Neonazis zeigt sich die Dimar. Sie wollte als Koalitionspartner der ersten Samaras-Regierung durch ihren Justizminister ein neues, verschärftes Antirassismus-Gesetz durchsetzen, und blieb auch nach ihrem Ausscheiden aus der Regierung (aus Protest gegen die Abschaffung der staatlichen Fernsehanstalt ERT) die lauteste Stimme gegen die Neonazis. Zusammen mit der oben erwähnten Griechischen Vereinigung für Menschenrechte haben die Dimar-Abgeordneten beharrlich gefordert, die Gewaltakte, aber auch schon die öffentlichen Aufrufe der Neonazis zu Gewalttaten strafrechtlich zu verfolgen. Aber auch für die Dimar war das Instrument des Parteiverbots aus den oben dargelegten Gründen ein Tabu.
Die Linke wird sich gründlich überlegen müssen, ob sie nicht ein Parteiengesetz anstreben sollte, das ein reguläres Verfahren für die Illegalisierung einer Partei vorsieht. Das würde allerdings auch eine juristische Instanz erfordern, also etwa ein Verfassungsgericht, dass es in Griechenland noch nicht gibt. Beide Schritte würden in jedem Fall eine Änderung/Erweiterung der Verfassung voraussetzen, wären also nur im Rahmen einer größeren Verfassungsreform denkbar, die in Zeiten der ökonomischen Überlebenskrise kaum eine Chance hätte. Sollte sich allerdings heraus stellen, dass der jetzt eingeschlagene Weg, eine fraglos verfassungsfeindliche Partei über die Definition als „kriminelle Vereinigung“ zu illegalisieren, auf juristischem Weg scheitert, würde diese Frage automatisch wieder auf die Tagesordnung kommen.
Frage 13: Stehen die eingeleiteten strafrechtlichen Verfahren gegen die ChA-Führung auf sicherem juristischen Grund? Und wie gerichtsfest sind die weiteren Maßnahmen, die inzwischen gegen die Partei der Neonazis eingeleitet wurden und zum Beispiel deren Finanzierung aus staatlichen Geldern betreffen?
Inzwischen laufen Ermittlungsverfahren gegen neun Abgeordnete und zahlreiche weitere Parteifunktionäre, die sich auf ganz unterschiedliche Tatbestände beziehen (von Beteiligung am Fissas-Mord bis hin zu Geldwäsche und illegalem Betrieb einer Rundfunkstation). Diese einzelnen Fälle können völlig unterschiedlich ausgehen. Für eine Verurteilung wegen Gründung einer „kriminellen Vereinigung“, die der engeren Parteiführung droht, werden zwei Fragen entscheidend sein, nämlich ob sich einerseits die einzelnen strafrechtlichen Vorwürfe sich zu einer systematischen kriminellen Betätigung summieren lassen und ob andererseits bei mehreren Einzelfällen eine durchgehende Befehlsstruktur bis hin zu Parteichef Michaloliakos nachzuweisen ist. Dass die Staatsanwaltschaft derzeit zuversichtlich ist, die nötigen Beweise zusammen tragen zu können, sagt noch nichts über die Erfolgsaussichten ihrer Anträge vor den Gerichten. Die Schwierigkeiten mit einer solchen Beweisführung werden sich bereits im Mordfall Fissas zeigen, der wahrscheinlich am schnellsten vor einem Gericht landen wird. Was die anderen Ermittlungen betrifft, so wird es sehr auf die Qualität der Zeugen und Beweismittel ankommen. Nach den Presseberichten, die bislang über die potentiellen Zeugen publiziert wurden, sind dabei einige Zweifel angebracht. Demnach scheinen sich die Ermittler in erheblichem Umfang auf Aussagen von Ex-Mitgliedern der ChA zu stützen, die in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurden. Deren in einigen Zeitungen dokumentierten wörtlichen Aussagen lassen erkennen (vorausgesetzt sie sind echt), dass sich solche Zeugen sehr auf das Hörensagen berufen können; ein hoch in der Parteihierarchie platzierter „whistleblower“ scheint den Ermittlungsbehörden jedenfalls noch nicht zugelaufen zu sein.
Ein juristisch unanfechtbares Urteil gegen die Parteispitze wäre nicht nur wichtig, um die Existenz einer „kriminellen Vereinigung“ nachzuweisen, worauf das ganze Vorgehen gegen die Neonazis basiert. Es wäre vor allem auch die Voraussetzung dafür, dass die bereits erfolgten politischen Maßnahmen gegen die ChA-Parlamentsfraktion durchgehalten werden könnten. Das betrifft vor allem die Änderung des Parteiengesetzes, die vom Parlament am 23. Oktober mit großer Mehrheit (235 von 300 Stimmen) beschlossen wurde. Dadurch wurde es möglich, die Auszahlung von 873.000 Euro an staatlichen Geldern, die den Neonazis nach Maßgabe ihrer Wählerstimmen jährlich zustehen, unverzüglich zu stoppen. Die ChA-Fraktion zog vor der Abstimmung aus dem Plenum aus. Die Abgeordneten der KKE enthielten sich der Stimme ebenso wie die der rechtspopulistischen Anel. Für die Regierungsvorlage stimmten (fast) die gesamte Syriza-Fraktion, obwohl die Parteiführung zunächst wesentliche Änderungen an der Vorlage verlangt hatte.
Die beschlossene Gesetzesänderung sieht vor, dass die staatlichen Zuwendungen an eine Partei ausgesetzt werden können, wenn „die Führung“ einer Partei oder mindestens zehn Prozent ihrer Abgeordneten wegen Beteiligung an einer „kriminellen Vereinigung“ oder wegen „terroristischer Akte“ unter Anklage stehen. Die Syriza hatte zunächst verlangt, dass diese Voraussetzungen strikter gefasst werden: Zum einen dürfe eine bloße Anklage nicht ausreichen, vielmehr müsse eine gerichtliche Verurteilung vorliegen; zum anderen wollte sie die Zahl der inkriminierten Abgeordneten von einem Zehntel auf ein Fünftel der jeweiligen Fraktion anheben. In beiden Punkten gab die Syriza nach. Eine Änderung der Regierungsvorlage konnte sie nur in einem dritten Punkt durchsetzen: Der Gesetzestext stellt jetzt klar, dass sich die Anklagen auf Vergehen beziehen müssen, die „im Kontext von Parteiaktivitäten oder im Namen der Partei“ begangen wurden (was im Grunde eine Selbstverständlichkeit ist).
Die Zustimmung der Syriza war innerparteilich sehr umstritten; im höchsten Parteigremium sollen über ein Drittel dagegen gewesen sein. Dabei wurden auch rechtliche Einwände vorgebracht, die durchaus plausibel klingen: Im extremen Fall reicht ein „wildgewordener“ Staatsanwalt – oder eine willkürlich agierende Regierung – aus, um durch Erhebung unbegründeter Anklagen den politischen Gegner finanziell zu schädigen (etwa zu Wahlkampfzeiten). Um solchen Missbrauch zu verhindern, wäre die rechtliche Voraussetzung einer Verurteilung (zumindest in erster Instanz) weitaus angemessener.
Die Zustimmung der Syriza-Fraktion (die nur von einer Abgeordneten verweigert wurde) erklärt sich zweifellos aus dem Wunsch der Parteiführung, in dieser Frage unbedingt in den „Verfassungsbogen“ der demokratischen Kräfte eingeschlossen zu sein – selbst unter Aufgabe rechtsstaatlicher Vorbehalte. Das machte Fraktionssprecher Dimitris Papadimoulis deutlich, als er vor der Abstimmung erklärte, entscheidend sei für die Syriza „die politische Symbolik und die politische Botschaft, die von dem Gesetz ausgeht“. Damit ist zugleich benannt, was die zustimmenden Parteien mit der Gesetzesänderung bewirken wollen – aber eben auf Kosten der rechtsstaatlichen Substanz.
Nach dieser Abstimmung ist die Lage so: Die wahrlich absurde Finanzierung der verfassungsfeindlichen Neonazis aus der griechischen Staatskasse ist zunächst tatsächlich gestoppt, aber wenn die ChA-Führung gute Anwälte findet, hat sie alle Chancen, die neuen Bestimmungen des Parteiengesetzes erfolgreich anzufechten. Ein Propagandaerfolg könnte sich allerdings schon früher einstellen, wenn nämlich die Anklagen gegen die Parteiführung oder gegen ChA-Parlamentarier nicht mit der Verurteilung einer ausreichenden Zahl der Angeklagten enden. Dann müsste die Staatsfinanzierung der Partei sofort wieder einsetzen, womöglich mit Nachzahlungen inklusive entgangener Zinsen.
An dieser Stelle zeigt sich erneut, dass die fatale Kurzatmigkeit, die die Reaktion der politischen Klasse auch auf vielen anderen Gebieten kennzeichnet und solide durchdachte und rechtsstaatlich abgesicherte Regelungen gerade verhindert. Und nicht nur das: Wenn zu hektische ad-hoc-Maßnahmen sich als juristisch nicht durchsetzbar erweisen sollten, können die Neonazis nachträglich billige Triumphe feiern. Schon jetzt beklagt sich die ChA darüber, dass ihre Parteizentrale von der Finanzpolizei durchsucht wurde, um Belege für einen Missbrauch der Staatsgelder oder für eine unzureichende Buchführung zu finden, während die anderen Parteien in dieser Hinsicht völlig unbehelligt blieben. Und dies, obwohl es klare Anzeichen für finanzielle „Misswirtschaft“ auch bei der Pasok und der ND gibt, die im Übrigen bei den (staatlich kontrollierten) Banken hoch verschuldet sind, ohne in den letzten Jahren auch nur die Zinsen bedient zu haben. Die Gefahr, dass sich die Neonazis erfolgreich als Opfer des verfaulten politischen Systems darstellen können, hat sich darüber hinaus mit der Ermordung der jungen ChA-Aktivisten deutlich erhöht.
Angesichts dieser Gefahr müsste sich die politische Klasse und vor allem die griechische Bevölkerung endlich darüber verständigen, wie sie sich auf juristischer wie auf politischer Ebene mit dem Rechtsextremismus in der eigenen Gesellschaft auseinandersetzt. Auf juristischer Ebene ist wiegesagt eine Diskussion über ein „ordentliches“ Parteiverbotsverfahren nach einwandfrei rechtsstaatlichen Regeln unabdingbar. Das aber ist aus zwei Gründen in der jetzigen Situation besonders schwierig: eine „rationale“ Auseinandersetzung über die Wurzeln des ChA-Rassismus und –Chauvnismus in der eigenen Gesellschaft wird zum einen durch die rapide materielle Verelendung blockiert. Zum anderen behindert der seit Beginn der Krise vorherrschenden Diskurs über die zweifellos vorhandene „Schuld“ der anderen (Troika, Merkel) die Reflexion über den eigenen Anteil an der griechischen Misere. Und damit auch die selbstkritische Reflexion über den ganz „alltäglichen“ Nationalismus oder „Patriotismus“, der ein fruchtbarer Wurzelgrund für die Sympathien – aber auch für die frühere Toleranz – gegenüber dem griechischen Rechtsextremismus ist.
Der „alltägliche“ griechische Nationalismus
Dieses Thema ist ein weites Feld, das ich an dieser Stelle nur mit wenigen Pflöcken abstecken kann. Ich habe bereits darauf hingewiesen, welche bedenkliche Nähe die Partei der „Unabhängigen Hellenen“ (Anel) und vor allem die Positionen des Parteichefs Kammenos gegenüber den Neonazis aufweist, insbesondere in der Frage der „Lösung“ des Migrantenproblems und bei der Definition der internationalen „Feinde“ Griechenlands. In vieler Hinsicht hat die Anel das politische Erbe inzwischen abgestorbenen rechtsradikalen Partei „Laos“ angetreten, die sich erst 2000 als rechtsradikale „Rippe“ aus der rechten Hüfte der Nea Dimokratia verselbständigt hat. Wobei auch die Partei, die in derselben Zeit vom heutigen Regierungschef Samaras aus Protest gegen die „verweichlichte“ Außenpolitik der damaligen ND-Führung gegründet wurde, im politischen Spektrum auf dem extremen rechten Flügel angesiedelt war.
Es gibt also starke Affinitäten – man könnte auch von einer verschwiemelten „Grauzone“ sprechen – zwischen dem rechtsradikalen Milieu und dem rechten Flügel der heutigen Nea Dimokratia. So gesehen ist sehr verständlich, warum Samaras und die ND-Führung so lange gezögert haben, das Anti-Rassismus-Gesetz zu verschärfen und zum strafrechtlichen Instrument gegen die Neonazis auszubauen. Und warum noch im März 2013 die ND-Fraktion gegen die Aufhebung der parlamentarischen Immunität des ChA-Abgeordneten stimmte, der in einer Fernsehdiskussion auf zwei Abgeordnete (der KKE und der Syriza) eingeprügelt hatte. Für diese Affinität will gibt es viele Beispiele, auf die ich in einem späteren Beitrag zurückkommen werde. An dieser Stelle will ich mich auf eine exemplarische Begebenheit beschränken.
Am 19. September kam es bei der Debatte im Parlament über den Fissas-Mord zu einem denkwürdigen Dialog. Der ND-Fraktionsvorsitzende Makis Voridis wurde von ChA-Fraktionssprecher Christos Papas daran erinnert, dass er in den 1980er-Jahren in der rechtsradikalen Szene verwurzelt war und enge Kontakte mit dem heutigen ChA-Chef Michaloliakos pflegte. Voridis entgegnete knapp, man solle sich nicht mit den alten Zeiten beschäftigen. Die Chance, ein selbstkritisches Wort über seine persönliche Vergangenheit zu sagen, nutzte er nicht. Dabei könnte es durchaus sein, dass Voridis seine schmähliche propagandistische Tätigkeit in der rechtsradikalen Laos heute kritisch sieht. Aber bezeichnend für die Haltung dieser womöglich „geläuterten“ ND-Politiker ist, dass sie ihren Lernprozess keineswegs als Bruch empfinden. In der offiziellen Selbstdarstellung des ND-Parlamentariers, der von Samaras immerhin zum Fraktionschef gemacht wurde, ist noch heute folgender Satz nachzulesen: „Voridis hat sich seit seiner Schülerzeit mit der Politik beschäftigt, und das stets innerhalb des Rahmens der patriotischen Bewegung.“ Die Mitarbeit in einer Gruppe wie der antisemitischen und rassistischen Laos-Partei ist offenbar bis heute keine „Vergangenheit“, derer sich ein „patriotischer“ ND-Politiker zu schämen hätte.
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