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Titel: Ohne politisch gewollte Korrekturen lässt man den Wolf in den Schafstall – die tieferen Gründe der Nein-Sager
Datum: 6. Mai 2005 um 11:21 Uhr
Rubrik: Europäische Union, Europäische Verträge, Globalisierung
Verantwortlich: Albrecht Müller
Bericht über einen Artikel von Daniel Cohen, Wirtschaftsprofessor an den beiden Pariser Universitäten École Normale Supérieure und Paris-I-Panthéon, in der französischen Tageszeitung Le Monde vom 03.05.2005.
Alte Debatten über die europäische Verfassung wiederholen sich zurzeit. Diejenigen, die die vorgeschlagene Verfassung in ihrer aktuellen Form ablehnen, halten insbesondere deren Teil III für eine zu neoliberale Festlegung Europas für die Zukunft, die nicht so schnell oder überhaupt nicht wieder korrigiert werden kann. Die Befürworter der Verfassung argumentieren dagegen, dieser Teil III wiederhole lediglich Teile des alten EU-Vertrags, die bei Vertragsablehnung sowieso fortbestehen werden.
Daniel Cohn-Bendit fasst dieses Ja-Argument wie folgt zusammen:
„In Wahrheit bedeutet die Ablehnung der vorgeschlagenen Verfassung gleichzeitig die Billigung des Vertrages von Nizza, durch den uneingeschränkter Freihandel garantiert ist“. Obwohl diese Antwort rein technisch nicht zu beanstanden ist, können sich die Nein-Sager damit nicht zufrieden geben. Sind etwa in der Vergangenheit EU-Regelungen beschlossen worden, die sich als schlimmes Ergebnis herausgestellt haben, das selbst die Ja-Sager heute so sehen?
Warum kann heute in Frankreich kein Politiker mehr diesen Teil III offensiv vertreten, der doch ein Erbstück aller bisherigen EU-Verträge von Rom bis Amsterdam ist? Eine Antwort muss an den ursprünglichen Wurzeln der europäischen Einigung ansetzen. In der Epoche der Teilung der Welt in zwei Machtblöcke war der Bezug auf den Markt noch ein allgemein als positiv anerkanntes Element der europäischen Einigung. Guy Debord meinte damals, das neue Europa muss sich negativ so definieren, wie es nicht sein will.
Mit dem Fall der Berliner Mauer änderte sich die Welt grundlegend, die Angst vor einem Sozialismus sowjetischer Spielart war verschwunden. Es begann eine zweite Phase der europäischen Einigung mit der Integration der osteuropäischen Länder in die EU. Doch schon während der Debatte über die EU-Ost-Erweiterung schürte die forcierte Globalisierung gleichzeitig neue Ängste. Unabhängig von diesen Ängsten, verstärkt durch die ersten innereuropäischen Delokalisierungen, muss heute klar festgestellt werden, dass die EU-Ost-Erweiterung der bisher nicht hinterfragten Marktdynamik eine neue Qualität gegeben hat. Die „Direktive Bolkestein“ zeigt anschaulich, wie eine Maßnahme, die im Europa der 15 vielleicht noch ohne größere Begleitschäden hätte „verdaut“ werden können, im Europa der 25 oder 27 zu einem problematischen Sprengsatz werden kann. Mit einer Erweiterung in diesem Umfang bekommt die EU insgesamt ein neues Gesicht und eine ganz neue innere Qualität, die allerdings erst langsam wahrgenommen wird. An Stelle des alten Hauses Europa, das Schutz bot und für das noch mit der Einführung des Euro überzeugend geworben werden konnte, tritt jetzt eine wesentlich vergrößerte europäische Gemeinschaft, die offensichtlich dabei ist, dem Wolf Eintritt in den Schafstall zu gewähren! Man kann natürlich immer noch die alten Argumente dafür vorbringen, dass die Erweiterungsstrategie am Ende doch allen nützen wird.
Aber: dann muss diese Erweiterung von Problem entschärfenden, politischen Maßnahmen und von entsprechendem Verhalten der politischen Akteure der Kommission begleitet werden, die dieser neuen Qualität des Erweiterungsprozesses gerecht werden und ihn für alle akzeptabel machen! Der Fall der Berliner Mauer belebte auch die alten Debatten über Segen und Mängel des Kapitalismus wieder. Der völlig deregulierte Markt als angebliches ökonomisches Allheilmittel aller gesellschaftlichen Probleme wird nicht nur vom Durchschnitts-Franzosen oder der Linken in Frage gestellt. Trotz Lionel Jospins Spruch vom „Ja zur Marktwirtschaft, aber nein zur Marktgesellschaft“, sind heute nur noch wenige Franzosen davon überzeugt, dass mit freien Märkten auch eine freiheitliche Gesellschaft möglich ist, die den Namen „human“ wirklich verdient. In der Nachfolge von Marc Bloch unterscheidet der Soziologe Philippe d’Iribane drei unterschiedliche Konzeptionen „gesellschaftlicher Freiheit“ in Europa:
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