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Titel: Big Money, Big Data, Big Media – Die Politik läuft der Digitalisierung aller Lebensbereiche hoffnungslos hinterher
Datum: 12. September 2013 um 16:01 Uhr
Rubrik: Ökonomie, Überwachung, FDP
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
In einem Gastbeitrag für die FAZ macht sich der Landeschef der NRW-FDP und Vorsitzende der Düsseldorfer Landtagsfraktion seiner Partei, Christian Lindner, Gedanken über eine „Ordnung für den Datenmarkt“. Der Vorsitzende der Piratenfraktion im Landtag von NRW, Joachim Paul[*], setzt sich mit der reichlich oberflächlichen Sprüchen des „Liberalen“ über den angeblichen „Strukturwandel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Digitalisierung aller Lebensbereiche“ auseinander. Schon die Übernahme des merkelschen Begriffs vom „Neuland“ des Internets belege das versteckte Eingeständnis der Politik, dass die politische Sphäre der technisch-ökonomischen Entwicklung hoffnungslos hinterherlaufe.
Zeitlich eingerahmt von Grünen, die uns dieser Tage mit nervigem Ökocalvinismus und vegetarischem Genuss per Dekret das Real-Life freudloser gestalten wollen, und von britischen Geheimdienstmitarbeitern, die in einem schlecht inszenierten post-dadaistischen Pseudo-Kunstevent im Keller der Redaktionsräume des Guardian Journalisten dazu nötigen, irgendwelche Festplatten zu zerstören – und flankiert durch den eigentlichen Skandal, nämlich den des Nicht-Aufschreis der freien Journalisten dieser Welt – macht sich Christian Lindner (FDP) Gedanken über eine „Ordnung für den Datenmarkt“ (FAZ, 14.08.2013, S. 25).
Mit den ihm eigenen flotten Sprüchen bedient er stramm auf der Oberfläche surfend das latente gesellschaftliche Unbehagen über Datensammlung, Datenschnüffelei und Datenmissbrauch staatlicher und kommerzieller Stellen, um seine Partei in das Image einer Pole-Position beim Kampf um Bürgerrechte und Netzpolitik zu hieven. Dabei verharrt er jedoch analytisch in den Positionen eines Liberalismus, der sich kognitiv immun gegenüber den letzten 150 Jahren moderner Gesellschaftsanalyse und -kritik gezeigt hat.
Er nimmt zunächst Bezug auf das Zitat der Bundeskanzlerin vom Internet als „Neuland“ und unterschlägt oder übersieht jedoch die tiefere Implikation dieses Eingeständnisses, nämlich den Nachweis, dass die politische Sphäre der technisch-ökonomischen hoffnungslos hinterher läuft – und das bereits seit Jahrzehnten. Passend dazu bleibt das neoliberale Freiheits- und Wettbewerbs-Credo in der Verdinglichung einer standortgebundenen Borniertheit stecken.
Indem Lindner den Strukturwandel der Gesellschaft an der „Digitalisierung aller Lebensbereiche“ festmacht, legt er eben nicht den Fokus der Betrachtung auf die wesentlichen Änderungen, nämlich den Trend von einer Real-Wirtschaft zu einer virtuellen Ökonomie des sog. Finanzmarktkapitalismus, der durch seine Anlagestrategien und Profitraten-Erwartungen die Aushöhlung des realwirtschaftlichen Bereichs verursacht und befeuert. Wertschöpfung findet nach wie vor in der (realen) Wirtschaft statt, diese hat die Anlagenerwartungen gefälligst zu erfüllen, die Abschöpfung jedoch erfolgt im Bankenbereich.
Dieser Trend beginnt in den USA nicht etwa mit dem wirtschaftlichen Durchbruch des Internet, sondern bereits ein Jahrzehnt zuvor mit der aggressiven Steuersenkungspolitik der „Reaganomics“ 1981. Der erste große sog. Netscape-Aktienpeak folgte erst Jahre später, 1994.
Bevor Lindner in den betriebswirtschaftlichen Bezügen seines Denkens die Ökonomisierung aller Lebensbereiche mit „Digitalisierung“ meint beschreiben zu müssen, sollte er besser der Frage nachgehen, wie bei einer umgekippten Pyramide globaler Liquidität, in der der Derivatemarkt 855% des Weltsozialproduktes ausmacht, auch nur ein Prozent Rendite auf das reale Weltsozialprodukt durchschlägt.
Die „digitale Unordnung“ und ihr Wildwuchs können – mindestens ebenso schlüssig – auch als sekundär und dem „Terror der Ökonomie“, der anarchischen Produktionsweise folgend interpretiert werden. Unter Berücksichtigung historischer Kenntnisse kann die gegenwärtige sog. Finanzmarktkrise auch als dritte große Depression eingeordnet werden. Wenn Regierungen in einer Mischung von Dilettantismus und Komplizenschaft sich von Banken haben erpressen lassen („too big to fail“), ist das nur die eine Seite einer perversen Situation, in der inzwischen „die kleinen Leute“ im Verbund mit der Realwirtschaft für die Casino-Spekulationen von „denen da oben“ zahlen. Auch die amerikanische Immobilienpolitik der Nuller-Jahre, „Eigenheim ohne Eigenkapital“, war auch nur der Versuch, die
vorgelagerte unbefriedigende Verteilungsfrage zu kaschieren.
Lindner hätte lieber aufhören sollen, zu googeln, und stattdessen lieber die richtigen Fragen stellen müssen. Doch dies setzt noch etwas mehr als die Absolvierung eines liberalen ökonomischen Alphabetisierungsprogrammes und als die Beherrschung der Grundrechenarten voraus. Es ist vielmehr Ausdruck eines politischen Totalversagens, den Blick genau dann abzuwenden und ebenso wie sein Parteifreund, Wirtschaftsminister Rösler, ökonomisch-marktautistisch auf die fiktionale technologische Überlegenheit innovativer Start-Ups und den Wettbewerb zu richten. Zugegeben, es ist richtig, dass die kleinen Schnellen den großen Langsamen etwas voraus haben, gar etwas abringen können. Nur sind die Großen im Digital Business, Google, Amazon, Facebook & Co, eben „schnelle Große“ mit zudem wohl gefüllten Kriegskassen. Der vollzogene Kauf von Youtube durch Google ist
hier nur ein Beispiel unter vielen. Darüber hinaus steht es den „schnellen Großen“ praktisch frei, jederzeit und je nach Gusto die nationalstaatlichen Grenzen politischer Regelungen zu überschreiten.
Und es ist auch ein Ausdruck einer demokratischen Blindheit, nicht zu sehen, was eigentlich durch die aktuellen Ereignisse um PRISM und TEMPORA und den Selbstverrat der westlichen Demokratien deutlich wird, nämlich dass wirkliche und lebendige demokratische Gesellschaften das Moment der Sicherheit als Organisationsstruktur und -inhalt in sich selbst tragen müssten. Die Lektüre von Frantz Fanon, der im letzten Jahrhundert vor den gesellschaftlichen Ursachen des Terrors warnte, oder auch etwa von Gandhi, der darauf hinwies, dass diese Gesellschaft reich genug ist, um die Bedürfnisse aller, aber nicht die Gier vieler zu befriedigen, wäre hier sicher hilfreicher gewesen. Wer den Menschen
identitätsstiftende Lebensverhältnisse verwehrt, muss sich nicht über unerwünschte Reaktionen wundern.
Bei Richard Sennett in „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ und „Der flexible Mensch“ finden sich kluge Überlegungen über das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Lindner und mit ihm die gesamte FDP, die im Bund in Regierungsverantwortung steht, weichen der grundlegenden zentralen Frage aus: “Welche menschlichen Folgen hat die politische Ökonomie, in der wir leben?“
Hier nur die oberflächliche Veränderung im Bereich von Informations-, Transport- und
Produktionstechnologien zu sehen, geht am Kern der Sache vorbei: Die tatsächlichen psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zeigen sich vielmehr daran, wie Institutionen organisiert sind und wie die Menschen in ihnen leben. Und wenn Arbeitsplatz, Sozialstaat und Gemeinschaftsleben als Bezugsrahmen einem immer rascheren Wandel unterworfen sind, Ursachen sich kaum noch Wirkungen zuordnen lassen, Absichten und Vorhaben sich in einem Netz von Unwägbarkeiten und Zufälligkeiten verlieren, über die Einzelne und Gruppen immer weniger Kontrolle haben, müssen andere Fragen aufgeworfen werden, nämlich „Wie sozial sind eigentlich soziale Netzwerke, wie demokratisch ist unsere Demokratie?“
Jeder, der den Durchmarsch der Geheimdienste nicht sieht und auch blind ist für neue Gefahren, wie etwa die Schieds- und Geheimgerichte des geplanten Freihandelsabkommens zwischen den USA und Europa („Transatlantic Trade and Investment Partnership“ / TTIP), muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein naiver Lobbyist der Marktgesellschaft zu sein. In einem taz-Interview hat Ulrich Beck jüngst die sich nationalstaatlicher Regelung entziehende globale Bedrohung benannt: „Wir haben eine laufende Revolution der IT-Branche und der Kommunikationsmedien in Kooperation mit dem militärisch-industriellen Komplex, die permanent die Grund- und Freiheitsrechte relativiert, aushöhlt oder aufhebt.“ Politiker, die die zugrundeliegende Macht- und Interessenstruktur dieser Entwicklungen nicht erkennen, die stattdessen stillschweigend zusehen, wie die EU verwanzt und ihre Bürger ausgeforscht werden, können die überhaupt noch aufwachen?
Wir haben uns, seit die Statistik in unseren Alltag quasi flächendeckend eingeführt worden ist, daran gewöhnt, unser kausales Denken durch die Interpretation von Korrelationen zu ersetzen. Die Ursachen für die statistisch ermittelten Zusammenhänge sind dabei von sekundärem Interesse. Dieser Korrelations-„Logik“ haben sich auch Geheimdienste mit ihrer Rasterfahndung und Datensammelwut verschrieben. Peter Moeschl hat in einem Beitrag „Die schöne, neue Verschwörungswelt der NSA“ auf die Folgen einer von Kausalitätsvorstellungen „entlasteten“, statistischen Weltsicht aufmerksam gemacht, nämlich
„die computergestützte Projektion eines Weltbildes, in der es nur gute Konformisten und böse (konspirative) Nonkonformisten gibt … ein neues, ein institutionalisiertes Verschwörungsdenken der höheren Art, das vorauseilend die Welt beurteilt und bewertet.“
In der aktuellen Auseinandersetzung um informationelle Selbstbestimmung und eine demokratische und eben nicht marktgesteuerte Datenpolitik erweist sich der Parteiliberalismus der Bundesrepublik gerade nicht als Lobby für Aufklärung und Mündigkeit. Der von Herrn Lindner als Lösung angebotene Neoliberalismus kann daher nicht die Antwort auf Big Money und Big Data sein, er ist vielmehr Teil des Problems, eines Problems, das nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden kann und wird.
[«*] Dr. Joachim Paul ist Fraktionsvorsitzender der Piratenfraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen.
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