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Titel: Neue Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung – taz verabschiedet sich wieder mal von jeder aufklärerischen Absicht.

Datum: 8. November 2006 um 9:34 Uhr
Rubrik: Demografische Entwicklung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Sie berichtet von einer Pressekonferenz des Vizepräsidenten des Statistischen Bundesamtes zu den neuen Modellrechnungen seines Amtes zur Bevölkerungsentwicklung. Ich will an Hand des Berichtes der taz einige Hinweise geben. Wir werden später noch ausführlicher auf diese neuen Modellrechnungen eingehen. Albrecht Müller.

  1. „Rente mit 75 Jahren“ überschreibt die taz den Artikel ihres Korrespondenten MARTIN LANGEDER. Und weiter heißt es: „Die Deutschen müssen sich auf einen noch späteren Renteneintritt gefasst machen. Das ergeben Zahlen, die gestern das Statistische Bundesamt vorlegte. Denn nur mit einem höheren Eintrittsalter lässt sich der aktuelle Altenquotient halten, der das Verhältnis von Rentnern zu den 20- bis 65-Jährigen beschreibt.“

    Diese Feststellungen sind in mehrerer Hinsicht falsch und gewagt:

    • Was das Statistische Bundesamt vorgelegt hat, ist eine Modellrechnung, keine Prognose. Das war übrigens auf der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes am Ende vermerkt. Was heißt Modellrechnung im Vergleich zur Prognose: es gehen in diese Modellrechnung verschiedene Annahmen ein. Zum Beispiel eine Annahme über die Zuwanderung. Die Annahmen über die Zuwanderung sind heute offenbar geringer als noch vor drei Jahren. Vor drei Jahren nämlich lag die mittlere Modellrechnung für die Bevölkerungsentwicklung insgesamt bei 75 Millionen in Deutschland lebender Menschen. Jetzt, nach nur drei ! Jahren, reicht die Spanne von 69 bis 74 Millionen, also nur bis zum mittleren Wert der letzten Modellrechnung.
      Die Zuwanderung ist geringer. Nach nur drei Jahren hat man die Annahmen so massiv verändert. Wenn die Konjunktur anspränge und Zuwanderer gebraucht würden, wie man vor drei Jahren noch annahm, dann würden die Modellrechnungen wieder ganz andere Ergebnisse bringen. Vielleicht werden sie in drei Jahren wieder korrigiert. Kaffeesatzleserei.
    • Die reale Belastung der Arbeitsfähigen wird anders, als in dem Beitrag der taz (und des statistischen Bundesamtes) unterstellt wird, nicht nur vom Altenquotienten, also von der Relation von arbeitsfähigen zu alten Menschen, bestimmt. Die Belastung wird zum ersten auch von der so genannten Jugendlast bestimmt. Wenn in 20, 30 oder 40 Jahren weniger für Kinder und Jugendliche und für ihre Ausbildung gesorgt werden muss, dann stellt das eine Entlastung der arbeitsfähigen Generation dar – wie man diese Entwicklung auch sonst bewerten möge. Entscheidend ist zum zweiten aber die Entwicklung der Erwerbsquote und noch mehr die Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Wenn diese wie bisher in der Regel steigt, dann können selbstverständlich weniger Erwerbstätige für mehr alte (und junge) Menschen sorgen. Dass es ein Ziel sein könne – wie schon im ersten Absatz der taz als selbstverständlich unterstellt wird -, den „aktuellen Altenquotienten“ auch noch in 20, 40 oder 50 Jahren zu halten, ist absurd. Das ist eigentlich der Kernfehler der gesamten Interpretationen. Die politische Absicht ist leicht zu erkennen: die Erhöhung des Renteneintrittsalters soll scheinbar mit Zahlen unterfüttert werden.
      Es wäre eine interessante Rechercheaufgabe für Journalisten, heraus zu finden, wie es zu der gravierenden Veränderung der Annahmen über die Zuwanderung kam und welche Personen hinter dem so überaus politisch formulierten Text der Pressemitteilung und den Feststellungen auf der Pressekonferenz stecken.
    • Wer die Unmöglichkeit der Interpretation des Statistischen Bundesamtes und der taz begreifen will, der sollte sich in Erinnerung rufen, was wir sonst täglich an Botschaften auf den Tisch bekommen: dass nämlich die Arbeitsproduktivität so voranschreite, das demnächst die Arbeit ausginge. Das kann ich doch jeden zweiten Tag in den einschlägigen Blättern lesen. Wenn das aber so sein sollte, wenn immer weniger Menschen alles zu produzieren vermögen, dann braucht man auch keine Angst davor zu haben, dass die arbeitsfähige Generation überlastet werde. – Beide Vorstellungen sind typische Übertreibungen unseres Zeitalters. Packen wir beide Sichten zusammen, dann wird klar, dass es keinen Grund zu Aufgeregtheit gibt.
  2. Die taz schreibt: „Das wesentliche Ergebnis: Im Jahr 2050 wird man in Deutschland vor allem alte Menschen finden.“ Sie beruft sich dabei auf den Vizepräsidenten des Statistischen Bundesamts, der auf der Pressekonferenz offenbar gesagt hat: „2050 wird jeder Dritte 65 Jahre oder älter sein, heute ist es jeder Fünfte.“ Wenn wir ein ordentlicher Staat wären, dann müsste diesem Beamten die Pension gestrichen werden. Er lässt sich politisch instrumentalisieren. Er münzt nämlich – vermutlich absichtlich zum Zwecke der politischen Dramatisierung und zur propagandistischen Unterstützung der Erhöhung des Renteneintrittsalters – eine Modellrechnung (siehe oben) in eine handfeste Prognose um. Das ist absolut leichtfertig. Der Vizepräsident müsste nämlich wissen, dass sein Amt innerhalb von drei Jahren sämtliche Modellrechnungen korrigiert hat. Woher weiß er, dass das Statistische Bundesamt in drei oder in sechs oder in 12 oder in 42 Jahren (das wäre im drei Jahresrhythmus die letzte Modellrechnung vor dem Jahr 2050) seine Modellrechnungen nicht immer wieder korrigiert. Die Wahrscheinlichkeit ist überaus groß. Im vereinten Europa werden auf eine lange Sicht von 44 Jahren (bis 2050) junge Menschen enorm mobil werden. Das kann dazu führen, dass mehr abwandern. Es kann bei guten ökonomischen Bedingungen dazu führen, dass Menschen vermehrt zuwandern.

    Im übrigen finden Wanderungen offenbar aus den verschiedensten Motiven statt. Am 7.11. 2006 brachte SpiegelOnline einen Beitrag über Auswanderung von Großbritannien nach Deutschland. Da spielt zum Beispiel die höhere Sicherheit vor Kriminalität und Belästigung als Motiv eine große Rolle.

    Wenn unsere verantwortlichen Personen und Eliten etwas klüger wären, und wenn sie nicht die permanente Neigung hätten, unser Land in den schlechtesten Farben darzustellen, dann würden sie mit diesen Standortvorteilen werben.
    Da wir Spiegel und SpiegelOnline ansonsten häufig kritisieren, ist es mir ein wahres Vergnügen, den Link auf den genannten, wirklich guten Beitrag hier einzufügen, auch als Kontrast zur sonderbaren Performance der taz.

    Hier der Einstieg in den SpiegelOnline-Beitrag:

    BRITISCHE AUSWANDERER

    Lust auf lovely Deutschland

    Von Anna Regeniter, London

    Noch nie seit den fünfziger Jahren wollten so viele Deutsche auswandern wie derzeit. Kein Grund zur Panik: Aus Großbritannien ziehen pro Jahr weitaus mehr Menschen weg – und für viele heißt das Wunschziel Deutschland.
    Quelle: SPIEGEL ONLINE


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