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Titel: Stellen die NachDenkSeiten die Arbeitsmarktlage zu schlecht dar? Und hat der Gastkommentar im zentralen Organ der IG-Metall nichts mit der IG-Metall zu tun?

Datum: 9. August 2013 um 13:26 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Wahlen
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Am 3. August hatte ich einen Gastkommentar in der metall-zeitung kritisiert. Die Überschrift lautete: IGMetall greift in den Wahlkampf ein – mit einem Lob für die Agenda 2010 und „die gute wirtschaftliche Verfassung des Landes“. Ich komme darauf zurück, um zum einen anzumerken, dass wir NachDenkSeiten-Macher die wertvolle Arbeit vieler IG Metaller mit Bewunderung sehen – ich selbst bin auf vielen Veranstaltungen der IG-Metall gewesen. Zum anderen lohnt es sich, auf Reaktionen auf den Artikel vom 3. August einzugehen. Herausragend ist die Reaktion des Leiters des IMK Gustav Horn. Bei Facebook heißt es von ihm, er habe große Probleme mit der Strategie der Nachdenkseiten die „Arbeitsmarktlage möglichst schlecht darzustellen und jeden Fortschritt auf dem Arbeitsmarkt zu leugnen“. Außerdem meint er, nicht die IG Metall habe sich wie von mir unterstellt geäußert sondern ein Gastkommentator. Ähnlich argumentieren die Betroffenen selbst. Von Albrecht Müller

I. Horn gegen Horn

Wir NachDenkSeiten-Macher betrachten die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in der Tat nicht so euphorisch und wohlwollend, wie das die Bundesregierung, Teile von Rot und Grün und die neoliberal geprägte Wissenschaft tun. Wir bemühen uns nicht, die Arbeitsmarktlage „möglichst schlecht darzustellen“. Wir versuchen realistisch zu sein. Im Artikel vom 3. August hatte ich geschrieben, der Verfasser des Gastkommentars Frese beschönige die wirtschaftliche Lage, wenn er meint, „den meisten von uns gehe es gut“ und das Land sei „in einer guten wirtschaftlichen Verfassung“. Wörtlich hieß es: Frese „übersieht die vielen Arbeitslosen, er übersieht die vielen prekären Arbeitsverhältnisse, er übersieht auch den zunehmenden Stress, dem gerade viele Metaller in den Betrieben ausgesetzt sind“.

Ist das zu schlecht dargestellt, frage ich die Nachdenkseitenleser.

Ich frage auch Gustav Horn und zitiere zunächst seine einschlägigen Äußerungen auf Facebook und dann Gustav Horn vom März dieses Jahres (Die komplette Äußerung des Leiters des IMK finden Sie in Anlage 1):

Inhaltlich habe ich große Probleme mit der Strategie der Nachdenkseiten die Arbeitsmarktlage möglichst schlecht darzustellen und jeden Fortschritt auf dem Arbeitsmarkt zu leugnen.

Gleichzeitig ist aber festzuhalten, dass sich die Beschäftungslage im Vergleich zu vor 10 Jahren deutlich und spürbar verbessert hat. Wer dies leugnet, geht an der Lebenswirklichkeit vorbei und verliert jeden Draht zur Bevölkerung …

Bestreitet man also die gute Arbeitsmarktlage begibt man sich letztlich jeder wirtschaftspolitischen Glaubwürdigkeit und nützt den Befürwortern der Agenda Politik, die ein leichtes Spiel haben, solche Argumentationen zu widerlegen und dann alle Erfolge der Agenda zuzuschreiben.

Dass auch Gustav Horn Gründe sieht, nicht von einer „guten Arbeitsmarktlage“ zu sprechen, konnten Sie auf den NachDenkSeiten am 8. März 2013 nachlesen. Ich zitiere:

„Erwerbstätigenzahl gestiegen, doch Arbeitsvolumen stagniert –

41,6 Millionen Menschen waren im Jahresdurchschnitt 2012 als Arbeitnehmer oder Selbständige erwerbstätig. Das waren knapp 2,7 Millionen mehr als 2003. Doch der Wachstumstrend begann keineswegs in den Agenda-Jahren, sondern schon viel früher, zeigen die Forscher. Schaut man auf die gesamte Phase seit der deutschen Vereinigung, so war der Tiefststand bereits im Jahr 1994 mit rund 37,5 Millionen Erwerbstätigen erreicht. Seitdem stieg die Zahl – mit konjunkturellen Schwankungen – an. Gleichzeitig veränderte sich aber die Struktur der Erwerbstätigkeit: Die Vollzeitbeschäftigung ging spürbar zurück, Teilzeitstellen und selbständige Tätigkeiten nahmen zu.

Folge dieses Wandels: Das Arbeitsvolumen, also die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden, lag 2012 kaum höher als 1994. “Gesamtwirtschaftlich fand also eine Umverteilung der Arbeit auf eine deutlich größere Anzahl von Erwerbstätigen durch Arbeitszeitverkürzung statt”, so Horn und Herzog-Stein. Unter dem Strich erweise sich der Einfluss der Strukturreformen auf die Erwerbstätigenentwicklung damit als klein, fassen die Ökonomen zusammen. Zudem relativiere die Stagnation beim Arbeitsvolumen die eindrucksvolle Entwicklung der Erwerbstätigenzahlen ganz erheblich. “Qualitativ ist das Bild äußerst durchwachsen”, schreiben die Forscher. “Atypische Beschäftigung wie auch die Niedriglohnbeschäftigung haben stark zugenommen und sich auf einem vorher nicht gekannten Niveau eingependelt.”

Wenn man diesen Text von Horn ernst nimmt, dann kann man nicht behaupten, dass es zwischen der Sicht des Leiters des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung Horn und der Sicht der NachDenkSeiten so gravierende Unterschiede gäbe, die eine so feindselige Attacke wie jene von Gustav Horn rechtfertigt. Vor allem sind wir uns in einem einig, dass etwaige Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt am allerwenigsten mit der Agenda 2010 zu tun haben. Genau dies war auch der Kern meiner Kritik an dem Artikel in der August-Ausgabe von metall. Dort wurde nämlich die Verbindung zwischen guter wirtschaftlicher Lage und Agenda 2010 hergestellt.

Statt mit seinem Facebook Eintrag den Gastkommentar zu rechtfertigen, hätte man vom Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung eigentlich eher erwarten können, dass er kritische Anmerkungen zu dem Kommentar im Organ der IG-Metall macht, weil dieser Kommentator die Rolle des Exports von Arbeitslosigkeit für die wirtschaftliche Lage unseres Landes de facto rechtfertigt. Horn hätte sich wirklich besser mit der problematischen Unterstützung dieser Art von Wirtschaftspolitik durch jene Gewerkschaften, die in besonderer Weise mit der Exportwirtschaft verbunden sind, auseinandersetzen sollen als mit der angeblichen Strategie der NachDenkSeiten. (Siehe auch Andreas Heil in Anlage 1, zweiter Teil)

Die Angriffe von Gustav Horn auf die NachDenkSeiten sind auch deshalb unverständlich, weil wir in fast schon übertriebener Weise ständig auf Forschungsergebnisse und Beiträge des IMK hinweisen und so einiges dazu beitragen, dass die Arbeit dieses Instituts öffentlich wahrgenommen wird. Wir werden das weiter tun – unabhängig von unqualifizierten Angriffen des Direktors des Instituts.

II. Hat ein Gastkommentar in der Mitgliederzeitung einer großen Organisation nichts mit der Organisation zu tun?

Man lernt immer wieder etwas dazu. Bisher hatte ich geglaubt, wenn zum Beispiel der ADAC in seinem zentralen Organ „Motorwelt“ einen Gastkommentator aufnimmt und nicht ausdrücklich erklärt, dies sei eine Meinung, die man sich nicht zu eigen mache, dann sehen die Mitglieder des ADAC diese Meinung selbstverständlich als in der Nähe zum eigenen Verband befindlich. Genauso würde ich es sehen, wenn die Parteien in ihren Organen Gastkommentare aufnehmen.

Aber weit gefehlt. Von Gustav Horn und von Beauftragten der IG-Metall werden wir eines anderen belehrt. Margarethe Gorges, die den NachDenkSeiten oft Hinweise schickt, hatte bei Facebook auf meinen Beitrag aufmerksam gemacht und folgende Antwort bekommen (komplett in Anlage 2):

Liebe Margareth, es handelt sich um einen Gastbeitrag – nicht um eine Positionierung der Redaktion oder der IG Metall insgesamt.

Jetzt lerne ich: Die Leserinnen und Leser von metall mit seiner Auflage von 2,3 Millionen wissen sehr wohl zwischen der Meinung ihrer Organisation und der Meinung des Kommentators zu unterscheiden. Und wer, wie ich, dies nicht zu unterscheiden vermag, der wird von Gustav Horn mit aller Macht abgekanzelt:

„Die Überschrift des … Beitrags (von Albrecht Müller in den NachDenkSeiten) hat vom Wahrheitsgehalt her Bild Qualität. Die IG Metall hat sich selbstverständlich nicht so geäussert, wie dort behauptet, sondern ein Gastkommentator.“

Das gilt auch, so lerne ich, wenn ein Kommentar wenige Wochen vor der Wahl erscheint. Auch dann hat der Gastkommentar, selbst wenn er sich ausdrücklich zur Wahl und zu wichtigen Themen wie der Agenda 2010 äußert, nichts mit dem Herausgeber des Blattes zu tun.

Großen Dank für die Vermittlung dieser neuen Erkenntnis!

Gerne würde ich mit einer anderen Erkenntnis aushelfen: man sollte sich die Gastkommentatoren vielleicht so aussuchen, dass sie sich nicht gegen grundlegende Positionen der eigenen Organisation positionieren – jedenfalls nicht sechs Wochen vor einer Bundestagswahl.

Anlage 1:

Gustav Horn auf Facebook:

Manchmal könnte man sich die Haare raufen. Die Überschrift des folgenden Beitrags hat vom Wahrheitsgehalt her Bild Qualität. Die IG Metall hat sich selbstverständlich nicht so geäussert, wie dort behauptet, sondern ein Gastkommentator. Inhaltlich habe ich große Probleme mit der Strategie der Nachdenkseiten die Arbeitsmarktlage möglichst schlecht darzustellen und jeden Fortschritt auf dem Arbeitsmarkt zu leugnen. Das heißt nicht, dass man mit dem Bestehenden zufrieden ist, noch vieles muss aus den von Albrecht Müller zu Recht genannten Gründen getan werden. Gleichzeitig ist aber festzuhalten, dass sich die Beschäftungslage im Vergleich zu vor 10 Jahren deutlich und spürbar verbessert hat. Wer dies leugnet, geht an der Lebenswirklichkeit vorbei und verliert jeden Draht zur Bevölkerung. Zudem leugnet man damit , dass die Stabilisierungsmaßnahmen während der Finanzmarktkrise (Konjunkturprogramme ,Kurzarbeit ,Arbeitszeitkonten) ausserordentlich erfolgreich waren. Das sind genau jene Maßnahmen, die man dann an anderer Stelle zu Recht immer wieder einfordert. Es zeigt sich in unseren Untersuchungen und auch in denen anderer,dass diese Maßnahmen wesentlich bedeutsamer für die gute Beschäftigung sind als die Agenda 2010, gegen die die Nachdenkseiten wiederum zu Recht argumentieren. Bestreitet man also die gute Arbeitsmarktlage begibt man sich letztlich jeder wirtschaftspolitischen Glaubwürdigkeit und nützt den Befürwortern der Agenda Politik, die ein leichtes Spiel haben, solche Argumentationen zu widerlegen und dann alle Erfolge der Agenda zuzuschreiben. Oder um es im Nachdenkenseitenstil zuzuspitzen: NACHDENKSEITEN FÖRDERN AGENDA POLITIK.

Auf Facebook kommentiert Andreas Heil den Eintrag von Horn:

Das ist aber ein politisch sehr schmaler Grat.

Dazu dann auch eine deutliche Gegenrede: Die Agenda-Politik hat die nominal _etwas_ bessere Arbeitsmarktlage mit einem sehr hohen Preis erkauft, nämlich mit einem erheblichen _ursächlichen_ Anteil an der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie hat zudem (“beggar thy neighbour”) deutlich mehr Arbeitslosigkeit exportiert, als im Inland beseitigt, war mit Blick auf Europa also ein Eigentor.

Und im Übrigen wird der überschaubare “Erfolg” in sich zusammenfallen, sobald die Antikrisenmaßnahmen im Rest Europas auch nur anfangen zu wirken, da sollte man sich wohl nichts vormachen.

Aber auch wenn man die Strukturveränderungen auf dem Arbeitsmarkt alleine ansieht, war das ein extrem teurer Phyrrussieg. Vor allem wurde reguläre Beschäftigung unter den ohnehin schlechter gestellten Arbeitnehmern in irreguläre noch schlechter bezahlte Beschäftigung umverteilt, mit dem Ergebnis, dass Millionen jetzt für real sogar weniger Geld mehr arbeiten. Summiert man die dafür notwendige “Lohnzurückhaltung” (= Unterbieten der Zielinflationsrate der EZB) auf, indem man die Verteilung des Jahres 2000 als Maßstab nimmt, kommt man gesamtwirtschaftlich auf über eine Billion Euro, die Deutschlands Arbeitnehmer (inkl. des ausgefallenen Steueranteils) letztlich in ein wenig mehr “Beschäftigung” investiert haben, um ihre europäischen Kollegen wegzukonkurrieren.

Alles das und noch einiges mehr landet alles unter dem Teppich des Selbstbetrugs, wenn man sich in Chor einreiht, dass es Deutschland ja ganz gut (und ja höchstens relativ zu den Nachbarn) gehe und tut vor allem was dafür, dass die Verzrsacher dieser grundfalschen Politik erstens damit davon kommen und sich zweitens nichts entscheidendes ändert.

Anlage 2:

Information von Margarethe Gorges zum einschlägigen Austausch bei Facebook:

Guten Tag, Albrecht Müller,
 
ich habe Ihren Beitrag ‚IGMetall greift in den Wahlkampf ein – mit einem Lob für die Agenda 2010 und „die gute wirtschaftliche Verfassung des Landes“’ per Nachricht an die IGMetall auf fb geschickt. –
Eben kam dazu folgende Antwort…… die ich gelinde gesagt lächerlich finde.
Herzliche Grüße Margareth

+++

Liebe Margareth, es handelt sich um einen Gastbeitrag – nicht um eine Positionierung der Redaktion oder der IG Metall insgesamt.

Wer die Positionen der IG Metall zum Thema Mindestlohn, Steuergerechtigkeit, Gute Arbeit und Prekäre Beschäftigung nachlesen möchte, dem sei www.igmetall.de oder eine unserer Kampagnen-Seiten ans Herz gelegt.

Wer über den Gastbeitrag von Tagesspiegelredakteur Frese in der aktuellen metallzeitung diskutieren möchte, der wendet sich am besten direkt an den Autor unter: [email protected]

“Schluss mit Siesta, geht Wählen”, diesem Aufruf aus dem Gastbeitrag von Alfons Frese, schließt sich auch die Chefredakteurin der metallzeitung, Susanne Rohmund, an. Die IG Metall ist und bleibt eine Einheitsgewerkschaft. Deshalb empfiehlt sie auch bei der kommenden Bundestagswahl keine Partei. (Donnerwetter, ich kann nicht richtig lesen, AM)

Die IG Metall wünscht sich jedoch, dass möglichst viele Menschen zur Wahl gehen und von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Sie versucht derzeit von Süden bis Norden, von Osten bis Westen Nichtwähler zum Wählen zu mobilisieren. Dieses Ziel unterstützen zum Glück viele Menschen. Auch der Tagesspiegel-Redakteur Frese.


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